15. Kapitel
"Joy? Komm, steh auf. Wir müssen los."
Joy öffnete die Augen und starrte Marina verschlafen an. Die blonde Frau hatte sich über sie gebeugt. Ihr Schal, den sie natürlich auch heute trug, baumelte vor Joys Blickfeld hin und her. Sie setze sich auf und Marina trat zurück.
"Erinnerst du dich? Wir gehen in den Wald, an die Stelle, an der ich dich gefunden habe."
"Es ist so früh", murmelte Joy und blinzelte in Richtung des Fensters, hinter dem es fast noch dunkel war.
"Nur so können wir sichergehen, dass niemand unser Verschwinden bemerkt." Marina zog ruckartig ihre Bettdecke zurück und hielt ihr mit einem belustigtem Grinsen ein Kleid und einen Umhang hin. "Komm sobald du dich umgezogen hast zum Palasttor. Und achte darauf, dass dich auf dem Weg dorthin niemand sieht." Joy nickte.
Marina zog sich ihre Kapuze über den Kopf, auch sie trug einen Umhang. Ihre kinnlangen Locken verschwanden hinter dem Stoff, und ein Schatten fiel über ihr markantes Gesicht. "Bis gleich."
"Bis gleich", erwiderte Joy und stand auf, um sich umzuziehen. Als sie das Kleid anzog erkannte sie, dass es jenes war, welches sie an ihrem ersten Tag im Palast getragen hatte. Dünne, feinde Seide und dunkelblauer Stoff.
Kurz darauf machte Joy sich auf den Weg zum Palasttor. Als sie in den Palastgarten kam, hing dünner Nebel in der Luft. Doch trotz der frühen Stunde war es schon warm. Joy blickte zum Waldrand. Hinter den Baumwipfeln schimmerten erste, goldene Sommerstrahlen hervor, die den baldigen Morgen verkündeten.
"Joy." Marina blickte ihr entgegen. Hinter ihr standen zwei große, pelzige Hunde.
"Wir reiten?", fragte Joy. Beklommen betrachtete sie die Tiere, die in ihr keine sonderlich guten Erinnerungen hervorriefen.
Marina nickte. "Darf ich vorstellen? Xena und Wotan."
Joy betrachtete die beiden. Xena hatte lange, schlanke Beine und beinahe komplett weißes Fell. Wotan war breitschultrig, eine seiner Pfoten war schwarz und entlang seiner Wirbelsäule zog sich ein dunkelgrauer Strich.
Xena kniete nieder und Marina stieg auf ihren Rücken. Wotan kauerte sich ebenfalls nieder. Zögernd ging Joy auf ihn zu und legte eine Hand auf seine weiche Schulter. Der Rüde hielt geduldig still. Sie schwang ein Bein über den breiten Rücken und krallte ihre Hände in seinen Pelz. Als Wotan sich erhob und an Xenas Seite los trottete, stellte Joy fest, dass sein Lauf sich weicher anfühlte als Askans. Auch fühlte sich seine Wirbelsäule glatter an.
Die Wachen öffneten ihnen ohne zu zögern das Tor. Die Hunde nahmen Tempo auf und bald preschten sie in vollem Tempo durch den Wald. Xena und Marina übernahmen die Führung. Nach einer Weile passierten sie die große Brücke und verließen somit die kleine Insel, auf der der Palast stand. Sie folgten dem Hauptweg, bis sie an dem Fleck ankamen, an dem der Golfstrom den Weg kreuzte. Dort bremste Marina ihre Hündin. Mit schmalen Augen spähte sie in den Wald. "Wir müssen den Weg jetzt verlassen, erklärte sie und ließ sich langsam von Xenas Rücken gleiten. Die Hunde sind zu groß, wir gehen ab hier ohne ihnen weiter."
Joy rutschte ebenfalls von ihrem Reittier. Marina legte beiden Tiere Schlingen um die Hälse und befestigte die Stricke an einem dicken Baumstamm.
