19. Kapitel

Joy saß vor ihrem Wasserglas und hielt eine Hand darüber. Konzentriert krümmte sie den Zeigefinger. Eine kleine Wasserblase erhob sich aus dem Glas und schwebte auf sie zu. Joy lächelte und dirigierte die Kugel auf sich zu, bis sie nur noch Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt war. Dann beugte sie sich vor und schnappte das Wasser mit dem Mund aus der Luft. 

Den ganzen Tag, seit sie von dem Soldat zurück auf ihr Zimmer gebracht wurde, hatte Joy damit verbracht, ihre Wassermagie zu trainieren. Inzwischen schaffte sie es gut, kleine Mengen Wasser zu formen und zu bewegen. Meistens zumindest. Joy ließ eine weitere Kugel in die Höhe schweben. Diesmal platzte sie allerdings direkt vor ihrem Gesicht. Joy leckte sich das Wasser von den Lippen und trocknete ihr Gesicht mit dem Ärmel ab. Dann setzte sie das Glas an den Mund und trank den letzten Schluck aus. 

Ihre Gedanken wanderten nicht das erste Mal in den letzten Stunden zu Quirin Dalibor, dem Mann, der sie angegriffen hatte. Der Mann, der sie vermutlich im Auftrag von jemandem angegriffen hatte. Das vermutete zumindest Marina, die sie am Morgen besucht hatte. Sie hatte auch erzählt, dass man versuchte dem Mann zu entlocken, aus welchem Antrieb er gehandelt hatte, sie bisher aber noch nicht viel erreicht hatten. 

Joy starrte nachdenklich vor sich hin. Der Drang in ihr, herauszufinden, wer sie versuchte umzubringen, wurde immer größer. Sie stand auf. Diesmal schmerzte die Bewegung kaum mehr. Ihre Verletzungen hatten drei Tage Zeit gehabt, um zu heilen. Das musste vorerst reichen, beschloss sie. Sie konnte nicht länger warten. Sie musste einfach herausfinden, was all die seltsamen Geschehnisse um sie herum bedeuteten. Sie blickte an sich hinab. Sie trug ein einfaches, grünes Kleid, wie immer bodenlang, das sie sich am Morgen übergestreift hatte. Entschlossen ging sie auf die Tür zu und legte eine Hand auf den Knauf. Im selben Moment schwang sie ihr entgegen. Joy stolperte zurück. 

"Joy." Tamina sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an. "Wohin des Weges?"

Joy presste frustriert die Lippen aufeinander. Ihr Blick glitt zu Argon, der hinter Tamina stand. 

"Guten Morgen." Der Mann lächelte und trat vor. "Ich wollte dir endlich mal einen kleinen Besuch abstatten, und mich nach deinem Befinden erkundigen. Wie ich höre, hast du dir nach unserem letzten Treffen gleich ein paar weitere Wunden zugefügt?"

Joy lächelte gequält und nickte. "Das stimmt." Sie trat zurück, um die beiden hereinzulassen. Ihr kleiner 'Ausflug' würde wohl warten müssen. Doch Argon winkte ab. 

"Tut mir leid, aber so viel Zeit habe ich erhlich gesagt garnicht. In ein paar Minuten beginnt eine Sitzung des königlichen Rates."

"Oh ... okay."

"Dir scheint es ja immerhin mittlerweile gut genug zu gehen, um stehen zu können", bemerkte Argon mit einem freundlichen Lächeln. Sein Blick schweifte hinter Joy in ihr Zimmer. 

Joy nickte unsicher. "Ja, das stimmt. Mir geht es eigentlich wieder ganz gut."

"Das ist schön zu hören." Argon sah sie wieder an und neigte höflich den Kopf. "Tut mir leid, aber ich muss jetzt wieder gehen. Bis bald."

"Bis bald", erwiderte Joy und sah dem jungen Mann nach, wie er davonging.

"Joy." Als Argon weg war, sah Tamina sah sie mit gehobenen Brauen an. "Wo wolltest du eben hin?"

"Ich..." Joy biss sich auf die Lippe. "Ich kann einfach nicht länger hier rumsitzen und ... und nichts tun. Mein Kopf ist voller Fragen. Wer ich bin, warum ich alle paar Stunden fast sterbe..."

"Und wo genau wolltest du hin?"

Joy zuckte unsicher die Schultern. "Das weiß ich nicht so genau", gestand sie. "Raus. In den Wald. Dorthin, wo die Bedrohung herkommt?"

"Wie kommst du darauf, dass die Bedrohung aus dem Wald kommt?" Tamina trat über die Türschwelle und schloss die Tür hinter sich.

"So habe ich das nicht gemeint. Ich ... ich habe keine Ahnung, woher die Bedrohung kommt, das ist ja das Problem. Aber ich will es herausfinden."

"Okay."

Joy sah Tamina unsicher an. "Okay?"

