16. Kapitel
Klirrend fiel der Teller zu Boden. Porzellan splitterte und flog zu allen Seiten. Joy erstarrte. Dann fuhr ihre Hand zu ihrem Kopf. Vor ihren Augen explodierten kleine Sterne und Dunkelheit legte sich über ihr Blickfeld. Ein Stöhnen entwich ihren Lippen und sie spürte, wie ihre Knie weich wurden, als ein plötzlicher, brennender Schmerz in ihren Kopf schoss. Schwankend sank sie in die Knie und fluchte, als sie spürte, wie eine Scherbe in ihre Haut schnitt.
"Wo warst du?"
"Im Wald."
"Joy."
Joy kniff die Augen zusammen. Jedes Wort, jede winzige Erinnerung, die plötzlich auf sie einströmte, fühlte sich an wie eine heftige Ohrfeige.
"Was?"
"Jetzt sag schon. Wo warst du?"
"Das geht dich nichts an."
"Geht es wohl! Ich habe mir Sorgen gemacht. Wo warst du?"
"Ich ... ich war beim Palast. Ich habe sie gesehen. Die Königin. Sie ist wunderschön."
"Du warst beim Palast?!"
"Ja. Na und? Sieh mich nicht so an. Ich bin ein freier Mensch, ich kann gehen, wohin ich will."
"Du weißt doch, was meine Tante immer gesagt hat..."
"Ach, hör doch auf, Nahuel."
Joy traten Tränen in die Augen. Zwar verursachte jedes einzelne Wort ihr unsägliche Schmerzen, doch zu spüren, wie die Stimmen ihrer Erinnerung langsam leiser wurden, fühlte sich noch schlimmer an. Dann verstummten sie. Joy schnappte nach Luft, als der Schmerz langsam versiegte und ihr Blickfeld sich klärte. Der Boden ihres Zimmers war mit Porzellanscherben übersät. Das Mittagessen, das sie sich soeben aus der Küche geholt hatte, eine orangefarbene Suppe, tränkte ihren Rock. Zum Glück war sie nichtmehr allzu heiß gewesen.
Zitternd stand Joy auf. Von ihrem dunkelblauen Rocksaum tropfte ihr Mittagessen, etwas oberhalb war auf dem Stoff ein großer, roter Fleck zu sehen. Zaghaft zog Joy ihren Rock hoch. In ihrem Knie klaffte ein dunkler Schnitt. Scharf holte sie Luft und wandte den Blick ab. Der Anblick des Blutes verursachte ihr Übelkeit. Unschlüssig sah Joy sich um. Was war geschehen? Ihr war urplötzlich schrecklich schwindelig geworden, und dann ... dann hatte sie sich erinnert. Sie hatte sich an einen Moment – oder eher ein Gespräch – aus der Vergangenheit erinnert.
Ein Anflug von Aufregung regte sich in Joy. Immer noch mit wackligen Beinen, trat sie vorsichtig zwischen den Scherben hindurch und ließ sich auf ihr Bett sinken. Ein schmerzhaftes Pochen hallte in ihrem Kopf nach. Joy schloss die Augen und fragte sich, ob Marina inzwischen Kadira gefunden und ihr die Kräuter gezeigt hatte. Kadira. Joy setzte sich wieder auf. Sie musste Kadira sehen. Die alte Heilerin könnte ihr sicher nicht nur mit ihrer Wunde helfen, sondern auch etwas über das rätselhafte Kraut erzählen. Sie setzte vorsichtig die Füße auf den Boden und versuchte ihr Knie zu belasten. Ein Zischen entwich ihren fest zusammengebissenen Zähnen und sie verzog vor Schmerz das Gesicht. Entmutigt sank sie zurück auf das Bett. Für einen Moment saß sie regungslos da und Stille herrschte im Zimmer. Dann hörte Joy durch die immer noch offene Tür, wie sich schwere Schritte näherten. Unsicher hielt sie die Luft an, um dem Geräusch zu lauschen. Als es ganz nah war, schluckte sie unsicher und fragte laut: "Hallo?"
