30. Kapitel
Joy schlug die Augen auf. Ihre Lider waren schwer und ihre Glieder fühlten sich steif an. Umhüllt von grellem Sonnenlicht, erkannte sie zwei Gestalten, die sich gegenüber saßen, leicht von ihr abgewendet. Tamina und Kiran. Ihre Knie berührten sich und sie sahen sich unentwegt in die Augen. Kiran hob zögernd eine Hand und strich Tamina eine rote Strähne hinters Ohr. Sie lächelte und senkte den Blick. Ihre langen, schwarzen Wimpern hoben sich von der blassen Haut ab. Kirans Hand verweilte eine Weile an Taminas Wange, dann zog er sie zurück.
Joy schloss die Augen wieder. Vor ihrem inneren Auge spielten sich plötzlich Bilder ab. Szenen in einer finsteren, schmalen Gasse. Mit einem Mann, von dem sie nie geahnt hatte, was sich hinter seiner freundlichen, höflichen, Maske verbarg. Bei der Erinnerung an die Erlebnisse vor wenigen Stunden – oder waren es Tage? Wochen? – verzog Joy unwillkürlich das Gesicht.
"Ist sie wach?", flüsterte Tamina. Kiran gab ein unbestimmtes Murmeln von sich. Schritte näherten sich ihrem Bett. Joy öffnete erneut die Augen. Über sie gebeugt stand Tamina. Ihre Halbschwester lächelte. "Hey."
Joy setzte sich auf und griff sich reflexartig an den Kopf, da der als Reaktion schmerzhaft pochte.
"Hier." Tamina reichte ihr ein Glas Wasser.
"Danke." Joy nahm es und trank es gierig in einem Zug aus. Ihr Blick wanderte zu Kiran, der immer noch auf einem der Stühle neben ihrem Fenster saß. "Was machst du hier?"
"Mein Vater ist im Palast, um Joas und die anderen Verletzten zu versorgen", antwortete Kiran. "Ich bin hier, um ihn zu besuchen."
"Wie lange habe ich geschlafen?", fragte Joy.
Tamina zögerte. "Vierzehn Stunden vielleicht."
"Vierzehn?", wiederholte Joy. "Wie lange bist du wach?"
"Schon länger", antwortete Tamina schlicht.
"Was ... was ist während diesen vierzehn Stunden geschehen?"
"Vor ein paar Stunden hat Kirans Vater Joas hier hoch gebracht. Da Kadira tot ist, kümmert er sich um die Verletzten. Seit etwa einer Stunde hält der Rat eine Versammlung ab. Wir sollen dazukommen, wenn du aufgewacht bist."
"Oh. Okay." Joy kurz an sich hinab. Sie trug das Nachthemd, das sie sich am Abend schnell übergestreift hatte. Dann huschte ihr Blick zu Kiran.
Der stand auf und trat zögernd zur Tür. "Ich denke, ich schaue mal nach meinem Vater."
Tamina nickte, und er verließ den Raum. "Findest du es nicht auch total nett, wie Lerian, Ava und Kiran uns helfen?", fragte sie, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Ihre Augen leuchteten. "Lerian, so heißt Kirans Vater", fügte sie hinzu.
"Mhm", murmelte Joy, und musste ein amüsiertes Grinsen unterdrücken. Sie schwang ihre Beine aus dem Bett. "Hat er jetzt endlich gemerkt, dass du auf ihn stehst?"
Tamina errötete und verschränkte mit vorwurfsvoller Miene die Arme vor der Brust. "Sag das nicht so."
"Wie denn?", fragte Joy scheinheilig.
"So!" Tamina sprang vor und schnappte sich ein Kissen vom Bett, um es ihr über den Kopf zu ziehen.
"Hey!", beschwerte sich Joy und angelte sich ebenfalls eines, um die Schläge abzufangen.
Nach einem kurzen Gerangel wurden sie wieder ernster. "Nun sag schon", forderte Joy Tamina lächelnd auf.
"Vielleicht", entgegnete sie und betrachtete verlegen ihre Fingerspitzen. "Es war irgendwie komisch. Er meinte, er habe sich Sorgen gemacht, und hat mich die ganze Zeit so ... anders angesehen."