"Ich war hier eigentlich alleine unterwegs", erklärte sie. "An dem Tag, an dem wir dich fanden. Ich war auf dem Weg zum Dorf. Erst hier traf ich zufällig Argon an. Ich blieb stehen, um mich mit ihm zu unterhalten, da hörte ich seltsame Geräusche aus dem Wald. Ich fragte Argon, ob er das auch höre, doch er verneinte. Doch ich bestand darauf, nachzusehen, was dort los war und lief in den Wald. Argon folgte mir." Sie trat in den Wald und duckte sich unter einem dicken Zweig hindurch. "Als wir dich fanden, lagst du reglos da, der Boden unter dir war zerwühlt", endete sie. Joy folgte ihr durch das Gestrüpp. Sie wanderten am Fluss entlang, Joy lauschte andächtig dem friedlichen Plätschern des Wassers.
"Dort vorne ist es", sagte Marina schließlich leise. Joy blickte auf. Vor ihr lag eine kleine Lichtung. Die Sonne fiel auf den trockenen, erdigen Boden und glitzerte auf der Oberfläche des Goldstroms. Etwas blitzte kurz am Ufer auf, als ein Lichtstrahl darauf fiel. Joy blinzelte und lief auf die Stelle zu. "Hast du etwas gesehen?", fragte Marina und folgte ihr mit ihrem Blick. Ihre Begleiterin nickte nur kurz und blieb vor einem Grasbüschel stehen. Ihre Augen weiteten sich, als sie den Gegenstand erkannte, der darin verborgen war. Sie bückte sich und berührte vorsichtig den hölzernen Griff des Messers. Seine Klinge war etwas rostig, aber scharf.
"Marina?" Sie drehte sich zu der blonden Frau um. Deren meerblauen Augen verengten sich überrascht, als sie die Waffe sah. Joy blickte auf ihre Hände hinab und betrachtete das glatte, kühle Metall bewundernd. Zaghaft strich sie mit einem Finger über die stumpfe Kante.
"Vorsichtig, Joy", mahnte Marina angespannt.
"Meinst du, das hast mir gehört?", fragte Joy leise, beinahe ehrfürchtig. Marina furchte die Stirn.
"Möglich. Es ist unwahrscheinlich, dass es deinem Angreifer gehört hat, du hattest weder Schnitt- noch Stichwunden."
Joy presste die Lippen fest zusammen, als sie mal wieder die verzweifelte, drängende Sehnsucht nach ihren Erinnerungen überkam. Unwillkürlich schloss sie den Griff fester um das Messer.
Marina wandte sich ab und ließ den Blick über den Boden wandern. An einer Stelle war die Erde tatsächlich ein wenig aufgewühlt, wie sie es erzählt hatte. Die Frau hockte sich hin und strich mit den Fingern vorsichtig über den Boden. Joy trat neben sie und suchte die Stelle ebenfalls mit den Augen ab. "Was ist das?", fragte sie, als sie ein kleines, braungraues Bündel entdeckte, das sich farblich kaum vom Boden abhob. Marina folgte ihrem Blick und betrachtete es stirnrunzelnd. Es schien ein kleines Stoffsäckchen aus grobfasrigem Stoff zu sein. Vorsichtig öffnete Marina es. Darin befanden sich welk aussehende Blätter, deren Oberflächen mit kleinen, giftgrünen Sprenkeln bedeckt waren. Marina sog scharf die Luft ein. Joy sah sie beunruhigt an. "Was...?"
Marina schloss das Bündel wieder und hob es mit spitzen Fingern hoch. "Wenn ich mich nicht täusche, dann ist das ein extrem gefährliches Kraut, das nur im hintersten Westen Yalmas wächst, und dessen Wirkung nicht ganz bekannt ist. Jedenfalls ist sicher, dass es ganz unterschiedliche Wirkungen auf Menschen haben kann. Manche wurden von den Dämpfen, die es ausstrahlt verrückt, andere krank, viele starben davon. Eine Heilerin soll sich das nochmal genauer ansehen. Sie wird uns sagen können, ob..." Sie zögerte. "Ob dieses Kraut womöglich für deinen Gedächtnisverlust verantwortlich ist."