Die Schritte hielten inne. Dann wurde die Tür aufgestoßen. Argon stand in der Tür. Überrascht huschte sein Blick über die Scherben und die Pfütze am Boden, dann zu Joys orange und rot beflecktem Kleid. "Joy." Er trat einen Schritt vor. "Was ist denn mit dir passiert?" Besorgt musterte er die Blutspur auf ihrem Rock. "Hast du dich verletzt?" Joy nickte, erleichtert über das unverhoffte Auftauchen des Ratsmitgliedes.
"Ja, ich habe mich geschnitten. Am Knie."
"Wie ... wie ist das passiert?"
"Mir ist schwindelig geworden." Joy sah den Mann unsicher an.
"Einfach so?", fragte er und runzelte die Stirn.
Joy zuckte die Schultern, unsicher, ob sie ihm noch mehr sagen konnte. Lieber nicht.
Argon sah sie forschend an. Dann schüttelte er wieder besorgt den Kopf. "Ich werde die Heilerin holen. Bewege dich nicht, bis ich wieder zurück bin."
Joy nickte erleichtert und hievte die Beine auf das Bett. Dann lehnte sie sich an die Wand zurück.
Wenige Minuten später kehrte Argon zurück, Kadira folgte ihm. Auch Marina hatte sich den beiden angeschlossen. Sie eilte mit besorgtem Gesichtsausdruck zu Joy ans Bett.
"Was ist passiert?", fragte sie und betrachtete entsetzt den orangerot getränkten Rock. "Argon hat nur erzählt, dass dir schwindelig war. Ist ... ist das etwa alles Blut?"
"Nein, nein." Joy war überrascht und gerührt zugleich von Marinas offensichtlicher Sorge um sie. "Das meiste ist nur Suppe."
Kadira drängte sich neben Marina und zog den Rock vorsichtig ein Stück hoch. Als sie den Schnitt in Joys Knie sah, schnalzte sie mit der Zunge. "Hast dich an einer Scherbe geschnitten, was?" Joy nickte. "Ist zum Glück nicht so tief", murmelte Kadira und wühlte in einer Tasche, die sie bei sich trug. Sie zog ein kleines weißes Stück Stoff hervor und drückte es vorsichtig auf die Wunde. Joy zuckte zusammen als sie merkte, dass es mit einer Flüssigkeit getränkt war und der Schnitt als Reaktion darauf erneut zu brennen begann. Sie knirschte mit den Zähnen und wartete angespannt. Als Kadira den Stoff zurückzog, sackten ihre Schultern erleichtert herab. Kadira zog belustigt die Augenbrauen hoch und holte ein weiteres Stück Stoff aus ihrer Tasche, mit dem sie das Umfeld der Wunde von den Überresten der Suppe säuberte. Zum Schluss umwickelte sie das Knie mit einem Verband. Dann klopfte sie Joy überraschend fest für ihr Alter auf die Schulter. "So. Das war's. Jetzt braucht dein Knie nur noch eines: Ruhe. Daher wirst du nun den ganzen Tag still hier liegen bleiben und dein Bein möglichst wenig bewegen. Morgen sehen wir dann wie es weitergeht." Joy furchte unzufrieden die Stirn.
"Den ganzen Tag?"
"Ja, den ganzen Tag", erwiderte Marina statt der Heilerin entschieden und sah sie streng an. Joy seufzte. Da fiel ihr noch etwas ein. Sie wollte noch nach dem Kraut fragen, das sie im Wald gefunden hatten. Unentschlossen blickte sie zu Argon, der immer noch in der Tür stand. Marina folgte ihrem Blick und lächelte dem Mann zu. "Vielen Dank, dass Ihr uns geholt habt. Wer weiß, ob Joy sonst immer noch blutend hier liegen würde."
