22. Kapitel
Joy war ganz und gar in ihr Buch vertieft. Die letzten Tage waren sehr ähnlich abgelaufen. Morgens frühstücken mit der Königsfamilie, vormittags Unterricht bei Rayllyn, Mittags essen mit der Königsfamilie, Nachmittags lesen, abends wieder mit der Königsfamilie essen. Ein paarmal hatte sie Besuch gehabt, von Kadira, die sie untersuchte, oder von Marina. Tamina war nicht gekommen. Joy hasste es, das Palastgebäude nicht verlassen zu dürfen, und ließ das Fenster in ihrem Zimmer beinahe den ganzen Tag offen. Als Marina das Buch Stricken leicht gemacht unter Joys Lektürestapel entdeckt hatte, hatte sie ihr voller Begeisterung einen großen Korb mit Wolle und Stricknadeln gebracht, und sie auch gefragt, ob sie ihr ein paar Grundlagen zeigen solle. Doch Joy hatte abgelehnt und das Körbchen bisher auch nicht angerührt.
Grundlagen der Heilkunde hatte Joy mittlerweile fast durch, auch in ein paar andere Bücher hatte sie schon reingelesen, doch die meisten Themen interessiert sie kein bisschen. Wenn Kadira nach ihr sah und ihre Wunden untersuchte, fragte sie Joy oft neugierig, über was sie zuletzt gelesen hatte. Und einmal hatte sie ihr auf Joys Bitte hin sogar gezeigt, wie man einen Verband richtig anlegte.
Joy blätterte eine Seite um. Von dem Fenster kam plötzlich ein heftiger Windstoß und wehte ihr ein paar Haarsträhnen vors Gesicht. Als sie die Hand hob, um sie sich zurück hinters Ohr zu streichen, wurden die Seiten von einer erneuten Böe umgeblättert. Genervt klappte Joy das Buch zu und stand auf. Sie trat an das Fenster und ließ ihren Blick über den Garten schweifen. Da fiel ihr ein Blitzen am Waldrand hinter dem Zaun auf. Joy kniff die Augen zusammen und starrte in die Schatten zwischen die Bäume. Zeichnete sich dort eine Silhouette ab? Wieder blitzte etwas auf, genau an der selben Stelle. Joy versteifte sich. War dort wirklich ein Mensch? Sie blinzelte, und starrte wieder zu der Stelle. Eindeutig. Lauernd ging die Person auf und ab, drehte etwas in den Händen. Einen langen, dünnen Gegenstand, dessen Spitze in der Sonne immer wieder aufblitzte. Ein eiskalter Schauder lief Joy den Rücken hinab, und sie konnte den Blick nicht von der Gestalt lösen. Da fiel ihr plötzlich noch eine Bewegung auf. Jemand lief durch den königlichen Garten, näherte sich immer weiter dem Zaun. Joy schnappte nach Luft, als sie die Frau erkannte. In ihrem typischen, hinkenden Gang lief sie über den Weg. Kadira. Auch die Gestalt schien sie bemerkt zu haben, und lief ein wenig nach rechts, näher an das Ziel der Heilerin heran. Nun erkannte Joy, was es war, das sie in den Händen hielt. Ein Pfeil. Nun wurde der Pfeil auf einen Bogen gelegt. Entsetzliches Grauen stieg in Joy auf, wie hypnotisiert beobachtete sie die Szene. Als sie sich endlich aus ihrer Starre löste, begann ihr Körper vor Panik unkontrolliert zu zittern. Nein. Nein! Würde die Gestalt auf Kadira schießen? Wie betäubt stolperte Joy von dem Fenster zurück. Dann riss sie dir Tür auf und sprintete in den Gang.
Wie aus der Ferne hörte sie das Fluchen eines Soldaten, dann den Ruf eines anderen. Ein Arm packte sie am Handgelenk, doch sie riss sich los und stolperte weiter. Sie prallte gegen eine Wand. Nein – das war keine Wand, sondern der Wachmann, der das Tor zum Garten bewachte. Verwirrt starrte er sie an, blickte fragend zu einem der Soldaten, die sie verfolgt hatten.
"Was...?"
Joy trat dem Mann mit voller Wucht gegen das Schienbein, als er den Arm nach ihrer Schulter ausstreckte, und taumelte weiter. Verschwommen erkannte sie sie in der Ferne. Kadira.
"Kadira!" Ihre Stimme klang schrill und hysterisch. Die Heilerin drehte sich zu ihr um, runzelte die Stirn. Sie öffnete den Mund - und im selben Moment bohrte sich ein Pfeil in ihren Rücken. Kadiras Augen weiteten sich. Sie sackte auf die Knie. Entsetzen stand ihr in die Augen geschrieben. "Kadira!", schrie Joy wieder. Der Schock pulsierte durch ihre Adern und ließ ihr Herz rasen. Als sie vor der alten Frau ankam, sank sie ebenfalls auf die Knie, fing die alte Frau auf, als sie zusammensackte. Heiße Tränen rannen über ihre Wangen, tropften von ihrem Kinn, hinterließen einen salzigen Geschmack auf ihren Lippen. "Kadira", flüsterte sie nun. Ihr Kopf begann sich wild zu schütteln. Nein. Wie konnte das sein? Was war geschehen? Das alles konnte doch nicht real sein, oder? Eine runzelige, warme Hand legte sich auf ihre Wange. Feucht. Rot vor Blut. Joy schluchzte auf, starrte voller Grauen auf die schwerverletzte Heilerin hinab.
