17. Kapitel

Es war dunkel. Joy war sich nicht sicher, ob sie träumte oder wach war. Sie lag in ihrem Bett, ein seltsames, pfeifendes Geräusch drang zu ihrem Ohr. Plötzlich blitzten Augen in der Dunkelheit auf. Joy unterdrückte einen Schrei. Sie spürte, wie sich ihr Nachthemd an ihren verschwitzten Körper klebte. Ihr Herz begann zu rasen. Als ihr diese Reaktion ihres Körpers bewusst wurde, erstarrte sie. Das hier war kein Traum. Es war echt. Hastig suchte sie in der Dunkelheit nach den Augen. Sie mussten Einbildung gewesen sein. Vielleicht Teil eines Traumes, aus dem sie gerade erst erwacht war. Oder... Joy spürte, wie Gänsehaut ihren Rücken hinunter lief. Gleichzeitig begannen sich ihre Augen langsam an die Finsternis zu gewöhnen. Da! Eine Bewegung. Im nächsten Moment entfuhr Joy ein erstickter Schreckenslaut, als etwas kaltes, glattes sich an ihre Kehle legte. Direkt vor ihr schwebte ein fremdes Augenpaar. Milchige, von roten Adern durchzogene Augen mit braunen Iriden, die unruhig hin und her zuckten. Für einen Moment war Joy starr vor Schreck. Die Situation kam ihr so unwirklich vor. Vor wenigen Stunden erst war sie, nachdem sie den restlichen Nachmittag in Geschichte Yalmas gelesen hatte, eingeschlafen. Und nun wachte sie plötzlich mitten in der Nacht auf und eine fremde Person befand sich in ihrem Zimmer. Panisch schielte Joy zu dem blitzenden Metall an ihrem Hals hinunter. Ein Messer. Entsetzen ballte sich in ihrem Magen zusammen und sie begann zu zittern.

Bitte, flehten ihre Lippen, doch kein Ton entwich ihnen. Verzweifelt ballte Joy ihre Fäuste, während ihr das Herz aus der Brust zu springen drohte. Ihr Blick wanderte für einen Moment zu dem Nachttisch. Dort drinnen, in einer Schublade, lag das Messer, das sie mit Marina im Wald gefunden hatte. Wie viel Zeit blieb ihr noch, bis die Klinge an ihrem Hals ihre Halsschlagader durchschneiden würde? Wie viel Zeit blieb ihr noch, um zu handeln? Joy spürte, wie sich Tränen der Verzweiflung aus ihren Augenwinkeln lösten und biss die Zähne fest zusammen. Blinzelnd versuchte sie, den Umriss der Gestalt vor sich genauer auszumachen. Als ihre Faust vorschnellte und den Hals des Angreifers mit voller Wucht traf, spürte sie, wie sich das kühle Metall von ihrem Hals löste. Kurz allerdings strich es noch an ihrem Kinn vorbei und Joy spürte, wie es in ihre Haut schnitt. Dann war ein Scheppern zu hören, als die Waffe auf den Boden fiel. Joy sprang auf, riss die Schublade ihres Nachttisches auf und zog ihr Messer daraus hervor. Mit ihrer ruckartigen Bewegung riss sie das Tischlein allerdings vollständig um. Nur knapp konnte sie sich Sprung aus der Bahn retten, als es krachend zu Boden fiel. 

Im nächsten Moment wurde ihr auch schon die Luft aus den Lungen gepresst. Ein Arm hatte sich fest und unnachgiebig um ihren Hals geschlungen, und drückte zu. Joy röchelte. Ihr Griff um das Messer verfestigte sich. Als sie ihren Kopf zurückwarf, hörte sie mit Befriedigung einen erstickten Schrei. Der Würgegriff löste sich und sie wirbelte herum. Ihr Angreifer stand vor ihr. Sein Kopf war gesenkt, seine breiten, muskulösen Schultern bebten. Als sein Blick sich langsam hob, lag abgrundtiefer, hasserfüllter Zorn in seinen Augen. Joy wich zurück. Das war's, dachte sie entsetzt. Sie hatte keine Chance gegen diesen Mann. Sie konnte nur noch eines tun. Joy öffnete ihren Mund und schrie aus voller Kehle. Im nächsten Moment traf sie eine Faust ins Gesicht, dann in den Magen. Schützend hielt sie die Messerhand vor sich. Beim nächsten Schlag ging sie in die Knie. Dann verlor sie das Bewusstsein.

