26. Kapitel
Kiran öffnete die Haustür und trat in das Gebäude. Mit einer einladenden Geste bedeutete er ihnen, ihm zu folgen. Joy trat hinter Tamina in den Eingangsbereich.
"Mama?", rief Kiran in das Haus.
"Ist in ihrem Arbeitszimmer", antwortete eine tiefe Stimme hinter einer geschlossenen Tür.
"Keine große Überraschung", murmelte Kiran. "Kommt, folgt mir." Er lief durch den kleinen Flur, in dem sie standen auf eine Tür zu und klopfte kurz. Tamina und Joy folgten ihm.
"Herein", sagte eine Stimme.
Kiran stieß die Tür auf. Vor ihnen lag ein kleiner, gemütlicher Raum. Hohe Schränke und ein riesiges Bücherregal standen an den Wänden. Unter dem schmalen Fenster befand sich ein Tisch, an dem eine Gestalt saß. Als sie den Raum betraten, drehte sie sich zu ihnen um. Joy starrte die Frau an. Kirans Mutter hatte lange, hellbraune Locken, die ihr offen auf den Rücken fielen. Nur zwei dicke, vordere Strähnen, die nach hinten geklemmt waren, hielten ihr die Haare aus dem Gesicht. Die Frau sah unfassbar jung für eine Mutter aus. Ihre Haut war glatt und faltenlos. Sie trug ein langes, dunkelgrünes Kleid. An ihren Ohren baumelten schlichte, silberne Ohrringe. Joy wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber das sicher nicht. Bei dem Begriff Wahrsagerin hatte sie sich eine ältere, etwas finstere Frau vorgestellt, vielleicht mit einer krummen Nase und filzigen Haaren. Aber diese Person sah ganz ... normal aus. Bis auf dass sie Tamina und Joy mit großen, ungläubigen Augen anstarrte.
"Kiran, du hast Besuch mitgebracht? Ist ... ist das etwa..."
Tamina zog sich die Mütze vom Kopf, und die Frau schnappte nach Luft.
"Eure königliche Hoheit, wie ... wie kommen wir zu der Ehre?" Sie stand auf und verbeugte sich unbeholfen.
"Erhebe dich", bat Tamina verlegen. "Ich bin hier, um dich um einen Gefallen für meine Begleiterin zu bitten."
Die Frau warf Kiran einen fragenden Blick zu. Der trat vor. "Tamina, Joy, das ist meine Mutter, Ava. Mama, das sind Prinzessin Tamina und ihre ... Freundin, Joy. Sie suchen nach jemandem, allerdings wissen sie weder, wer diese Person ist, noch wo sie ist. Ich hatte gehofft, du könntest ihnen vielleicht dabei weiterhelfen."
Ava sah ihren Sohn kurz mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an. Dann wandte sie sich Tamina zu. "Ich versuche euch gerne zu helfen, doch ich kann nichts versprechen. Ich bin Wahrsagerin, meine Kunst besteht hauptsächlich darin, in die Zukunft zu schauen. Würdet ihr mir den Versuch gestatten, eure Zukunft zu lesen, könnte es vielleicht sein, dass ich sehe, wie ihr die gesuchte Person findet."
Tamina blinzelte. "Natürlich, das wäre großartig", sagte sie dann schnell. "Es ist wirklich sehr, sehr wichtig, dass wir denjenigen finden."
"Gut. Was wisst ihr über ihn?", fragte Ava.
"Er ist männlich und hat grüne Augen", antwortete Joy. "Und er ist uns nicht freundlich gesinnt."
Ava verzog keine Miene. "Noch etwas?"
Joy schüttelte den Kopf. "Leider nicht."
"Okay. Das ist nicht viel, aber ich werde es versuchen." Sie runzelte nachdenklich die Stirn. "Okay", machte sie dann nochmal. "Bei wem von euch ist es wahrscheinlicher, dass er in Zukunft mit diesem Mann zu tun hat?"
Die Frage bereitete Joy eine leichte Gänsehaut. Unsicher sah sie Tamina an. "Bei mir vermutlich", sagte sie dann leise.
"Okay. Würdet Ihr bitte an dieses Becken treten?" Ava trat an ein hohes, säulenartiges, hüfthohes Gebilde. Joy befolgte ihre Anweisung. Die Wahrsagerin sah sie prüfend an. Ihre Augen waren blau und warm, so wie die ihres Sohnes. "Ihr seid euch sicher, dass Ihr das wollt?"
Joy zögerte. "Ich denke schon."
"Gut, dann gebt mir bitte Eure Hand."
Joy reichte ihr ihre rechte Hand. Kirans Mutter legte sie sachte in ihre eigene. Dann senkte sie sie in das Wasserbecken.