"Joy", murmelte Kadira. Vor Schmerz schloss sie kurz die Augen, dann sah sie ihr tief in die Augen. Sie öffnete den Mund, hustete. "Ich habe gesehen...", krächzte sie und verstummte. "Ich habe ... ihn gesehen." Diese Worte schienen ihr unendliche Anstrengungen zu bereiten. Ihre Hand fiel schlaff von Joys Wange auf den Boden, ihr Kopf fiel zu Seite.
"Wen hast du gesehen?", flüsterte Joy erstickt.
Kadira starrte sie an, mit weit aufgerissenen Augen, in denen sich Schmerz und Entschlossenheit spiegelten. Entschlossenheit, auszusprechen, was sie Joy mitteilen wollte.
"Es ist...", keuchte sie, doch ein Hustenanfall unterbrach sie. Blutspritzer landeten auf Joys Kleidung, doch sie achtete nicht darauf. Mit zitternden Fingern und von Tränen verschleierten Augen strich sie Kadira eine graue Strähne hinters Ohr.
"Es ist...", versuchte Kadira es erneut. "Ahh", sie verzog das Gesicht vor Schmerz. Ihr Blick schnellte zu etwas hinter ihr. Die beiden Soldaten eilten heran. "Aarghh", machte Kadira wieder, diesmal viel leiser. Dann blieben ihre Lippen offen stehen, und ihr Blick erstarrte.
Ein Schluchzen schüttelte Joys Körper. Nein. Nein, nein, nein, nein. Das musste ein Traum sein. Das musste einfach ein Traum sein! Grobe Hände zerrten sie an den Schultern nach oben, ein breiter Körper stellte sich schützend vor sie und schirmte sie von dem Zaun ab. Gleichzeitig wurde sie zurück in Richtung Palast gezerrt.
Ein Schrei. Joy sah blinzelnd auf. Tamina stand im Palasteingang, die Augen weit aufgerissen und die Hände vor den Mund geschlagen. Auch sie wurde von einem Soldaten an der Schulter gepackt und zurück in das Gebäude gezogen.
"Gebt der Königin Bescheid", hörte Joy eine tiefe Stimme sagen. Sie stolperte und wäre beinahe hingefallen. Der Soldat, der sie in den Palast geschoben hatte, packte sie gerade noch rechtzeitig an den Oberarmen und stützte sie.
"Was ist passiert?", hörte sie kurz darauf die beunruhigte Stimme der Königin fragen. Als sie aufblickte, näherte sich Riona ihnen mit schnellen Schritten, Ina und Marina folgten ihr.
"Was...?" Marina eilte auf Joy zu und strich ihr mit entsetztem Blick über die verschmutzte Wange. "Ist das etwa Blut?" Joy konnte sie nur aus roten, verquollenen Augen anstarren. Sie öffnete den Mund, doch es kam nur ein Wimmern daraus hervor.
"Was ist passiert?", fragte Riona erneut, diesmal schärfer.
"Eure Heilerin wurde im Palastgarten erschossen, Majestät", antwortete ein Soldat.
"Wie bitte?"
"Kadira, sie ... sie lag dort und...", brachte Tamina mit gesenktem Blick hervor. "Joy hat es ... hat es gesehen."
"Was hast du gesehen Joy?", fragte Marina sanft.
Joy öffnete den Mund, ein Zittern überlief ihren Körper. "Da ... da war wieder ein Schütze im Wald. Er hat auf Kadira geschossen, und..." Gequält schloss sie die Augen. Vor ihren Augen sah sie wieder Kadira, wie Blut aus ihrem Mund tropfte. Ihr Husten. Ihr starrer, lebloser Blick.
Marina trat näher an sie heran und zog sie in eine Umarmung. Joy schloss die Augen. Immer und immer wieder sah sie die sterbende Heilerin vor sich.
"Warum...", flüsterte sie. "Warum hat er sie umgebracht?"
"Marina, würdest du Joy bitte auf ihr Zimmer bringen? Und Ina, du kümmerst dich um Tamina."
Joy spürte, wie Marina ihr vorsichtig einen Arm unter die Schultern schob, und sie so stützte. Gemeinsam entfernten sie sich von den anderen. Als Joy in ihrem Zimmer ankam, wanderte ihr Blick sofort zum immer noch offenen Fenster. Neue Tränen stiegen in ihr auf, doch trotzdem löste sie sich von Marina und lief darauf zu.
"Joy." Marina stoppte sie, indem sie sie sanft am Handgelenk festhielt. "Bist du dir sicher, dass du dort hinuntersehen willst?" Joy nickte stumm.
