2. Kapitel
Goldene Sonnenstrahlen schienen durch ein Fenster und erhellten einen kleinen Raum. Joys Augenlider zuckten, als das warme Licht auf ihr Gesicht fiel. Unruhig wälzte sie sich in dem Himmelbett, das direkt gegenüber des Fensters stand, umher.
In dem Zimmer befanden sich eine Kommode, ein Wandspiegel darüber, ein Tisch mit zwei Stühlen und ein roter Sessel, der verborgen im Schatten eines Schrankes stand. In diesem Sessel kauerte eine Gestalt. Eine alte Frau, die, den Kopf auf die Brust gelegt, tief und fest schlief. In ihrer Hand hielt sie einen Schlüssel, der ihren verschwitzten Fingern langsam, aber stetig entglitt. Als er auf den Boden fiel, ertönte ein lautes Klirren und beide Schlafenden zuckten zusammen. Joy öffnete die Augen und blickte sich verschlafen um. Langsam analysierte sie jeden Winkel des Raumes, in dem sie sich befand. Dann setzte sie sich auf. Sofort schoss ein heftiger, stechender Schmerz durch ihren Kopf und sie keuchte leise auf. Ihre Hand fuhr automatisch an ihre Stirn. Mit fest zusammengebissenen Zähnen tastete Joy nach einer Verletzung, fand aber nur eine Beule am Hinterkopf. Keine offenen Wunden.
Die alte Frau in dem Sessel schnarchte leise. Auf einmal setzte sie sich ruckartig auf.
Joy fuhr erschrocken zusammen, sie hatte die Gestalt in den Schatten bis jetzt nicht gesehen. Misstrauisch beobachtete sie, wie die Alte sich die Augen rieb und blinzelnd aufsah. Als sie bemerkte, dass Joy sie anstarrte, stutzte sie. "Du..." Sie räusperte sich und stand taumelnd auf. "Du bist wach?"
Joy ließ die Frau nicht aus den Augen und beobachtete, wie sie in schleppendem Gang zu dem kleinen Tisch ging, auf dem eine Reihe Fläschchen und Dosen standen.
"Ich bin Kadira. Königliche Heilerin." Sie nahm eine der Gefäße, tröpfelte ein paar Tropfen des Inhaltes in ein Wasserglas und kam zu ihr hinüber gelaufen. Joy bemerkte, dass die Frau hinkte. "Hier. Trink das. Das ist ein Schmerzmittel, es wird dir helfen."
Joy nahm das Glas entgegen und betrachtete es misstrauisch.
"Nun mach schon, schluck es einfach", knurrte Kadira ungeduldig. Joy setzte das Glas an die Lippen und ließ die Frau während des Trinkens nicht aus den Augen. Schließlich reichte sie ihr das Gefäß wieder zurück.
"Na also", brummte Kadira und musterte Joy aufmerksam. Diese erwiderte den Blick stumm. "Bist wohl nicht sehr gesprächig, was?", stellte die Frau amüsiert fest und verzog die faltigen Lippen zu einem dünnen Grinsen.
Joy rührte sich nicht. In ihrem Kopf arbeitete es. Sie versuchte, sich zu erinnern, wie sie in diesen Raum gelangt war. Versuchte sich an irgendetwas zu erinnern. Doch ihr Kopf schmerzte so sehr, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. "Also schön. Wie heißt du, Mädchen? Und woher kommst du?", fragte Kadira. Joy schluckte und versuchte angestrengt, in ihrem Kopf eine Antwort für die Fragen der Alten zu finden.
"Ich glaube", flüsterte sie heiser. "Ich glaube, mein Name ist Joy. Aber ... sonst kann ich mich an nichts erinnern. Nichts." Wieder griff sie sich an den Kopf und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Kadira runzelte die Stirn.
"Du hast dich am Hinterkopf gestoßen und bist vermutlich deshalb noch ziemlich benommen."
Joy schüttelte verzweifelt den Kopf. "Ich kann mich an nichts mehr erinnern", wiederholte sie.
Kadira betrachtete Joy nachdenklich und besorgt. Nach einer Weile trat sie von ihrem Bett zurück und hinkte zu Tür. "Ich bin gleich wieder da." Mit diesen Worten verschwand sie durch die Tür und ließ Joy alleine zurück.