Argon neigte kurz den Kopf. "Nichts zu danken." Er zögerte, dann nickte er ihnen nochmals knapp zu und zog sich zurück.
Marina sah Joy an. Als die gerade den Mund aufmachen wollte, erklärte Marina: "Kadira denkt, dass das Kraut tatsächlich für deinen Gedächtnisverlust verantwortlich ist."
Joy schloss den Mund wieder und sah die Heilerin an. "Ich kenne das Zeug kaum", erklärte die Alte. "Aber ich würde es ihm durchaus zutrauen, ein ganzes Gedächtnis auszulöschen. Es ist extrem gefährlich, so viel wissen wir. Aber es ist auch sehr schwer, daran zu kommen. Nicht nur wächst das Kraut in einem entfernten Teil Yalmas, auch ist es sehr selten."
"Außerdem...", meldete sich nun Marina wieder zu Wort und zögerte. "Du solltest noch etwas über den Westen, in dem das Kraut wächst, wissen. Er ist verlassen, gefährlich. Und..." Sie holte tief Luft. "In Yalma gibt es nicht nur durch und durch gute Leute. Die wenigen Verbrecher, die es gibt, werden verbannt. In den Westen. Außer ihnen geht niemals jemand dorthin."
Joy starrte Marina an und versuchte das eben gehörte zu verarbeiten. "Verbrecher?"
Die junge Frau nickte knapp. "Ja. Schwere Verbrechen wie Hochverrat, Mord, Bildung von terroristischen Vereinigungen, Brandstiftung... Das alles kommt zum Glück alles nur selten vor, weshalb es nur sehr wenige Verbannte gibt."
"Was ist mit Diebstahl?"
Marina zog eine Augenbraue hoch. "Kommst du schon wieder damit? Nun ja, schwerer Raub fordert durchaus Konsequenzen. Aber nur weil eine Person eine Bierkiste gestohlen hat, wird er sicher nicht verbannt", spielte sie auf das Gespräch in ihrem Büro an und lächelte. Dann aber wurde ihr Gesichtsausdruck wieder ernst. "Kommen wir zurück zum eigentlichen Thema. Aus dem, was wir über das Kraut wissen, können wir schließen, dass dein Widersacher Verbindungen hat. Was ihn nur noch gefährlicher macht. Wenn wir tatsächlich annehmen würden, dass die Verbannten im Westen ihn unterstützen..." Marina verstummte. "Aber das ist ziemlich weit hergeholt", fügte sie unsicher hinzu.
Kadira räusperte sich und Marina zuckte zusammen. Anscheinend hatte sie die Heilerin völlig vergessen. Nun sah sie die alte Frau eindringlich an. "Was du gerade gehört hast, bleibt uns dreien, das weißt du?" Kadira nickte. Dann stieg sie vorsichtig an den Scherben, die immer noch auf dem Boden lagen, vorbei.
"Das sollte dringend weggeräumt werden", meinte sie knapp. "Sonst muss ich am Ende noch mehr Schnittwunden behandeln." Dann hinkte die Alte davon.
"Sie hat Recht", stellte Marina fest und stand auf. "Ich werde das regeln. Und dir ein neues Mittagessen zukommen lassen."
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Eine halbe Stunde später saß Marina erneut an Joys Bett, während die vorsichtig ihre dampfende Suppe schlürfte.
"Und jetzt erzähl." Marina sah Joy fragend an. "Wie kam es zu deinem Schwindelanfall?"
Joy ließ sich Zeit damit, ihren Löffel leer zu schlürfen und das Essen zu schlucken. "Ich weiß nicht. Auf einmal hat sich alles angefangen zu drehen, mein Kopf tat weh und dann ist es mir schwarz vor Augen geworden." Sie führte erneut einen Löffel zum Mund. Marina beobachtete sie schweigend. "Ich habe etwas gesehen", gestand Joy leise. "Eine Erinnerung."