"Ja. Ich helfe dir."

"Oh." Joy blinzelte. Damit hatte sie nicht gerechnet. 

"Trotzdem fände ich es besser, du würdest dich noch eine Weile ausruhen." Tamina runzelte besorgt die Stirn. "Du bist so furchtbar blass und..."

"Ich kann nicht länger warten." Joy schüttelte verzweifelt den Kopf. 

"Wir wäre es mit einem Kompromiss? Du versprichst mir, jetzt sofort ein Bad zu nehmen und später etwas Ordentliches zu essen, und dann überlegen wir uns gemeinsam einen Plan." Tamina lächelte hoffnungsvoll.

"Okay", stimmte Joy nach kurzem Zögern zu. Sie öffnete die Zimmertür wieder und durchquerte den Flur zum Badezimmer. Bevor sie den Raum betrat, sah sie sich noch einmal über die Schulter um. "Danke."

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"Wir könnten zu dem Punkt gehen, an dem wir den Zentauren das letzte Mal getroffen haben", schlug Joy eine Stunde später vor. Tamina zögerte.

"Ich weiß nicht. Was, wenn wir wieder angegriffen werden?" 

"Wenn wir niemandem von unserem Vorhaben erzählen, so wie..." Joy stockte. Beinahe hätte sie Tamina von ihrem Ausflug mit Marina erzählt. "Ich meine ... wenn wir niemandem von unserem Vorhaben erzählen, ist es sehr unwahrscheinlich, dass der Feind mitbekommt, dass wir den Palast verlassen." 

Tamina runzelte skeptisch die Stirn. "Aber ... was, wenn er uns trotzdem sieht?" 

Joy schwieg. "Das ist wohl das Risiko dabei", sagte sie schließlich leise.

"Es könnte auch gut sein, dass wir den Zentauren garnicht finden", gab Tamina zu bedenken.

"Vielleicht. Aber dann haben wir es wenigstens versucht."

Tamina sah Joy lange an. "Also schön", seufzte sie schließlich. "Ich werde uns unauffällig zwei Hunde herrichten lassen."

"Danke. Könnte ich ... könnte ich Wotan haben? Ihn kenne ich schon." 

"Wotan?", wiederholte Tamina und hob eine Braue. "Woher kennst du ihn denn?" 

Joy zögerte. Verdammt. Warum hatte sie nicht einfach den Mund halten können? Andererseits war Tamina ... ihre Freundin. Ja, das war sie. Und ihr könnte sie sicher von ihrem Ausflug mit Marina erzählen. "Ich habe letztens einen kleinen Ausritt gemacht, mit Marina", gestand sie leise. "An den Ort, an dem ich mein Gedächtnis verloren habe." Taminas Augen wurden groß.

"Und? Habt ihr etwas gefunden?"

Joy nickte. "Ein Messer, das am Ufer des Flusses lag. Und ein Bündel Kräuter, das vermutlich mein Gedächtnis ausgelöscht hat. Angeblich stammt es aus dem Westen Yalmas, von dort, wo die Verbrecher leben. So wie der Mann der mich in der Nacht versucht hat umzubringen..." Joy verstummte. Taminas Augen waren nun beinahe so rund wie Untertassen. 

"Warum hast du mir nichts davon erzählt?", fragte sie. Joy schwieg betreten. "Das ist eine extrem wertvolle Information", flüsterte das rothaarige Mädchen. Mit einem Blick auf Joy fügte sie hinzu: "Und macht das ganze Unterfangen nur noch gefährlicher."

"Tamina...", setzte Joy an, doch die hob die Hand.

"Schon gut. Ich werde jetzt gehen und die Hunde holen. Wir treffen uns am Palasttor. Falls du nicht kommen kannst, weil du von einem Soldaten aufgehalten wirst, geh zurück in dein Zimmer. Wenn ich merke, dass du nicht kommst, komme ich zurück und hole dich ab."

Joy nickte dankbar. Unwillkürlich trat sie einen Schritt auf Tamina zu und umarmte sie. Ihre Halbschwester erstarrte für einen Moment und stand steif und unbeholfen da. Dann entspannte sie sich ein wenig. Als Joy zurücktrat, blinzelte sie verlegen. 

"Okay ... ich gehe dann jetzt los." Joy nickte und wartete, bis Tamina den Raum verlassen hatte. Dann ließ sie sich auf einen Stuhl neben dem kleinen Tischchen sinken. 