Das Mädchen blickte der fremden Heilerin nach. Angst ballte sich in ihrem Magen zusammen. Sie kickte die blütenweiße Bettdecke beiseite und streckte vorsichtig ihre steifen Glieder. Dann schwang sie beide Beine aus dem Bett und stand auf. Als sie die ersten Schritte versuchte, begann Joy etwas zu schwanken, doch sie schaffte es stolpernd bis zur anderen Raumseite und klammerte sich dort an der Kommode fest. Als sie das große, gewölbte Fenster öffnete, schlug ihr sofort warmer Sommerwind entgegen. Erleichtert atmete Joy die frische Luft ein und genoss das Gefühl des Windes in ihren Haaren. Endlich fühlte sie sich etwas weniger benommen.
Ihr Blick glitt staunend über den Anblick, der sich ihr bot. Sie befand sich in einem riesigen, atemberaubenden Palast. Vor ihr tat sich ein eindrucksvoller Hof auf. Wilde Gärten, vornehme Brücken, große Ställe, und dichter Wald erstreckte sich hinter alldem.
Seufzend legte Joy die Wange an das kühle Glas des Fensters und genoss für einen Moment die unglaubliche Aussicht. Dann riss sie sich zusammen und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Die Frage, wo sie war, hatte sich nun halbwegs geklärt. Allerdings beantwortete das nicht, was sie hier tat, warum sie hier war, wie sie hierher gekommen war, und vor allem: wer sie war. Wieder begann Joys Kopf zu pochen und sie hielt sich hilfesuchend an dem Fenster fest. Vor ihrem Sichtfeld tauchten dunkle Sterne auf und sie biss gequält die Zähne aufeinander. Einige Sekunden stand sie verkrampft und blind da, dann beruhigte sich Joys Kreislauf wieder und sie taumelte erleichtert zu ihrem Bett zurück. Gerade, als sie erschöpft in die weichen Kissen sank, wurde die Zimmertür wieder aufgestoßen und eine Frau betrat gemeinsam mit der fremden Heilerin den Raum.
"Joy?" Kadira musterte sie besorgt. "Ist alles in Ordnung? Bist du aufgestanden?" Joy zuckte zur Antwort die Schultern und nickte kraftlos zu dem geöffneten Fenster. Die Lippen der Heilerin bildeten einen missbilligenden Strich. Doch sie ging nicht weiter darauf ein und deutete ein respektvolles Nicken in Richtung der Fremden an.
"Joy, ich möchte dir jemanden vorstellen. Das ist Marina Svea, Mitglied des Königlichen Rates und Schwester des ehemaligen Throngefährten."
Die Frau lächelte amüsiert und blickte Joy aus freundlichen, meerblauen Augen an. "Es reicht, wenn du mich nur Marina nennst."
Joy starrte Marina an und runzelte die Stirn. Diese Augen kamen ihr bekannt vor. Sehr sogar.
Ihr Blick schweifte nachdenklich zu dem Wandspiegel, der über der Kommode hang. Als sie ihr eigenes Spiegelbild musterte, zuckte sie zusammen. Darum kamen Marinas Augen ihr so bekannt vor! Ihre Farbe sah der Joys Iris zum Verwechseln ähnlich.
Immer wieder huschte ihr Blick ungläubig zwischen der Frau und ihrem Spiegelbild hin und her. Schließlich räusperte sich Marina vernehmlich. "Ähm ... Joy. Das ist doch dein Name, oder? Nun – ich habe, wie du sicher verstehen wirst, einige Fragen an dich. Erinnerst du dich..." Sie betrachtete Joy eindringlich und stockte plötzlich. Sprachlos starrte sie dem Mädchen vor sich in die Augen. Kadira blickte ihre Begleiterin abwartend an und runzelte die Stirn.
"Ist alles in Ordnung mit Euch? Ihr seht so blass aus."
Marina deutete mit zitterndem Finger auf Joy. "Ihre Augen, Kadira. Sieh dir ihre Augen an."
