28. Kapitel
"Da ist er!", stieß Joy aus.
"Wer?", fragte Tamina verwirrt.
"Er", sagte Joy und traute sich nicht, den Blick von den Augen abzuwenden. "Der, den wir die ganze Zeit suchen. Der ... der Feind."
In dem Moment blinzelte das Augenpaar. Dann wandte sich der Kopf ab. Panik durchzuckte Joy. Nein. Sie dürfte den Mann jetzt nicht verlieren. Ohne weiter nachzudenken, lief sie los. Den Blick starr auf den schwarzen Hinterkopf gerichtet, drängte sie sich an Menschen vorbei. Sie bekam die verärgerten Laut der Leute, die sie beiseite drängte, kaum mit. Sie blendete ihre Umgebung komplett aus und konzentrierte sich nur auf den, sich immer schneller wegbewegenden Mann. Dann wurden es plötzlich weniger Menschen. Sie liefen in eine schmale Gasse. Joy musste mittlerweile rennen, um den Mann nicht zu verlieren. Dann bog sie um eine Ecke – und er war plötzlich weg. Hektisch sah Joy sich um. Nein. Das durfte nicht wahr sein. Sie konnte den Mann jetzt nicht einfach verloren haben. Sie kniff die Augen zusammen und suchte jeden Winkel der Gasse ab. Die Häuser um sie herum waren ungewöhnlich hoch und dunkel. Als Joys Blick durch die Schatten glitt, entdeckte sie plötzlich doch einen Umriss. Sie schnappte nach Luft. Breite Schultern, ein kantiger Kopf. Sie trat ein paar vorsichtige Schritte auf den Mann zu. Als sie nur noch fünf Meter von ihm entfernt war, erkannte sie ihn.
Joas.
Ungläubig schüttelte den Kopf, starrte dem Mann in die Augen. Braun. Braunrötlich. Das hier waren ganz eindeutig keine grünen Augen. Dunkle Haare hatte er auch nicht.
"Joy?", zischte Joas. Seine Stimme war ungläubig, bebte aber vor Zorn. "Ich hätte es wissen müssen", knurrte er. "Dass du hinter dieser ganzen Sache steckst. Ina wollte mir nicht glauben, sie hielt dich für zu dumm. Für zu jung." Er schüttelte den Kopf. "Aber ich habe es geahnt."
Joy starrte ihn an. "Von was sprichst du?", fauchte sie.
"Tu nicht so, als wüsstest du das nicht ganz genau", fuhr Joas sie an. "Du hinterhältiges, biestiges, kleines Miststück!" Er machte einen drohenden Schritt auf sie zu. Joy spannte sich automatisch an.
"Das sagt der Richtige", keifte sie. "Wie kannst du es wagen, mich hinterhältig zu nennen? Ich weiß genau, was du vorhast!"
"Ich weiß genau, was du vorhast!", wetterte er zurück.
Joy stiegen Tränen der Wut in die Augen. "Dich aufzuhalten! Das habe ich vor! Wie kannst du nur den Tod deiner eigenen Frau wollen?"
"Was?", fragte er irritiert.
Joy lachte verbissen auf. "Oh ja, ich weiß bescheid, was du heute vorhast. Und ich weiß auch noch vieles mehr."
"Was redest du da?", unterbrach Joas sie gereizt. "Was ich vorhabe. Als ob ich derjenige mit den hinterhältigen Plänen wäre."
"Was?" Nun war Joy an der Reihe, ihren Gegenüber verwirrt anzusehen.
"Du bist hier der Mörder!" Joas zeigte anklagend mit dem Finger auf sie. "Du bist diejenige, die unter mysteriösen Umständen im Palast auftaucht und sich als Königstochter auftaucht. Du bist diejenige, die Drohbriefe an die Königin schreibt. Du bist diejenige, die sie hierher bittet, um sie umzubringen."
Joy starrte Joas verwirrt an. "Das ... ich habe keine Drohbriefe geschrieben. Ich war das nicht. Du warst das."
"Schwachsinn", schnaubte Joas.
Joy starrte ihn an. Braune Augen. Das waren nicht die Augen, die sie vor ein paar Minuten auf dem Marktplatz gesehen hatten.
Erneut überlief sie eine Gänsehaut.