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Joy öffnete die Augen. Als sie in das jähe Licht blinzelte, zuckte sie zusammen. Ein höllischer Schmerz fuhr durch ihre Glieder. Ein Schatten fiel über sie und Joy spannte sich an. 

"Werde ich dich jetzt jeden Tag behandeln müssen?", erklang Kadiras kratzige, leicht spöttische Stimme. Die alte Heilerin hielt ihr ein Glas Wasser hin. "Hier. Schmerzmittel." 

Joys Schultern sackten erleichtert herab. Mit zitternden Fingern griff sie nach dem Glas und stürzte die Flüssigkeit herunter. 

"Was ist passiert?", krächzte sie. 

"Du wurdest angegriffen", antwortete Kadira knapp. 

"Ich weiß. Aber ... was ist geschehen, nachdem ich das Bewusstsein verloren habe?"

"Die Wachen haben den Lärm in deinem Zimmer gehört und waren beunruhigt. Von Riona hatten sie eingeschärft bekommen, besonders gut auf dich aufzupassen, deshalb haben sie sofort nachgesehen, was los ist. Sie konnten den Mann überwältigen."

"Wer war er?", flüsterte Joy schwach.

Kadira wich ihrem Blick aus. "Ich bin mir nicht sicher ob mir gestattet ist, dir das zu erzählen."

"Fängt das jetzt schon wieder an?", fragte Joy verärgert. "Sag mir, wer mich angegriffen hat!" Sie zuckte zusammen, als sie eine erneute Schmerzwelle überrollte. "Ich befehle es dir, als Tochter der Königin", fügte sie nach einer Pause hinzu und sah Kadira so scharf sie konnte an. Die hob eine Braue. Dann grinste sie, sodass ihre schiefen, gelben Zähne aufblitzten. 

"Schon gut, Kleine." 

Joy beobachtete die Heilerin skeptisch, überrascht von derem plötzlichen Stimmungswandel. Kadira nahm ihr das Glas ab und stellte es auf den Tisch auf der anderen Seite des Zimmers. Plötzlich fühlte sich Joy stark an ihr Erwachen nach ihrem Gedächtnisverlust erinnert. Für einen Moment überkam sie eine schreckliche Angst, sie könnte erneut ihre wenigen neuen Erinnerungen verloren haben, doch dann sah sie Tamina, Marina, Riona, Joas, Ina, Argon, Rayllyn und die anderen Personen, die sie in den letzten Tagen kennengelernt hatte, vor sich und beruhigte sich wieder etwas. "Also, wer war es nun?", fragte sie. "Und was ist mit ihm geschehen?"

"Ein Verbannter", antwortete Kadira. "Er wurde gefangen genommen."

Joy starrte Kadira fassungslos an. "Du meinst, ein verbannter ... Verbrecher? Aus dem Westen?" Kadira nickte. 

"Quirin Dalibor", sagte eine Stimme hinter ihnen. Marina und Riona standen nebeneinander im Türrahmen. Es war ein seltsamer Anblick. Marina mit ihren kurzen, blonden Locken, dem wuscheligen Schal und dem außergewöhnlichen, flippigen Wollkleid, und die Königin mit ihren langen, dunklen Haaren, den ernsten Gesichtszügen und dem edlen, seidenen Kleid. "Quirin wurde für versuchten Mord verbannt. Er bedrohte und verletzte seinen Nachbar mit dem Messer, bis ein Freund, der diesen zufällig gerade besuchen kam, in letzter Sekunde einschritt. Wie sich herausstellte, war das nicht Quirins erste Gewalttat", erklärte die Königin.

Joy dachte an das zurück, was sie von dem Verbrecher gesehen hatte. Bei dem Gedanken an seine milchigen, blutunterlaufenen Augen erschauderte sie. 

"Wie geht es dir?", fragte Marina besorgt. Joy versuchte sich aufzusetzen, doch Kadira drückte sie zurück in ihr Bett.

