4. Kapitel

Als der fremde Mann die muskulösen Arme vor der Brust verschränkte, erkannte Joy, dass diese von dunklen Kratzern übersät waren. Die Wunden bluteten nicht mehr, sahen jedoch noch nicht allzu alt aus. Auch Taminas Blick huschte flüchtig zu den feinen Striemen, senkte sich aber sofort wieder. "Vater, lasst mich bitte erklären..." Das Poltern von schnellen Schritten unterbrach sie, als der Mann sich ruckartig umdrehte und durch den Gang davonstiefelte.

Tamina biss sich ängstlich auf die Unterlippe. "Verflucht!" Ihr Blick schnellte zu Joy. "Komm schon, wir müssen uns beeilen." Sie lief eilig in den Gang hinein.

Joy bemühte sich, mit ihr Schritt zu halten.

"Wer war das?", wollte sie wissen.

"Joas, der Throngefährte, Mitglied des königlichen Rates. Mein Vater", antwortete Tamina knapp und führte sie zurück in den Gang, in dem ihr Zimmer lag.

"Tamina!" Beide Mädchen wirbelten herum, als die Stimme durch den Gang hallte. Marina kam mit hüpfenden Locken herangeeilt und bemühte sich dabei, nicht auf ihren hohen Stöckelschuhen umzuknicken. "Joas hat euch gesehen?", keuchte die kleine Frau als sie sie erreicht hatte und stieß die Tür zu Joys Zimmer auf.

"Ja", antwortete Tamina und senkte zerknirscht den Blick. "Es tut mir leid. Er kam uns entgegen, als wir gerade wieder in den Palast zurückkehren wollten."

Marina seufzte leise. "Das ist ... ungeschickt. Aber mach dir keine Vorwürfe, du kannst nichts dafür."

Sie schob die Mädchen sanft in den Raum und schloss die Tür hinter ihnen.

"Joas ist mir entgegengekommen", erklärte sie. "Er sah ziemlich aufgebracht aus. Sicher ist er auf dem Weg zu Riona."

Tamina presste besorgt die Lippen aufeinander. "Wird das Ärger geben?"

Marina lachte leise und verzog den Mund zu einem schmalen Strich. "Sicher."

Joy hatte den Schlagabtausch wortlos verfolgt, nun verschränkte sie die Arme vor der Brust. "Sicher ist es wieder zu viel verlangt, wenn ich erfahren will, was hier los ist?"

Marina lächelte entschuldigend und schüttelte den gelockten Kopf. "Es tut mir leid, du bist sicher sehr verwirrt. Bitte glaub mir - sobald es möglich ist, werde ich mir Zeit nehmen um all deine Fragen zu beantworten."

Joy schüttelte den Kopf. "Sobald es möglich ist? Wann wird das sein?"

"Bald", versprach Marina sanft.

Joy seufzte. Sie war sich nicht sicher, ob sie der fremden Frau glauben konnte. Doch hatte sie eine Wahl?

Sie bemerkte, dass Tamina sie anstarrte und blickte zurück. Das Mädchen lächelte verlegen und wandte den Blick ab. Stille trat ein. Joy studierte das immer noch geöffnete Fenster, hinter dem sich der weite, verlockende Wald erstreckte. Sehnsüchtig schweifte ihr Blick über die grünen Tannenspitzen. Wieder verspürte sie das dringende Bedürfnis, die einengenden Räume des Palastes so schnell wie möglich zu verlassen und an die frische Luft zu flüchten.

Gedämpfte Stimmen näherten sich auf dem Gang. Joy blickte auf und wartete darauf, dass sich die Tür öffnete. Sekunden vergingen. Dann schwang sie auf und der grimmige Joas erschien im Türrahmen, begleitet von einer bildhübschen Frau.

"Joas, du wartest draußen", befahl die Fremde in entschiedenem Ton und drückte ihn mit einer Hand zurück in den Flur.

"Was?", schnaubte der Angesprochene wütend. "Das kann unmöglich dein Ernst..." Die Tür schloss sich mit einem Klicken. Joy musterte die Frau. Sie hatte lange, braune Haare, die ihr in glänzenden Locken bis zur Hüfte fielen. Außerdem glatte, helle Haut, eine hohe Stirn, runde Wangenknochen, volle Lippen und große, meerblaue Augen. Meerblaue Augen. Joy schluckte. Das konnte nicht sein. Die Frau hatte genau wie Marina exakt dieselbe Augenfarbe wie sie.

"Königin Riona." Marina neigte den Kopf.

Die Königin strich ihr langes, königsblaues Kleid glatt und lächelte erschöpft. "Guten Morgen, Marina."