"Was macht ihr denn hier?", hörte sie plötzlich eine entsetzte Stimme fragen. Joas und Joy wirbelten gleichzeitig herum. Die Königin stand vor ihnen. Das Gesicht blass, die Lippen nervös zusammengepresst.
"Riona", flüsterte Joas entsetzt. "Riona, du musst hier weg. Jemand will dich..." Er verstummte. Seine Augen weiteten sich, pures Entsetzen stand in seinen Blick geschrieben. Im nächsten Moment sprintete er auf sie zu, schlang die Arme um ihren Körper und riss sie mit sich zu Boden.
Riona schrie auf. Joy versteifte sich. Die beiden fielen hart zusammen auf den Boden, Joas hielt Riona weiterhin fest umklammert.
Joy starrte die beiden für einen Moment geschockt an. Dann eilte sie auf sie zu, fasste Joas an der Schulter und zerrte ihn von seiner Frau herunter. Es ging überraschend einfach.
Joy stieß ein wütendes Knurren aus und starrte Joas hasserfüllt in die Augen. Diese hatten einen seltsamen, glasigen Blick bekommen. Und als er sich nach ein paar Sekunden noch nicht rührte, hielt Joy verwirrt inne. Da entdeckte sie ihn. Einen Pfeil. Er steckte zwischen Brust und Schulter, das graue Hemd hatte sich darum herum bereits rot gefärbt. Scheinbar hatte Riona den Pfeil ebenfalls entdeckt, denn sie schlug die Hand vor den Mund und stieß einen erstickten Entsetzenslaut aus.
Joy sprang auf und sah sich wild um. Es fühlte sich an, als würde sie jemand in kaltes Eiswasser tunken, als sie sie entdeckte. Die dunklen, grünen Augen. Und diesmal erkannte sie auch die Person, zu denen sie gehörten.
"Nein", entwich es ihren Lippen entsetzt und voller Unglaube. Eine schlanke Figur, ein ordentlicher, edler Anzug. Dunkle, kurze Haare, relativ blasse Haut, schmale Lippen, eine gerade Nase. Argon. Er war es wirklich. Doch obwohl der Großteil seines Äußerlichen seinem üblichen Aussehen ähnelte, erkannte Joy seinen Gesichtsausdruck kaum wieder. Sein Lächeln war nicht das übliche höfliche, freundliche Schmunzeln. Es war eher spöttisch, abfällig und voller Hass.
"Doch."
Joy zuckte zusammen. Argons Stimme klang scharf und kalt. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Rionas Augen sich weiteten. Doch sie rührte sich nicht, drehte sich nicht um.
"Ophira Anisha. Die verschollene Königstochter." Argon kam auf sie zu. Joy verspannte sich. Argon. Es war tatsächlich Argon. Sie konnte es nicht glauben. Mit schmalen Augen schritt er um sie herum. "Es war ein Schock für mich, als ich dich vor zwei, drei Wochen auf dem Marktplatz gesehen habe", fuhr Argon fort. "Ich konnte es nicht glauben. Ein Baby – ein Baby – ausgesetzt in der Wildnis, überlebt. Nachdem ich deinen Vater umgebracht hatte, hielt ich es nicht für möglich, dass du überlebst. Da hätte ich meine Arbeit wohl sorgfältiger beenden sollen."
Riona schnappte nach Luft, jetzt drehte sie sich doch zu ihm um. "Du warst es?", hauchte sie.
"Oh ja. Ich habe Nereus getötet. Ich hasste diesen Mann. Diesen Mann, der hatte, was ich nicht hatte. Der hatte, was ich immer haben wollte. Riona. Den Thron."
Er wandte den Kopf und sah Riona in die Augen. "Ich habe dich geliebt, Riona. Und ich dachte, du würdest mich auch lieben. Ich dachte, du würdest mich zu deinem Throngefährten ernennen."
Die Königin kauerte immer noch auf dem Boden. Sie hatte Joas' Kopf vorsichtig auf ihren Schoß gebettet und starrte Argon stumm an, Tränen schimmerten in ihren Augen.