"Bist du verrückt? Willst du meine ganze Arbeit gleich wieder kaputt machen?", fragte sie verärgert. Joy biss vor Schmerz die Zähne zusammen, als ihre Schultern wieder auf der Matratze aufkamen. Sie spürte Rionas Blick, in dem Furcht und Entsetzen lagen.

"Ist es sehr schlimm?", fragte die Königin an ihre Heilerin gewandt. 

"Nicht ganz so schlimm, wie es aussieht", entgegnete Kadira knapp. "In ein paar Tagen wird das Mädchen wieder laufen können. Spätestens am Vitam sollte es einigermaßen fit sein."

Riona nickte, ihre Stirn war immer noch besorgt gefurcht. Zögernd trat sie zu Joy ans Bett. Ihre klaren, meerblauen Augen blickten sie stumm an. Joy erwiderte den Blick, starrte in die tiefblauen Kreise, die anders als sonst voller Emotionen schimmerten. Kadira trat zurück und verließ zusammen mit Marina leise das Zimmer. Joy bekam es kaum mit. Sie spürte, wie Riona vorsichtig nach ihrer Hand griff. Ihre Finger waren kühl und zart, so wie Taminas. 

"Ophira", flüsterte Riona kaum hörbar. Joy versteifte sich ein wenig. 

"Joy. Nenn mich Joy, bitte."

"Joy. Meine Tochter." Joy beobachtete, wie Tränen in die Augen ihrer angeblichen Mutter traten. "Ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr, ich..." Sie schloss die Augen, doch Joy wandte den Blick immer noch nicht ab. Dunkle, lange Wimpern. So wie ihre. Auch die vollen Lippen, die nun zu zittern begonnen hatten, musste Joy von ihrer Mutter geerbt haben. Als hätte Riona ihre Gedanken gelesen, öffnete sie die Augen wieder und sagte leise: "Deine Nase, dein Kinn, deine Wangenknochen, deine Haare ... du bist Nereus so unglaublich ähnlich." Sie lächelte kurz, dann strich sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel und schüttelte den Kopf. "Als ich von dem Angriff hörte ... da hatte ich so eine Angst um dich", flüsterte sie, und wieder perlte salziges Wasser über ihre Wange. "Ich ... ich fürchtete, dass ich dich ein zweites Mal verlieren würde." Sie schloss erneut die Augen und ein Schluchzen kam über ihre Lippen. Nun begann ihr ganzer Körper zu beben. Joy spürte, wie ihre Augen ebenfalls glasig wurden, hilflos drückte sie Rionas Hand. "Ich liebe dich Joy", flüsterte Riona wieder, es war beinahe ein Wimmern. Und dann beugte sie sich plötzlich vor, platzierte ihre Hände ganz vorsichtig unter den Schultern ihrer Tochter und legte die Wange an ihre. Joy spürte, wie ihr ihre braunen, weichen Locken ins Gesicht fielen. Wärme durchströmte sie von Kopf bis Fuß. Nun begann sie ebenfalls zu zittern. Sie schloss die Augen und atmete den zarten, frischen Duft ihrer Mutter ein. So kauerten sie eine Weile stumm da. Joy spürte Rionas Wange warm und weich an ihrer, ihre Finger zärtlich und stützend an ihrem Rücken. Ihre Finger krallten sich in ihre Decke, in der Angst, die Umarmung könnte enden. In der Angst, dieses Gefühl der Geborgenheit könnte verschwinden. Und in diesem Moment wusste sie es. Sie wusste, dass Riona tatsächlich ihre leibliche Mutter war. 

