20. Kapitel

Joy traf Tamina auf dem Weg zum Palasttor, hinter einem hohem Strauch versteckt. Hinter ihr standen zwei Hunde. Joy erkannte die breiten Schultern, die einzelne schwarze Pfote und die graue Linie auf dem ansonsten weißen Rücken des Rüden Wotan. Sie lief auf ihn zu und begrüßte ihn, indem sie ihm freundschaftlich hinter dem Ohr kraulte. Verblüfft stellte Joy fest, wie normal der Anblick und auch der Umgang mit den Großhunden für sie mittlerweile war.

"Ich habe mir gedacht, ich fange dich doch lieber hier schon ab, da ich mir nicht sicher bin, wie die Wachen am Tor auf deinen Anblick reagieren werden", erklärte Tamina mit gesenkter Stimme. Das Fell ihrer Hündin hatte auf dem Rücken einen zarten Silberton und auf einem ihrer Ohren prangte ein schwarzer Fleck. Tamina schwang sich mit einer einzigen, grazilen Bewegung auf den Rücken des Tieres und strich beruhigend über seinen Hals. "Halte dich hinter mir, hebe nicht den Blick und sei still, ja?" Joy nickte und wartete, bis Wotan sich niedergekauert hatte, dann stieg auch sie auf. Sie trabten los. Joy zog sich mit einer raschen Bewegung das Band, das ihre Haare zu einem Zopf gehalten hatte, heraus und ließ sich die blonden Strähnen vors Gesicht fallen. Mit gesenktem Blick trieb sie Wotan an, dicht hinter Taminas Hündin zu laufen. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie die Silhouetten, die neben dem Tor standen und ihnen entgegentraten.

"Öffnet das Tor", befahl Tamina mit gehobener Stimme.

"Wer ist das?", fragte ein Soldat misstrauisch und nickte in Joys Richtung.

"Öffnet das Tor", wiederholte Tamina.

"Es tut mir leid, Prinzessin, aber ich fürchte, wir können Eure Begleiterin nicht durchlassen", erklärte er und musterte Joy weiterhin argwöhnisch.

"Wagt ihr es, meinen Befehl zu missachten und mir zu wiedersprechen?", fuhr Tamina ihn an, ihre Stimme klang plötzlich scharf und hart. "Öffnet augenblicklich das Tor, oder ich melde euch der Königin!"

Die Wachmänner sahen sich unsicher an.

"Prinzessin...", begann nun der andere unsicher.

"Seid ihr euch sicher, dass ihr wegen solch einer Belanglosigkeit euer Amt aufgeben wollt?", fuhr Tamina dazwischen. "Öffnet augenblicklich das Tor, oder ihr werdet es nie mehr tun."

Der Mann wich zurück und sah seinen Kameraden unsicher an. Der wich seinem Blick aus und betrachtete den Boden zu seinen Füßen.

"Wird das heute noch was?", fauchte Tamina ungeduldig.

Des Soldat wich die letzten Schritte zum Tor zurück und legte den Riegel um. Dann öffnete er die Flügel, und die Mädchen hatten endlich freie Bahn. Joy stieß erleichtert die angehaltene Luft aus, als sich die Hunde in Bewegung setzten und vom Palastgelände trabten. Sie fielen in einen leichten Galopp, und erst als der Palast endgültig außer Sicht war, mäßigte Tamina das Tempo etwas und sah Joy an.

"Alles okay?", fragte sie. Ihre Stimme zitterte ein wenig.

"Ja", antwortete Joy und sah sie forschend an. "Bei dir?"

"Geht schon", erwiderte Tamina leise und seufzte. "Es war seltsam. So mit ihnen zu sprechen."

"Du hast das wirklich gut gemacht", entgegnete Joy und warf ihr einen beinahe neckischen Blick zu.

Die Prinzessin lachte kurz auf. "Sollte das ein Kompliment sein?"

Joy zuckte die Schultern und lächelte. Dann spornte sie Wotan plötzlich an und schoss an Tamina vorbei.

"Hey!"