Ihr Blick schweifte zu den Mädchen. "Tamina. Joy." Er blieb bei Joy hängen und fixierte ihre blauen Augen. "Es ist also wahr", sagte sie. "Und du bist sicher, dass es auch wirklich dasselbe Meerblau ist, Marina?"

"Ziemlich", antwortete die Angesprochene leise. Joys Blick huschte unruhig zwischen den beiden Frauen hin und her. In ihr brannten tausende Fragen, doch sie ahnte, dass es nicht angemessen wäre, vor der Königin damit herauszuplatzen.

Riona wandte sich wieder an Marina. "Der königliche Rat ist in Aufruhr", seufzte sie. "Er verlangt nach Antworten. Joas hat ihnen von dem Mädchen – und ihren Augen – erzählt."

Was ist mit meinen Augen?, dachte Joy verzweifelt und biss sich fest auf die Unterlippe, um zu verhindern, dass die Frage aus ihrem Mund hervorsprudelte.

"Ihr bittet um meinem Rat?", vermutete Marina. Die Königin nickte. Marina wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. "Es bringt nichts, den königlichen Rat zu belügen. Er ist dafür da, euch zu unterstützen, oder nicht?"

"Also meint ihr, ich sollte ihm von Joy erzählen?", fragte Riona leise.

"Ja", antwortete Marina. "Der Rat ist nicht dumm. Eine Lüge würde er so oder so schnell erkennen."

"Ihr habt Recht." Riona nickte dankbar. "Ich sollte ihm vertrauen." Ihr Blick huschte zu Joy. "Ich denke, ich werde ihm das Mädchen persönlich vorstellen." Joy schluckte. Es wurde immer schwerer, die unzähligen Fragen in ihr zu verdrängen.

Die Königin öffnete die Tür wieder und redete leise mit Joas, der noch dahinter zu stehen schien. Joy verstand nur einige Wortfetzen, wie "königlicher Rat, daher..." und "bitte zusammenrufen, wir...".

Schließlich schloss Riona die Tür wieder und drehte sich zu den Wartenden um. "Joas wird den Rat zusammenrufen. Wir treffen uns im Ratsaal." Sie wandte den Kopf um und betrachtete Joy eindringlich. "Joy. Wie geht es dir eigentlich?"

Joy war so überrascht von der Frage, dass sie einen Moment brauchte, um sich zu sammeln. "Ich ... ganz okay."

"Man hat mir berichtet, du hättest dein Gedächtnis verloren?", hakte die elegante Frau nach und sah dabei so aus, als würde sie auf eine Verneinung hoffen.

"Das stimmt", gestand Joy. "Ich kann mich an nichts mehr erinnern."

"Aber an deinen Namen?" Joy nickte. "Und du bist dir was ihn betrifft ganz sicher?", hakte die Königin nach.

Joy runzelte die Stirn, verwundert von der Dringlichkeit, die in dem Ton mitschwang. "Ja. Ich bin mir sicher."

Riona schüttelte nachdenklich den Kopf. "Das ist wirklich sehr seltsam."

Joy konnte nicht mehr an sich halten.

"Warum?", platzte es aus ihr heraus. Die Verzweiflung war deutlich aus ihrer Stimme herauszuhören.

Riona lächelte schwach. "Joy, du befindest dich auf der Insel Yalma. Yalma ist ein magischer Ort, der seit Anbeginn der Zeit von Magiern geführt wird. Die Magier unterscheiden sich kaum von den anderen Menschen Yalmas. Doch sie herrschen über die Elemente Feuer und Wasser." Riona faltete ihre Hände zusammen. "Es gibt also Feuermagier und Wassermagier", fuhr sie fort. "Die Feuermagier lassen sich an ihrer feurigen, rötlich-braunen Augenfarbe ausmachen. Du hast Tamina schon kennengelernt, und auch Joas. Die beiden sind Feuermagier."

Joys Blick huschte zu dem rothaarigen Mädchen. Sie betrachtete deren Augen. Als sie so darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass Joas tatsächlich dieselbe ungewöhnliche Augenfarbe besessen hatte.

"Die Wassermagier...", fuhr Riona weiter fort und Joy spürte ein unheilvolles Kribbeln in sich aufsteigen. "Die Wassermagier besitzen meerblaue Augen." Sie sah Joy eindringlich an und die feinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf, als die Königin leise schloss: "Ich bin eine Wassermagierin. Marina auch. Und du..." Sie seufzte. "Nun, eigentlich ist es unmöglich, dass du eine Wassermagierin bist. Doch deine Augen..." Sie schüttelte den Kopf. "Deine Augen sagen etwas anderes."

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