Joy öffnete lächelnd ihren Schrank und zog ein Kleid heraus. Als sie in ihre Stiefel schlüpfte, spürte sie etwas Kühles, Festes an ihrem Knöchel. Das Lächeln verblasste von ihren Lippen und sie bückte sich, um das Messer aus ihrem Stiefel zu ziehen. War das getrocknetes Blut an der Klinge oder nur Dreck? Mit einem flauen Gefühl im Magen legte sie die Waffe weg, zwischen ihre Kleidung in den Schrank.
Tamina schien ihr Unbehagen zu bemerken. "Wie ... geht es dir?", fragte sie zögernd.
Joy schloss für einen Moment die Augen und versuchte, in sich hineinzuhorchen. Ja – wie ging es ihr? Mit allem, was sie in den letzten achtundvierzig Stunden erfahren und erlebt hatte? Da waren Verwirrung, Angst, Verzweiflung, Wut, Trauer, Frust ... aber auch Erleichterung. Erleichterung, endlich etwas Klarheit zu haben. "Ich weiß nicht", antwortete sie leise.
Tamina nickte schlicht. "Komm, lass uns zum Ratsaal gehen."
Zusammen verließen sie das Zimmer. Am Saal angekommen klopfte Tamina an die Tür. Die Flügel wurden augenblicklich von innen geöffnet und sechs Augenpaare sahen ihnen entgegen. Sechs. Nicht Acht. Argon und Joas fehlten.
"Joy, Tamina." Riona nickte ihren Töchtern zu. "Setzt euch bitte."
Tamina lief voraus zu zwei freien Plätzen an dem hufeisenförmigen Tisch. Joy ließ sich neben ihr nieder.
Riona sah Joy direkt an. "Du hast sicher einige Fragen?"
Joy nickte.
"Okay. Dann stelle sie."
"Ich..." Joy schluckte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Und sie hatte keine Ahnung, wo sie anfangen sollte. "Was ist mit Argon? Wo ist er?", fragte sie nach kurzem Zögern.
"Wir kennen seinen aktuellen Standort nicht. Aber eins ist klar: Wir werden ihm so bald wie möglich seine Position als Ratsmitglied nehmen. Wir werden ihn suchen, und wenn wir ihn gefunden haben, hinrichten."
Joy schluckte. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus. Das klang so leicht. Doch sie ahnte, dass es in Wirklichkeit nicht so einfach werden würde. "Und was ist mit Joas?", fragte sie.
"Ihm geht es, seiner Situation entsprechend gut. Lerian kümmert sich sehr gut um ihn."
"Und..." Joy zögerte. "Können wir ihm trauen?"
Riona runzelte die Stirn. "Selbstverständlich. Er ist mein Gefährte, er hat mein Leben gerettet. Warum sollten wir ihm nicht trauen?"
Joy musste daran denken, wie sie den Mann mit der furchterregenden Narbe im Gesicht verdächtigt hatte. Wie sie sein feindseliges Verhalten argwöhnisch gemacht hatte. Wie sie ihn ihr Zimmer verlassen gesehen hatte.
"Ich weiß nicht, er schien immer so..."
"Misstrauisch?", fragte Ina. Sie sah sie mit einer gehobenen Braue an. "Ja. Mein Bruder hat dir genauso wenig getraut, wie du ihm."
Joy starrte der Frau in die Augen. Das klang tatsächlich logisch. Auch wenn es ziemlich verwirrend war. Trotzdem... "Er hatte, als ich gerade erst im Palast angekommen war, frische Kratzer an den Armen. Wie von einem ... Kampf."
Ina seufzte und verdrehte die Augen. "Ich hab ihm gesagt, er soll sich nicht mit den Phönixen anlegen."
Joy schluckte. Okay. Joas schien tatsächlich komplett unschuldig zu sein.
"Was ist mit dem Feuer?", fragte sie weiter. Damit war sie wieder bei ihrem Misstrauen Ina gegenüber. Sie hatte gesehen, wie die Feuermagierin in den Keller gegangen war, kurz bevor dieser in Flammen aufging.