Sie hörte, wie Tamina ihr folgte. Kurz darauf tauchte die schwarze Nase ihrer Hündin neben ihr auf. Lachend beugte sie sich nach vorne um noch schneller zu reiten und schmiegte sich an Wotans weiches Fell. Dieser kurze, unbefangene Moment fühlte sich gut an. Joy schloss die Augen und hob das Gesicht, ließ die schwüle Luft scharf um ihr Gesicht peitschen.

Kurz darauf kamen sie an der Brücke an und zügelten ihr Tempo. Joy sah sich unsicher um. "Hier wollte der Zentaur sich mit uns treffen, oder?"

Tamina nickte. "Lass uns weiter dem Weg folgen."

Schweigend ritten sie nebeneinander her. Die Stimmung hatte sich abrupt von unbeschwert zu angespannt gekippt.

Einige Minuten später hatten sie bereits den Goldstrom überquert, aber keine Spur von dem Zentauren gesehen. Tamina seufzte. "Das bringt doch nichts."

Joy schüttelte frustriert den Kopf. "Wir können jetzt auf keinen Fall mit leeren Händen zurückkehren. Dann wären wir keinen Schritt weiter."

"Wir sind keinen Schritt weiter", entgegnete Tamina leise.

Joy furchte die Stirn. "Hast du irgendeine Idee, wo wir hinkönnten? Irgendwelche Bekannten, die uns vielleicht weiterhelfen können?"

Tamina zögerte. Sie öffnete den Mund – und schloss ihn wieder.

"Ja?", fragte Joy hoffnungsvoll.

Das Mädchen schwieg. "Ich ... ich hätte da eine ... nein."

"Was?"

"Keine Ahnung."

"Wirklich nicht?"

"Tut mir leid." Tamina seufzte. "Wir könnten höchstens zur Dorfschule gehen, vielleicht kennt dich dort jemand ... aber nein, dann wärst du längst für vermisst gemeldet worden."

Joy schwieg, starrte verzweifelt auf ihre Hände. Plötzlich stiegen Tränen in ihre Augen. "Es kann doch nicht sein, dass wir nichts machen können", flüsterte sie erstickt.

Tamina sah sie betroffen an. Sie trieb ihre Hündin an, so nah an Joy heran zu laufen, dass sie ihr zaghaft eine Hand auf die Schulter legen konnte. "Joy."

Joy zuckte zusammen und Tamina nahm ihre Hand schnell zurück. Sie blinzelte unsicher. "Tut mir..."

"Alles gut, du ... du weißt ja, die Verletzungen."

Tamina nickte langsam und ihr Gesicht nahm kaum merklich einen erleichterten Ausdruck an. "Ach so." Sie holte tief Luft. "Komm schon, Joy. Ich glaube, das hier ist sinnlos. Es war von Anfang an vorhersehbar, dass wir hier nicht zufällig auf diesen Zentauren stoßen würden und wir hatten uns nunmal auch keinen richtigen Plan zurechtgelegt. Lass uns zum Palast zurück kehren, und dann überlegen wir uns, wie wir wirklich etwas herausfinden können. Und spätestens am Vitam kehren wir dann hierher zurück, und..." Sie verstummte.

Joy schloss die Augen und rieb sich kurz mit den Fingern die Tränen weg. "Okay", flüsterte sie.

Sie bedeutete Wotan mit einem Schenkeldruck, kehrt zu machen.

"Moment", sagte Tamina. "Vielleicht ... vielleicht kann ich dir diesmal ja wenigstens das Dorf zeigen?"

Joy blickte zurück. Dann wendete sie ihren Hund abermals, woraufhin der verwirrt mit den Ohren zuckte. "Okay. Das hört sich gut an."

Tamina trieb ihre Hündin ebenfalls wieder an und sie ritten, diesmal in einem lockeren Schritt, nebeneinander her.

"Wie heißt sie eigentlich?", fragte Joy nach einer Weile und deutete mit dem Kinn auf Taminas Reittier.