Marina setzte sich kerzengerade auf. Ihre Augen leuchteten. "Was? Das ist ja fabelhaft!"
"Es war nur ein kurzer Dialog", wandte Joy ein.
"Na, immerhin besser als nichts!"
Schweigend schlürfte Joy einen weiteren Löffel. Nun beobachtete Marina sie weniger geduldig. "Nun sag schon, was hast du gesehen?"
"Ich habe nichts gesehen. Nur ... gehört. Stimmen. Zwei Stimmen. Die eine war meine Stimme. Und die zweite..." Joy stockte. Nahuel. Sie hatte ihren Traum schon ganz vergessen. Das Wort, von dem sie geträumt hatte, war also tatsächlich ein Name. Sie hatte die zweite Person so angesprochen, in ihrer kurzen Vision. "Die zweite Stimme gehörte einem Mann, glaube ich. Sie klang tiefer und ich nannte ihn Nahuel. Er fragte, wo ich war. Und ich sagte, ich wäre ... beim Palast gewesen."
"Beim Palast?", wiederholte Marina ungläubig. Nachdenklich betrachtete sie einen Punkt hinter Joy.
"Das ist alles so verwirrend", murmelte das Mädchen seufzend, stellte ihren leeren Teller beiseite und ließ ihren Kopf an die kühle Wand hinter sich sinken. Marina nickte mitfühlend. "Lege dich besser hin und ruhe dich aus. Dann geht es deinem Knie morgen hoffentlich besser." Sie stand auf und nahm Joys Teller. "Soll ich dir Tamina zur Gesellschaft vorbei schicken?"
Joy nickte kurz. "Okay."
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"Hey." Tamina lächelte mitfühlend, als sie Joy in ihrem Bett liegen sah. "Tut es sehr weh?"
Joy schüttelte den Kopf und ein mildes Grinsen schlich sich auf ihre Lippen.
"Was ist daran so lustig?", fragte Tamina stirnrunzelnd.
"Nichts, murmelte Joy und wich ihrem Blick aus, da sie plötzlich das Bedürfnis verspürte, loszuprusten. Die Anwesenheit von Tamina schien ihr tatsächlich auf seltsame Weise gut zu tun. Tamina zog eine Augenbraue hoch und lächelte ebenfalls.
"Marina hat erzählt, du hast dich geschnitten?"
"Mhm. Ich habe mich in eine Scherbe gekniet."
"Oh." Tamina verzog das Gesicht. Dann aber hielt sie ihr einen Gegenstand entgegen. Joy war seltsam erleichtert, dass das Mädchen nicht weiter nachforschte. Verblüfft stellte sie fest, dass es sich bei dem Ding, das sie nun zögernd entgegen nahm, um ein Buch handelte.
"Ähm ... danke." Sie drehte es in der Hand und las den Titel. Geschichte Yalmas.
"Ich dachte, da du nun wohl erstmal ans Bett gefesselt bist, hast du vielleicht Lust, da mal reinzulesen", erklärte Tamina verlegen. "In dem Buch steht alles Wichtige über unsere Welt drinnen. Und ... genau genommen wollte Rayllyn eh, dass du das mal liest."
Joy legte das Buch auf ihren Nachttisch und sah Tamina an. "Danke", sagte sie, und legte in das Wort all die Wärme und die Dankbarkeit, die sich im Laufe der letzten Tage in ihr für das zierliche, rothaarige Mädchen aufgestaut hatten.
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Hey!
Schön, dass ihr wieder da seid! Wie hat euch das Kapitel gefallen? Lasst doch gerne einen Kommentar und/oder ein Vote da! :)
Habt ihr eigentlich vielleicht schon einen Lieblingscharakter in dem Buch? Wenn ja, schreibt mir das doch unbedingt auch in die Kommentare, das würde mich sehr interessieren ^^
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