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Eine Stunde später lag Joy immer noch bewegungslos in ihrem Bett. Riona war längst gegangen, doch sie hatte sich keinen Millimeter bewegt. Stumm starrte sie an die Decke. Versuchte zu begreifen, was geschehen war. Noch immer prickelte ihre Wange, dort wo ihre Mutter sie berührt hatte, warm. Ich liebe dich, hallte es in ihrem Kopf nach. Riona liebte sie. Sie war ihre Tochter. Vor ihrem inneren Auge sah Joy das Gemälde mit dem jungen Mann, das sie mit Tamina betrachtet hatte. Ihr Vater. Deine Nase, dein Kinn, deine Wangenknochen, deine Haare ... du bist Nereus so unglaublich ähnlich. Nereus. Ihr Vater. Auch ihre Augen hatte sie von ihm – und Riona – geerbt. Und damit die Wassermagie. Joy hob einen Arm. Augenblicklich schoss Schmerz durch ihren gesamten Körper und sie ließ ihn schwach zurückfallen. Ophira. War das ihr Name? Er fühlte sich seltsam an, nicht richtig. Joy. Das war ihr Name, so hatte man sie in ihrer Vergangenheit genannt. So hatte die Stimme, Nahuel, sie in dem Ausschnitt ihrer Erinnerung genannt.

Joy seufzte erschöpft. Sie fühlte sich unglaublich müde und schlapp, doch vor dem Fenster ihres Zimmers zog gerade einmal die Mittagssonne heran. Joy drehte den Kopf und betrachtete das Buch, das immer noch auf ihrem Nachttisch lag. Als sie einen Arm ausstreckte und es in die Hand nahm, stellte sie fest, dass die Seiten jetzt ein paar Knicke hatten. Vermutlich war es vom Tisch gefallen als sie in ihrer Hast nach dem Messer gegriffen hatte. Das Messer... Joy suchte die Holzfläche neben sich ab. Die Waffe war nichtmehr da. 

Mit steifen Fingern schlug sie das Buch auf. Die Kapitel "Entstehung Yalmas", "Gesellschaft" und "Religion" hatte sie schon durch. Als nächstes folgte "Geografie und Klima". Joy rutschte ein Stück hoch und lehnte ihren Kopf an die Wand. Dann wandte sie sich dem Text zu. Als sie ihren Blick auf die Buchstaben richtete, stockte sie. Sie konnte lesen. Wer ihr das wohl beigebracht hatte? War sie auf eine Schule gegangen? Joy schüttelte den Kopf und versuchte, ihre Gedanken zu klären und sich wieder auf den Text zu konzentrieren. Dann begann sie zu lesen. Sie las über die vier Jahreszeiten Yalmas. Morgenzeit, Sonnenzeit, Erntezeit und Kältezeit. Und über die Feste, die mit diesen Zeiten einhergingen. Es gab zwei Feste namens Amoram und Mortam, das Fest der Liebe und das der Toten. Es gab den "Tag Yalmas", das "Königinnenfest" und ... Joy stockte, als sie das nächste Wort las. "Vitam". Das Fest des Lebens und der Kinder, das am fünfzigsten Tag der Sonnenzeit gefeiert wird. Vitam. An diesem Tag würden sie sich mit dem Zentauren treffen, den sie im Wald getroffen hatten. Wie lange es wohl noch bis dahin war? Zumindest hatte Kadira prophezeit, dass sie bis dahin wieder einigermaßen fit sein würde. 

Joy klappte das Buch zu und legte es bei Seite. Sie konnte sich einfach nichtmehr konzentrieren. Ihre Gedanken schweiften zurück zu dem nächtlichen Angriff. Noch keine zwölf Stunden war er her. Joy schauderte bei der Erinnerung. Schon wieder hatte jemand sie angegriffen. Schon wieder hatte jemand versucht, sie zu töten. Sie senkte den Blick auf ihren Arm und zog den Ärmel ihres Kleides hoch. An ihrem Oberarm zeichneten sich blaue, grüne und lila Färbungen ab. Bei dem Anblick musste Joy schlucken und wandte den Blick ab. Dann schloss sie die Augen. Ihre Augenlider waren schwer und sie war erschöpft, obwohl sie sich nicht körperlich angestrengt hatte. Es war eher eine innerliche Müdigkeit, die sich nun über sie legte und ihren Atem langsamer werden ließ. Ein tiefes Seufzen kam über Joys Lippen. Dann kippte ihr Kopf langsam zur Seite und landete weich auf ihrem Kissen.


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Hallo!

Schön, dass ihr wieder da seid! Was haltet ihr von dem Kapitel? Lasst es mich in den Kommentaren wissen und drückt auch gerne auf den kleinen Stern :)

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