"Mohn." Tamina lächelte und beugte sich vor, um ihr liebevoll den flauschigen Hals zu kraulen. "Sie ist mein Liebling unter den Hunden am Stall. Allerdings ist sie auch schon relativ alt."

"Wirklich?", fragte Joy und betrachtete Mohn genauer. Sie war zwar tatsächlich ziemlich dünn und ihr Fell hatte einzelne gräuliche Spitzen, aber sonst sah sie ganz fit aus.

"Schau." Tamina deutete nach vorne. Der Wald hatte sich abrupt gelichtet. Vor ihnen ging es leicht bergab. Von dem Punkt, an dem sie nun standen, konnte man gut auf das Dorf, das unter ihnen lag, hinabsehen. Joy trieb Wotan an, bis an den Waldrand zu laufen, und stoppte dann. Staunend blickte sie auf die teils aus Ziegeln, teils aus Stroh bestehenden Dächer hinab. Zwischen den dicht beinander stehenden Häusern zogen sich sowohl schmale Gassen, als auch breite Straßen entlang. Etwa in der Mitte des Dorfes war ein großer, gepflasterter Platz zu erkennen, auf dem sich Menschen tummelten.

"Der Marktplatz", erklärte Tamina, die ihrem Blick gefolgt war. "Und dort liegt der Hafen." Sie hob eine Hand und deutete in eine Richtung links von ihnen. "Von hier sieht man ihn nicht wirklich, aber an der Stelle mündet der Goldstrom in das Meer. Joys Blick schweifte in Richtung Küste. Von ihrem Standpunkt war davon gerade noch ein schmaler, türkisbläulicher Streifen Wasser zu erkennen. "Ein andermal können wir sicher näher ran", versprach Tamina.

"Okay", antwortete Joy leise.

"Machen wir uns auf den Rückweg?"

Sie nickte.

Auf dem Rückweg schwiegen sie. Joy drückte sich eng an Wotans warmen Köper. Eine riesige, graue Wolke hatte sich vor die Sonne verschoben und verdunkelte den Wald.

Als sie das Palasttor erreichten, runzelte Tamina die Stirn und warf ihrer Begleiterin einen besorgten Blick zu. Als das Tor geöffnet wurde und Joy die beiden Soldaten musterte, die sich vor ihnen verbeugten, erkannte sie, warum. Diese beiden Männer waren nicht jene, die vor einer Stunde noch hier postiert gewesen waren.

Tamina stieg kurz vor dem Palast ab und Joy tat es ihr gleich. "Okay, wir...", begann sie.

"Tamina!" Die Mädchen zuckten zusammen und sahen sich suchend um. "Joy!" Marina kam auf sie zu gerauscht, ihre Augen blitzten gefährlich.

"Oh nein", murmelte Tamina kaum hörbar.

"Wo wart ihr?" Marina war vor ihnen angekommen und stützte die Hände in die Seiten.

"Wir...", begann Tamina unsicher. "Wir haben nur einen kleinen Ausritt gemacht."

"Nur einen kleinen Ausritt?", wiederholte Marina schrill. "Habt ihr eigentlich eine Ahnung, was euch dort draußen hätte passieren können?"

Joy bemerkte, dass Marinas Lippen bebten.

"Habt ihr eine Ahnung, was für Sorgen wir uns gemacht haben?"

"Wir?", wiederholte Joy.

"Ich, Joas, Ina und Riona."

Joy schluckte trocken.

"Es tut mir leid", sagte sie leise. "Ich wollte unbedingt ... irgendwas herausfinden."

"Wo wart ihr denn?", fragte Marina.

"Wir sind nur bis zum Rand des Dorfs geritten", murmelte Tamina.

"Niemand wusste, dass wir weg waren, genau wie bei unserem Ausflug", fügte Joy hinzu und sah Marina in die Augen. "Es ist nichts passiert."

"Wenigstens mir hättet ihr mir Bescheid geben können", entgegnete die blonde Frau mit bebender Stimme. "Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht."

Die Mädchen schwiegen betreten.