Ihr Blick schweifte durch den Raum. Da bemerkte sie ein kurzes Aufblitzen unter ihrem Bett, als ein Sonnenstrahl vom Fenster auf etwas fiel. Sie runzelte die Stirn und stand wieder auf, um sich vor das Bett zu knien. Als sie sich bückte und den Blick über den Boden schweifen ließ, blitzte erneut Metall auf. Joy streckte die Hand aus und tastete vorsichtig nach dem Gegenstand. Sie spürte eine scharfe Kante, dann Holz. Als sie das Ding zu fassen bekam, zog sie es unter dem Bett hervor. Kühl und locker lag es in ihrer Hand. Das Messer. Ihr Messer. Es musste bei ihrem Kampf wohl unter das Bett gerutscht sein. Joy zögerte. Dann lief sie zu ihrem Schrank und öffnete ihn. Sie schob die langen, edlen Kleider beiseite, die auf den Bügeln hingen und bückte sich zu dem braungrauen Bündel, das noch immer auf dem Schrankboden lag. Vorsichtig wickelte sie es auseinander und betrachtete es genauer. Die Kleidungsstücke waren aus dünnem, aber robustem Stoff gefertigt. Die Hose hatte am Knie einen Riss. Der Gürtel war aus festem, schmalem Leder, daran reihten sich viele kleine Schlaufen aneinander. An einer von ihnen war eine leere Wasserflasche befestigt, an einer ein Stück Seil, ein winziger Spiegel, ein schwarzer Stein. Joy legte die Sachen zurück und platzierte sie sorgfältig hinter den langen Röcken. Ein letztes Mal strich sie mit den Fingern sanft darüber, dann schloss sie die Tür und stand auf. Das Messer hielt sie immer noch in den Händen. Nachdenklich drehte sie es hin und her. Ihr Blick fiel auf ihre Stiefel und sie bückte sich, um die Waffe probeweise in den Schuh zu schieben. Sie passte perfekt hinein, und drückte kaum. Zufrieden erhob Joy sich wieder und sah zur Tür. Es wurde Zeit, dass sie losging.

Als Joy hinaus auf den Gang trat, war alles still. Leise schlich sie sich in die selbe Richtung wie am Vortag. Schon an der ersten Kreuzung schreckte sie zurück, weil etwa zehn Meter entfernt zwei Soldaten standen. Glücklicherweise sahen sie nicht in ihre Richtung. Joy überlegte, ob sie es über die Kreuzung schaffen würde, bevor die beiden sie bemerkten. Da hörte sie eine Stimme und zuckte zusammen. 

"Hey!" 

Sie sah sich hastig um und entdeckte den dritten Soldaten, der glücklicherweise nicht aus ihrer Richtung kam, und sie nicht sehen konnte. 

"Kommt mal hier rüber", forderte der Mann die beiden anderen schroff auf. Joy konnte ihr Glück kaum glauben, als sich die drei in Bewegung setzten und aus ihrem Sichtfeld verschwanden. Hastig ging sie weiter auf den Ausgang zu.

Wie am Vortag war auch wieder ein Wachmann am Steinbogen, der zum Garten führte, postiert. Joy beobachtete den Mann hinter einer Ecke verborgen und überlegte frustriert, wie sie an ihm vorbeikommen sollte. Ihr Blick schweifte zu einem Brunnen, der nicht weit entfernt neben einem Blumenbeet dahinplätscherte. Bei dem Anblick begannen ihre Finger zu kribbeln.  Joy bewegte sie automatisch und blinzelte überrascht, als das etwa fünfzehn Meter entfernte Wasser als Reaktion darauf übersprudelte. Bildete sie sich das ein, oder war ihre Wassermagie stärker geworden? Sie bewegte erneut einen Finger auf und ab, und Wasser spritzte vom Brunnen auf. Der Soldat runzelte die Stirn und wandte sich um, um das seltsame, platschende Geräusch ausfindig zu machen. Joy hielt die Luft an. Das war es! So konnte sie den Mann von ihr ablenken.

Sie hob beide Hände und richtete die Fingerspitzen auf den Brunnen. Joy spürte, wie sich die Magie in ihnen ansammelte und schloss die Augen. Angestrengt biss sie die Zähne zusammen, saugte die Wassermagie in ihre Händen auf. Dann hob sie die Lider wieder. Mit klopfendem Herzen richtete sie die Finger auf den Brunnen. Als sie die Magie darin losließ, spritzte Wasser auf, und hagelte in der Umgebung auf den Boden. Der Wachmann fluchte überrascht und stolperte zurück. Schützend hielt er die Arme vor das Gesicht und wandte sich ab. In dem Moment huschte Joy hinter ihrer Wand hervor, eilte durch das Steintor und verbarg sich hinter der nächstbesten Hecke. Als der Mann sich wieder aufrichtete und verwirrt umsah, flüchtete sie bereits im Schutz der Sträucher davon. 


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Und Kapitel 19! Tja, jetzt hat Joy es doch noch aus dem Palast geschafft xD Was haltet ihr eigentlich von der Wassermagie? Falls Joy sich in diesem Gebiet irgendwie zu schnell entwickeln sollte oder irgendetwas unlogisch ist, sagt mir bitte Bescheid, ich bin froh, wenn ich ein paar Einschätzungen dazu bekomme. ^^

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