"Schließt die Augen", wisperte sie. "Versucht, an die Person zu denken. Das macht es mir leichter, sie zu finden."
Joy schloss nervös die Augen und rief sich das Bild der dunklen, grünen Augen in Erinnerung. Eine Weile stand sie so da, reglos. Minuten vergingen. Dann ließ Ava ihre Hand wieder los. Zögernd öffnete sie die Augen.
Ava war ein wenig blass. Wortlos starrte sie Joy an. "Es war schwer, deine Zukunft zu lesen", erklärte sie ziemlich knapp. "Das könnte daran liegen, dass du eine Magierin bist."
"Sie ist keine Magierin", sagte Kiran.
"Doch, ist sie", widersprach Ava, ohne zu zögern. "Das zeigen doch schon alleine ihre Augen. Außerdem habe ich es gesehen."
Kiran runzelte die Stirn und sah unsicher zwischen ihnen hin und her.
"Es stimmt", flüsterte Tamina. "Sie ist eine Wassermagierin. Aber es wäre gut, wenn ihr das vorerst für euch behalten würdet." Sie wandte sich an die Wahrsagerin. "Hast du etwas gesehen?"
Ava zögerte. "Es war sehr verschwommen. Über ihn kann ich euch nicht viel sagen. Er ist vielleicht dreißig bis vierzig Jahre alt und hat dunkle Haare. Er ... ihr müsst euch beeilen." Sie schluckte schwer. "Er hat vor, die Königin zu töten. Heute."
Joy starrte die Frau fassungslos an. "Was?", fragte sie entsetzt.
"Die ganze Königsfamilie scheint in Gefahr zu sein", fügte Ava hinzu, den Blick auf das Becken gerichtet. "Auch euer beider Leben sind bedroht. Aber er hat es vor allem auf die Königin abgesehen."
Tamina schlug sich eine Hand auf den Mund. Sie schien genauso verwirrt wie Joy, in ihren Augen lag ein Anflug von Panik. "Wie sollen wir diesen Mann nur finden?", flüsterte sie zwischen ihren Fingern hindurch.
"Er wird hier sein, beim Einzug der Königsfamilie", erklärte Ava. "Mehr kann ich euch aber nicht sagen, tut mir leid."
"Vielen Dank für deine Hilfe." Tamina blickte die Frau kurz an. Dann drehte sie sich zu Joy. "Was ... was meinst du, was sollen wir jetzt tun?"
Joy warf einen Blick aus dem Fenster. Es war schon später Vormittag. "Ich würde sagen, wir sollten vielleicht langsam zum Palast zurückkehren", antwortete sie. "Oder?"
Tamina nickte stumm.
Kiran hatte sie die ganze Zeit mit großen Augen beobachtet. Nun trat er vor. "Kann ich euch irgendwie helfen?", fragte er.
"Eigentlich nicht", antwortete Tamina. "Aber du hast uns ja schon sehr weitergeholfen. Danke." Schüchtern lächelte sie ihn an. Er lächelte zurück.
Kurz darauf trat er zusammen mit ihnen aus der Haustür. Ava verabschiedete sich mit einer Verbeugung.
"Ich gehe noch zu meinen Freunden", sagte Kiran zu ihr. "Wir wollten einen Kuchen backen." Seine Mutter nickte. Dann zog sie die Tür zu. Kiran sah die Mädchen an. "Einen Kuchen backen." Er runzelte ungläubig die Stirn. "Ich kann jetzt doch keinen Kuchen backen."
"Doch, kannst du. Mach dir keine Gedanken", entgegnete Tamina mit einem gezwungenen Lächeln.
Kiran sah sie eine Weile schweigend an. Schließlich murmelte er: "Ich will nicht wissen, was meine Mutter mit mir macht, wenn ich nach Hause komme." Ein schiefes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. "Sie muss außer sich sein."
Tamina sah ihn besorgt an. "Aber sie tut dir doch nichts, oder?"
Kiran öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Den Blick die ganze Zeit auf Tamina gerichtet, schüttelte er den Kopf. "Nein, nein, meine Mutter würde mir natürlich niemals etwas antun. Mir höchstens die Ohren langziehen." Da war es wieder, das Grinsen.
Tamina nickte verlegen. "Okay, wir müssen jetzt wirklich los."
Kiran trat zurück und winkte unbeholfen. "Vielleicht sehen wir uns ja später nochmal."
Die Mädchen drehten sich um und liefen zurück durch die Gassen. Kurz darauf erklommen sie den leichten Hang und betraten den Wald. Tamina warf immer wieder nervöse Blicke nach oben. Der Himmel war zwischen dem Blätterdach nur teilweise zu erkennen. Doch man sah, dass sich die Sonne immer weiter ihrem höchsten Punkt näherte. Sie wurden zunehmend schneller, und Tamina sah immer nervöser aus. "Verdammt", stieß sie mach einer Weile aus. "Es ist schon so spät. Wir sollten eigentlich längst zurück im Palast sein."