"Tamina!" ertönte eine weitere, tiefere Stimme. Joas kam auf sie zugeeilt, Ina und Rionas folgten ihm mit einigem Abstand. Als Joas sie erreichte, blieb er vor Tamina stehen und legte ihr die Hand auf die Schulter. Kurz dachte Joy, er würde seine Tochter wütend schütteln, dann zog er seine Pranke jedoch wieder zurück. "Alles okay?", fragte er knapp und sah ihr prüfend in die Augen. Tamina nickte und senkte den Blick.

"Wo sind sie gewesen?", keifte Ina wütend, die nun ebenfalls bei ihnen angekommen war.

"Sie haben einen Ausritt gemacht", erwiderte Marina matt.

"Was?", fragte Riona entsetzt.

"Einen Ausritt."

"Ich hab dich schon verstanden."

Inas Blick richtete sich auf Joy, und ihr Blick sprühte förmlich Funken vor Zorn.

"Hast du meine Nichte dazu angestiftet?", keifte sie. Joy erwiderte ihren Blick kalt.

"Ich habe sie zu gar nichts angestiftet."

"Sei nicht so frech", fuhr Joas sie an.

Joy ballte vor unterdrückter Wut die Fäuste. "Ich..."

"Schon gut, Joy." Marina legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter und sah die beiden Feuermagier kühl an.

"Nimmst du sie jetzt auch noch in Schutz?", fragte Joas gereizt.

"Es reicht." Riona warf ihrem Mann einen mahnenden Blick zu. Dann richtete sie die Augen auf ihre Töchter. "Was ihr getan habt, war mehr als unverantwortlich. Ich bin wirklich enttäuscht von euch." Tamina zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen und starrte auf den Boden.

"Euer Handeln wird Konsequenzen nach sich tragen", fuhr die Königin fort. "Vorerst verlange ich, dass ihr euch augenblicklich auf euer Zimmer zurückzieht."

Joy senkte ebenfalls den Blick auf ihre Füße. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Tamina ihre zitternden Hände zu Fäusten ballte. Die harten Worte ihrer Mutter schienen sie ziemlich mitzunehmen. Kaum merklich hob sie ihre eigene Hand, um Taminas Faust kurz tröstend zu berühren.

Sie bekam kaum mit, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte und sie von dem Mädchen wegschob. Stolpernd, den Blick weiterhin auf den Boden gerichtet, ließ sie sich in den Palast und in ihr Zimmer führen.

"Hey."

Joy erkannte, dass er Marina war, die sie begleitet hatte.

"Ist alles in Ordnung?"

Joy nickte knapp, den Blick weiterhin gesenkt. Ihre Gedanken schweiften zu Tamina, ihrem gequälten Gesichtsausdruck, ihren zitternden Finger. Ihr Zusammenzucken, als Riona sagte, sie sei enttäuscht von ihr. Sie fühlte sich elend. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, Tamina zu diesem bescheuerten Ausflug zu überreden? Schuldgefühle überfluteten sie und Joy schloss gequält die Augen. Sie bekam kaum noch mit, wie Marina ihr noch einmal kurz sanft über die Schulter strich, und dann das Zimmer verließ.


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Endlich! An diesem Kapitel habe ich wirklich lange gesessen, und ich bin froh, es jetzt endlich fertig geschrieben zu haben. ^^' Irgendwie hatte ich eine leichte Schreibblockade. Kennt ihr vielleicht ein paar Tricks, wie man Schreibblockaden überwinden kann? Bei mir war es jetzt eigentlich nur der Zeitdruck, da ich das Kapitel ja noch heute veröffentlichen wollte.

Yalma nimmt ja mittlerweile immer mehr Gestalt an, und ich habe jetzt auch endlich mal eine einigermaßen vernünftige Karte gezeichnet. Es ist zwar immer noch eigentlich mehr als eine Skizze, aber gut, immerhin xD

Wie dem auch sei ... ich wünsche ich noch einen schönen Tag und hoffe, dass bei euch besseres Wetter ist, als bei mir ^^

Wir lesen uns xD

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