"Aber du hast mir das Herz gebrochen, indem du Nereus statt meiner wähltest. Nach einer Weile kam zu dem Schmerz, den dein Verlust mir bereitete, auch Zorn hinzu. Doch ich gab nicht auf. Entschlossen erkämpfte ich mir einen Platz im königlichen Rat. Kurz nachdem Ophira geboren worden war, tötete ich Nereus, als er mit dem Baby einen Waldspaziergang unternahm. Das Kind rührte ich nicht an, ich ging davon aus, dass es innerhalb weniger Stunden erfrieren oder verhungern würde."
Riona schluchzte laut auf, die Hände immer noch fest auf den Mund gepresst. Joy war wie erstarrt und unfähig, sich zu rühren.
"Nach ein paar Tagen wurde Nereus' Leiche gefunden. Doch das Baby war nicht mehr bei ihm. Kurz war ich geschockt, doch dann redete ich mir ein, dass es von einem wilden Tier gerissen worden sein musste. Als du, Riona, einen neuen Throngefährten ernennen musstest, war ich mir sicher, nun würdest du mich wählen. Doch wieder täuschte ich mich." Seine Kiefernmuskeln spannten sich an und seine Augen glühten vor Zorn. "Gegen meiner Erwartungen wähltest du Joas."
Nun liefen Tränen Rionas Wangen hinunter.
Argon schien sich richtig in Rage zu reden. "Das war der Moment, an dem ich beschloss, mich an meiner verlorenen Liebe zu rächen. Mich an dir zu rächen." Er starrte Riona weiterhin an, eine Ader pulsierte an seiner Stirn.
"Über Jahre hinweg arbeitete ich auf ein Ziel – oder besser gesagt zwei Ziele – hin: Deinen Tod. Und deinen Thron." Er machte eine bedeutungsvolle Pause. "Aber dann sah ich deine Tochter vor Kurzem auf dem Marktplatz. Ich erkannte sie sofort, und war geschockt. Ich gab so schnell wie möglich einem – sagen wir Verbündeten von mir – den Befehl, sie auszuschalten. Doch der Attentäter versagte und schaffte es lediglich, ihr Gedächtnis auszulöschen." Argon schnaubte verächtlich. "Kurz darauf tauchte Joy, wie sie sich selbst nennt, im Palast auf und ich ordnete kurzerhand eine Reihe von weiteren Attentaten an. Doch deine kleine Prinzessin wollte einfach nicht sterben." Argon warf Joy einen kurzen Blick aus schmalen Augen zu. "Als der Vitam näher rückte, schob ich dieses Problem erst einmal beiseite, und konzentrierte mich auf meine eigentlichen, wichtigeren Pläne. Dich. An den Pfeil, der deine lächerliche Heilerin umbrachte, heftete ich eine Botschaft, die dafür sorgen sollte, dass du heute zu dieser Stelle kommst." Lächerliche Heilerin. Bei diesen Worten ruckte Joys Kopf nach oben und sie starrte Argon hasserfüllt an. Doch der fuhr ungerührt fort: "Ich hatte ehrlich gesagt nicht geplant, dass Joas diesen Zettel zu Sehen bekommt. Auch hätte ich nicht damit gerechnet, dass die kleine Ophira hier erscheint. Aber was soll's – dann schlage ich eben gleich drei Fliegen mit einer Klappe."
Joy schaffte es unter aller Anstrengung, ihren Kopf zu Riona zu drehen. Die Königin hatte mittlerweile die Augen geschlossen. Ihre Hände waren beide fest auf die Schusswunde auf Joas' Brust gepresst, und mittlerweile dunkelrot verfärbt. Doch die Tränenspuren auf ihren Wangen waren getrocknet, und bis auf ein leichtes Zittern ihrer Unterlippe rührte sie sich nicht mehr.
Argon schwieg nun. Langsam, ganz langsam, zog er einen Bogen von seiner Schulter. Das Holz war schwarz, genauso wie das der Pfeile, die in einem Köcher auf seinem Rücken steckten.
"Du bist ein Monster", flüsterte Riona plötzlich.
Argon erstarrte. Dann bildete sich ein mildes Lächeln auf seinen Lippen. "Bin ich das?"
"Ja. Bist du", knurrte Joas. Seine Stirn war vor Anstrengung tief gefurcht, als er den Kopf drehte und Argon anstarrte. Seine Brust hob und senkte sich schnell.