Die Zeit schien sich hinzuziehen, und durch ihr zügiges Tempo spürte Joy nach einer Weile, wie ein leichtes, unangenehmes Stechen in ihrer Seite einsetzte.
Endlich erreichten sie die Brücke, die zu der kleinen Teilinsel führte, auf der der Palast stand.
"Hörst du das?", fragte Joy plötzlich und sah Tamina mit gerunzelter Stirn an. Das Geräusch von leichten, schnellen Schritten war zu hören. Von Pfotenschritten. Tamina sah sich nervös um.
"Vielleicht sollten wir in Deckung gehen...", begann sie, doch da preschten die Großhunde auch schon um eine Ecke und direkt auf sie zu.
Als sie sich ihnen näherten, wurden sie langsamer. Es waren drei, und einer davon hatte einen Reiter. "Wo bleibt ihr denn so lange?", rief Marina ihnen zu. "Habt ihr eigentlich eine Ahnung, was im Palast los ist? Jetzt macht schon, steigt auf und dann ab zum Palast!" Sie blieb vor ihnen stehen. Joy erkannte Xena, Mohn und Wotan. Sie lief auf den Rüden zu und begrüßte ihn, indem sie ihm kurz durch das weiche Fell wuschelte. Dann bedeutete sie ihm, sich hinzuknien und stieg auf.
"Hat alles geklappt?", fragte Marina.
Joy nickte.
"Und?"
"Das ... das lässt sich nicht so schnell erzählen", murmelte sie. "Es ist sehr kompliziert, aber ... wir wissen jetzt, wer ich früher einmal war." Damit beugte sie sich nach vorne und trieb ihren Hund an, loszulaufen. Sie sah, dass die anderen beiden ebenfalls losliefen, und Marina sich an ihre Spitze setzte. Kurz darauf erreichten sie das Palasttor und passierten es, ohne aufgehalten zu werden.
Als sie abstiegen, kam Riona auf sie zugeeilt, ihre Augen blitzten vor Zorn. "Ich kann nicht glauben, dass ihr schon wieder einfach losgezogen seid. Für so dumm hätte ich euch wirklich nicht gehalten", fuhr sie ihre Töchter an. "Was soll das? Was versprecht ihr euch von..."
"Wir wissen jetzt, wer Joy war", unterbrach Tamina ihre Mutter und sah sie mit erhobenem Kinn an. Auch, wenn es ein wenig zitterte. "Wir haben jemanden getroffen, der sie kannte. Er hat uns erzählt, was er über sie weiß."
Riona starrte sie eine Weile stumm an. Dann sagte sie scharf: "Wir werden später noch einmal darüber reden. Jetzt haben wir dazu keine Zeit. In wenigen Minuten wollen wir zum Vitam aufbrechen. Geht, und säubert euch so gut wie möglich, und dann zieht die Kleider an, die euch rausgelegt wurden. Wenn ihr fertig seid, kommt so schnell wie möglich wieder hierher zurück." Tamina nickte erleichtert. Sie nahm Joy am Handgelenk und zog sie mit. Im Palast drückte sie kurz ihre Hände. Für eine Weile verharrten sie schweigend gegenüber und sahen sich in die Augen.
"Bis gleich", flüsterte Joy.
Tamina nickte. Dann trennten sie sich und liefen in verschiedene Richtungen davon. Joy betrat in das kleine Badezimmer und schloss hinter sich die Tür. Als sie aus ihrem Kleid schlüpfte, bemerkte sie, dass es an einigen Stellen erdige Flecken hatte. Sie stieg in das Wasserbecken und säuberte erst vorsichtig ihre Haut. Kadira hatte recht behalten, als sie gesagt hatte, dass es ihr am Vitam wieder einigermaßen gut gehen würde. Die Prellungen waren gut verheilt.
Kadira.
Joy schloss die Augen. Die Heilerin war tot. Und noch mehr Leben waren in Gefahr. Unwillkürlich ballte sie unter Wasser die Hände zu Fäusten. Nein. Sie wollte – sie konnte nicht zulassen, dass dieser Mann noch mehr Menschenleben auslöschte. Sie würde ihn finden und aufhalten. Koste es, was es wolle.
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Dieses Kapitel endet ausnahmsweise mal nicht mit einem Cliffhanger. Dafür aber das Nächste wieder, versprochen xD
Was haltet ihr von dem Kapitel? Was erwartet ihr euch vom weiteren Lauf des Vitam?
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