Die Heilerin musterte Joy. Auf einmal versteinerte ihr Gesicht. "Ihr ... Ihr habt Recht. Wie konnte mir das nicht auffallen?" Sie trat näher an das Bett und näherte ihr Gesicht dem Joys. Die zuckte zurück und schüttelte verwirrt den Kopf. Sie verstand das seltsame Verhalten der beiden Frauen nicht.
"Was ist mit meinen Augen?", fragte sie.
"Nichts", antwortete Kadira, ohne zu zögern, und trat mit gesenktem Blick einen Schritt zurück.
"Nichts?", wiederholte Joy in leicht gereiztem Tonfall. "Erwartet Ihr wirklich, dass ich Euch das abnehme?"
Kadira warf ihrer Begleiterin einen hilfesuchenden Blick zu. Diese seufzte leise und schritt näher an das Bett heran. Jetzt erst bemerkte Joy, dass Marina eine ziemlich kleine Frau war. Sie war kaum größer als sie selbst, obwohl sie sie auf mindestens dreißig Jahre schätzte. Aus der Nähe betrachtet, fielen Joy auch die tiefen, freundlichen Grübchen, die hohen Wangenknochen, die runden Konturen und die glatte Haut Marinas Gesichtes auf, das von kurzen, blonden Locken umrahmt wurde. Außerdem hatte sie einen äußerst ungewöhnlichen Kleidungsstil. Sie trug ein flauschiges, dunkelrotes Strickkleid und um ihren Hals baumelte ein langer, schwarzer Schal. Als die kleine Frau sich mit nachdenklich gerunzelter Stirn neben Joy auf das Bett fallen ließ, wehte der betörende Duft von Rosen zu ihr hinüber.
"Weißt du", begann Marina langsam, "warum du hier bist?"
Joy schüttelte den Kopf.
"Aber du weißt, wo du bist?"
Das Mädchen zögerte. "Ich ... ich glaube, ich befinde mich in einem Palast. Oder in einem Schloss."
Marina nickte langsam. "Du hast recht. Du befindest dich in dem Palast der Königin Yalmas."
Joy runzelte fragend die Stirn. "Das sagt mir nichts." Nach einer Pause fuhr sie mit zitternder Stimme fort. "Ich ... ich glaube, ich habe mein Gedächtnis verloren. Ich kann mich an nichts mehr erinnern. An nichts, außer meinen Namen. In meinem Kopf herrschen nur ... Leere und Schwärze." Angst kribbelte in ihrem Bauch, als ihr bewusst wurde, dass es genau so war, wie sie gesagt hatte.
Marina blinzelte schockiert. "Du hast kein Gedächtnis mehr?"
Joy senkte zur Bestätigung stumm den Blick auf ihre dreckigen Fingernägel.
"Das ist keine gute Nachricht", seufzte Marina. "Das macht alles nur noch komplizierter."
Eine Weile sagte sie nichts mehr und betretenes Schweigen hing im Raum. Geduldig wartete Joy, in fester Überzeugung, jeden Moment wenigstens den Ansatz einer Erklärung für das seltsame Verhalten der Frauen zu erhalten. Doch schließlich stand Marina nur stumm auf und lief auf die Tür zu. "Es tut mir leid, Joy, aber ich muss wieder gehen. Ich verspreche, dass ich bald zurückkomme. Bis dahin – verlass auf keinen Fall diesen Raum." Ihre meerblauen Augen durchbohrten Joy eindringlich. "Du darfst diesen Raum nicht verlassen, Joy, hast du das verstanden?"
Joy erwiderte Marinas Blick fassungslos. Sie konnte nicht glauben, dass diese ohne ein Wort der Erklärung wieder ging.
"Ja, ich habe verstanden. Nicht verstanden habe ich, warum." Flehentlich blickte sie die junge Frau an. "Ich bitte Euch, ich habe tausende Fragen. Beantwortet mir wenigstens eine Einzige."
Doch Marina hatte sich bereits abgewandt und griff nach dem hölzernen Türknauf. "Es tut mir leid, Joy. Ich verspreche, ich komme bald zurück. Kadira, würdest du mich bitte kurz begleiten?" Die Heilerin nickte gehorsam. Deprimiert beobachtete Joy, wie die beiden Frauen den Raum verließen und die hölzerne Tür knarrend hinter sich zuzogen. Sie selbst blieb verwirrt und aufgewühlt zurück.
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