Marina verzog unglücklich das Gesicht, doch sie lockerte ihren Handgriff. Joy ging die letzten Schritte bis zum Fenster und starrte hinaus. Dort lag sie. Gekrümmt, den Pfeil im Rücken, die Kleidung voller Blut. Joy biss die Zähne fest zusammen. Noch immer war ihr Körper steif vor Schock. Doch nun setzte auch zusätzlich die Trauer ein. Kadira war tot. Die Heilerin, die sich in den letzten Tagen um sie gekümmert hatte. Die Frau, die ihr von ihrer Kindheit erzählt hatte. Der Mensch, der ihr trotz seiner teilweise ruppigen, forschen und schroffen Art irgendwie ans Herz gewachsen war.
Warum war sie tot? Was hatte der Schütze aus dem Wald für einen Grund gehabt, sie umzubringen? Joy spürte, wie ihr erneut Tränen über die Wangen rannen. Sie beobachtete, wie Riona in den Garten kam, nun waren Joas, Rayllyn, zwei weitere Männer und ein paar Soldaten bei ihr. Die Soldaten liefen voraus und auf den Zaun zu. Sie hatten ihre Waffen gezückt und suchten den Wald anscheinend nach dem Schützen ab. Nach einer Weile winkten sie die Königin und die Ratsmitglieder heran. Riona bückte sich vor Kadiras Leiche. Sie streckte ihren Arm aus, und zog etwas kleines, weißes unter der Pfeilspitze hervor. Joy stockte der Atem. Es sah aus wie ein Zettel. Etwa eine weitere Drohbotschaft?
"Joy?" Marina legte ihr von hinten die Hand auf die Schulter. Joy drehte sich um und starrte sie aus blicklosen Augen an. "Ich glaube, es wäre besser, wenn du weg vom Fenster kommst." Sanft zog die Frau sie an der Schulter. Joy gab protestlos nach und ließ sich auf die Bettkante sinken. Marina schloss das Fenster und zog den Vorhang ein Stück zu. Dann drehte sie sich zu dem Tisch um und goss aus einer Flasche Wasser in ein Glas. "Hier. Trink."
Joy setzte das Wasser gehorsam an die Lippen und trank einen Schluck. Als Marina es zurücknahm, stellte sie es auf den Tisch und ließ sich mit einem Seufzen auf dem Stuhl daneben sinken.
"Es tut mir wirklich leid. Dass du das miterleben musstest, und ... dass das alles hier passiert."
Joy rührte sich nicht.
Marina zögerte. "Gib nicht auf, ja?"
Jetzt hob Joy den Kopf und sah sie an. Sie wusste, dass der unerträgliche Schmerz, der Schock, die Verwirrung, die Angst, die Wut, das Gefühlschaos, das sie gerade empfand, sich in ihren glasigen Augen spiegeln musste, denn das Mitleid in Marinas Miene steigerte sich sogar noch, als sie ihr in die Augen sah.
"Warum passiert das alles?", wisperte Joy.
Marina schüttelte hilflos den Kopf. "Ich weiß es nicht. Ich..."
"Womit hat Kadira ihren Tod verdient? Womit haben die Hunde ihren Tod verdient? Womit habe ich den Tod verdient, den mir offensichtlich irgendjemand wünscht?"
Schweigen. Nach einer Weile flüsterte Marina: "Ist es okay für dich, wenn ich zu Riona gehe? Sie wird vermutlich gleich den Rat einberufen."
Joy nickte stumm.
"Okay, dann..." Marina zögerte. Dann nickte sie ihr noch einmal kurz zu und verließ den Raum.
Joy starrte zum Fenster. Aus dem Spalt, den der Vorhang nicht bedeckte, strahlte helles, lockendes Tageslicht in den Raum. Joy schluckte. Der Drang, wieder aufzustehen und noch einmal hinauszusehen, war groß. Nur kurz, sagte sie sich gedanklich. Sie würde nur einen letzten, schnellen Blick hinaus werfen, und den Vorhang dann vollständig zuziehen.
Sie stand auf und trat an das Fenster. Mit einer Handbewegung zog sie den Stoff beiseite und starrte hinaus. Die Soldaten hatten sich um Kadira versammelt und beförderten sie gerade vorsichtig, darauf bedacht, sie so wenig wie möglich zu berühren, auf eine Trage. Joy ließ den Blick weiter schweifen. In einiger Entfernung stand Riona, Joas stand dicht neben ihr. Die beiden Männer und Rayllyn unterhielten sich und beobachteten dabei die Soldaten. Gerade wollte Joy den Vorhang wieder zurückziehen, da fiel ihr noch jemand auf. Argon stand in einiger Entfernung, mit seiner dunklen Kleidung gut getarnt im Schatten einer Palastwand. In der Dunkelheit war sein Gesichtsausdruck nicht gut zu erkennen, aber irgendetwas schien Joy daran seltsam. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Dann zog sie den Vorhang mit einer endgültigen, ruckartigen Bewegung zu.
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Peng! Jetzt ist es endgültig vorbei mit der "Ruhe" xD
Was haltet ihr von dem Kapitel?
Von Joy?
Und von Kadira?
Lasst es mich gerne in den Kommentaren wissen und drückt auf den Stern, wenn es euch gefallen hat ;D
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