Argon verzog keine Miene. Er drehte den Pfeil ein paarmal zwischen den Fingern hin und her, dann legte er ihn langsam auf.
Joy ballte die Hände zu Fäusten. Ein unglaublicher Zorn keimte in ihr auf. Und als sie Argons zufriedenes, genüssliches Lächeln sah, als er den Bogen hob, kam Hass dazu. Ihre Stimme bebte vor der Anstrengung, ihre Emotionen zurückzuhalten, als sie zwischen den Zähnen hervorpresste: "Du hast mein Leben zerstört. Du hast meine ganze Welt durcheinandergebracht. Du hast dafür gesorgt, dass ich nie genau wusste, wer ich bin. Dass ich nie sein konnte, wer ich bin." Ihre Unterlippe zitterte. "Du täuschst, du verletzt, du zerstörst, du ermordest. Was bist du nur für ein Mensch?"
Argon ignorierte sie. Statt eine Reaktion zu zeigen, spannte er die Finger an und zog kurz prüfend an der Sehne.
Joy knirschte mit den Zähnen. Dann konnte sie nicht mehr an sich halten. "Was bist du nur für ein Mensch?", brüllte sie ihn an, und schleuderte ihm mit diesen Worten all die Verwirrung, den Zorn, den Hass, die Angst, das Entsetzen und die vielen anderen Emotionen, die sich in den letzten Tagen in ihr aufgestaut hatten, entgegen. Im nächsten Moment stürzte sie ohne weiter nachzudenken nach vorne, umgriff den Pfeil mit der Hand und riss ihn nach unten. Dann rammte sie ihm den Ellbogen gegen das Kinn und das Knie in den Unterleib.
Argon gab ein gefährliches Zischen von sich. Er reagierte sofort, indem er Joy seinerseits einen Kinnhaken versetzte, und ihr in dem Moment, als sie zurückzuckte, die Beine unter dem Körper wegriss.
Riona schrie auf. Joy krabbelte hastig zurück und versuchte sich wieder aufzurappeln. Im nächsten Moment trat ihr Argon so heftig in die Seite, dass sie sich vor Schmerz krümmte. Ihr Blick kreuzte für einen Moment den ihrer Mutter, und sie erkannte das Entsetzen und die Panik darin. Dann traf sie ein weiterer tritt an einer sowieso schon verletzten Stelle, und sie war vor Schmerz wie betäubt. Hilflos hob sie die Hände vors Gesicht, gleichzeitig wurde sie immer wütender.
Argon versetzte ihr noch einen letzten Tritt, dann wandte er sich mit einem verächtlichen Schnauben ab und griff nach Pfeil und Bogen, die auf den Boden gefallen waren.
Joy entwich ein verzweifeltes Stöhnen. Ihr ganzer Körper pulsierte vor Schmerz. Sie versuchte, ihren Fuß an sich heranzuziehen, der an einer unebenen Stelle am Boden hängen geblieben war. Das sah sie etwas in der Sonne aufblitzen. Eine erneute Welle der Emotionen überkam sie, und ihr stiegen Tränen in die Augen. Erleichtert und hoffnungsvoll versuchte sie, sich ein Stück aufzusetzen, und zog ihren Fuß unter Kraft aller Anstrengungen noch näher an sich heran. Gleichzeitig sah sie aus dem Augenwinkel, wie Argon erneut den Pfeil auflegte. Diesmal ließ er sich nicht ganz so viel Zeit. Joy biss die Zähne zusammen und streckte die Hand nach dem Stiefel aus. Dann, endlich, schlossen sich ihre Finger um den Griff des Messers.
Im selben Moment sah sie aus dem Augenwinkel etwas durch die Luft schießen und ein Schrei gellte durch die Gasse.
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Heute hätte ich tatsächlich fast vergessen, dass nicht nur Oster-, sondern auch Kapitelsonntag ist ^^
Ahhh es ist aufgelöst. Ich bin wirklich sehr, sehr gespannt, wie ihr auf dieses Kapitel – und Argon – reagierten werdet, also lasst mir unbedingt eure Meinung da! :)
Ich hoffe, ihr könnt alles gut nachvollziehen. Was haltet ihr von diesem Kapitel und den neuen Informationen?
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