"Dafür haben wir noch keine richtige Erklärung", gab Riona zu. "Aber wir vermuten, dass Argon auch dafür verantwortlich war. Kurz bevor das Feuer ausbrach kam Ina zu mir und meinte, dass sie gerade in den Keller gehen wollte, und einen seltsamen Geruch wahrgenommen hatte. Daraufhin war sie umgekehrt und zu mir gekommen. Sie berichtete mir auch, dass ihr zum Weg dorthin Argon entgegen gekommen war."
"Mittlerweile weiß ich, dass dieser Geruch von Qualm kam", merkte Ina an.
"Aber warum hat Argon den Keller angezündet?", fragte Joy mit gerunzelter Stirn.
"Wir wissen es nicht. Vielleicht war es ein Versehen. Aber vielleicht auch nicht." Sie machte eine Pause. "Hast du noch weitere Fragen?"
"Was ist mit diesen Verbrechern?" Was war mit Quirin Dalibor, dem Mann, der sie nachts angegriffen hatte? Und dem Soldaten, der sie mit Tee hatte vergiften wollen?
"Die beiden werden immer noch festgehalten", erklärte Riona. "Einer meiner Soldaten konnte seinem ehemaligen Kollegen mittlerweile entlocken, dass es Argon war, der ihm befohlen hat, Joy den vergifteten Tee zu bringen. Wer weiß, was er ihm dafür versprochen, oder erzählt hat."
Joy schloss kurz die Augen. "Wie geht es jetzt weiter?", fragte sie schließlich.
Die Königin sah sie einen Augenblick schweigend an. "Es ist nun unabstreitbar, dass du die rechtmäßige Erbin des Throns bist."
"Wie bitte?" Ina setzte sich kerzengerade auf. "Das hatten wir noch nicht abgeklärt..."
"Ruhe!" Riona sah sie gebieterisch an. Die Feuermagierin presste wütend die Lippen zusammen, schwieg jedoch.
"Dennoch fehlt dir einiges an Wissen, das du benötigst, um Königin zu werden. Wissen, das Tamina besitzt", fuhr Riona, wieder an Joy gewandt, fort. "Bis geklärt ist, wer von euch beiden nun die Krone übernehmen wird, werdet ihr beide eine Königinnen-Ausbildung erhalten."
Joy war nicht glücklich über diese Aussicht, doch sie beschloss, dass nicht der richtige Zeitpunkt war, um dieses Thema auszudiskutieren. "Was ist mit Argon?", fragte sie.
"Du brauchst dir nicht weiter Sorgen über ihn zu machen", erwiderte Riona. "Wir werden ihn so schnell wie möglich fassen und für das zur Rechenschaft ziehen, was er getan hat. Er ist keine Bedrohung mehr."
---
Er ist keine Bedrohung mehr. Selbst zwei Tage später gingen Joy diese Worte noch durch den Kopf. Nein. Argon würde so lange eine Bedrohung bleiben, bis er gefasst worden war. Es ist noch nicht vorbei. Das hatte er ihnen in der Gasse zugerufen. Joy spürte, wie sich eine Gänsehaut auf ihren Armen bildete. Und das lag nicht an dem Wind, der in diesem Moment auffrischte.
Sie hob den Kopf und sah nach vorne, während sie sich zwischen Zweigen hindurchschob. In einiger Entfernung konnte sie das Plätschern von Wasser hören. Wie zur Bestätigung, dass sie sich dem Fluss näherten, spürte Joy außerdem ein warmes Kribbeln in ihren Händen aufsteigen.
Kurz darauf schob sie sich zwischen den Zweigen hindurch und blieb vor dem Goldstrom stehen. Wieder kam Wind auf, und sie zog ihren Umhang fester um sich. Ihre offenen Haare peitschten ihr ins Gesicht. Als sie sich die Strähnen hinters Ohr strich, und ihren Blick auf die andere Uferseite richtete, erstarrte sie. Ein finsteres, grünes Augenpaar, starrte ihr aus den Schatten des Waldes entgegen.
Joys Herzschlag beschleunigte. Sie blinzelte. Die Augen waren verschwunden. Sie fröstelte und schüttelte den Kopf, während sie sich die schwitzigen Hände an ihrem Kleid abwischte.
Nein. Die Gefahr war nicht vorbei. Das war sie noch lange nicht.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top