Marina erhob sich und schritt weiter die Lichtung ab. Joy stand ebenfalls auf und blickte sich um. "Siehst du noch etwas?"
Marina schwieg und lief das umliegende Gebüsch ab. "Nein", antwortete sie. Joy beobachtete die Frau von hinten. Sie sah jung aus. Vielleicht Anfang dreißig Jahre alt. Ihre Silhouette war schlank, das Strickkleid betonte ihre weiblichen Kurven. Sie war klein, nicht größer als Joy. Ihre kurzen, blonden Locken fielen ihr locker auf die Schultern. Ob ihr Vater auch so jung gewesen wäre? Nein, vermutlich älter. Riona war auch älter, sie war mindestens Mitte dreißig.
Joy trat neben Marina und sah sie weiterhin unauffällig von der Seite an.
"Was ist?" Die Frau zog eine Braue hoch und sah sie aus meerblauen Augen an. "Du suchst den Wald ja gar nicht ab." Joy biss sich verlegen auf die Lippe.
"Tut mir leid, ich ..." Sie zögerte. "Erzählst du mir etwas von Nereus? Von ... von meinem Vater?"
Marina blinzelte überrascht. "Okay. Er..." Sie räusperte sich. "Mein Bruder war dreieinhalb Jahre älter als ich. Ich bewunderte ihn immer sehr. Er war selbstbewusst, stark, rebellisch und vertrat seine eigene Meinung stets mit größter Überzeugung. Nereus liebte es, mich oder Riona zu ärgern oder zu necken, aber er war auch ein warmherziger, liebevoller Junge. Später erwies er sich als großartiger Throngefährte." Sie lächelte, während sie die Sträucher weiter ablief. Joy ließ ihre Hände nun ebenfalls über die Zweige gleiten, bog sie auseinander und ließ den Blick suchend darüber schweifen. "Riona war ein ziemlich schüchternes, unsicheres Mädchen. Tamina ist ihr unglaublich ähnlich. Du dagegen scheinst mehr nach deinem Vater zu kommen." Marina lächelte ihr zu. "Auch äußerlich. Es ist wirklich nicht zu übersehen, dass du seine Tochter bist." Joy hielt inne und schüttelte in einem erneuten Anflug von Verzweiflung den Kopf.
"Aber wie kann das bloß sein? Warum dachtet ihr ich wäre tot, warum bin ich nicht im Palast aufgewachsen?"
"Wenn wir das nur wüssten", entgegnete Marina seufzend und ließ den Zweig sinken, den sie in ihrer Hand gehalten hatte. Sie hatten ihre Runde beendet. "Gehen wir. Ich glaube, hier gibt es nichts mehr zu finden."
Joy senkte den Blick auf das Messer, das sie immer noch in der Hand hielt, dann sah sie zu dem Stoffbündel in Marinas Fingern. Immerhin. Wenn sie der Heilerin, Kadira, die Kräuter zeigten, wüssten sie vielleicht zumindest, was der Auslöser für ihren Gedächtnisverlust war.
Sie drehte sich um und folgte Marina zurück durch den Wald. Als sie bei den Hunden ankamen, löste die Frau die Schlingen, die die Tiere an dem Baum festbanden und sie stiegen auf. Kurz darauf ritten sie zurück zum Palast. Die Sonne war inzwischen langsam aufgegangen und spiegelte sich in den Fenstern des Palastes wieder. Nachdem sie das Palasttor passiert hatten und vor dem steinernen Eingangstor zum stehen kamen, sprangen sie ab.
"Geh du ruhig schon vor, ich bringe die Hunde in den Stall", sagte Marina. Joy nickte und tätschelte Wotan zum Abschied den Hals. Der große Hund verbarg seine Nase in ihrem Haar und Joy lächelte überrascht, als er seinen riesigen Kopf auf seiner Schulter ablegte und leise brummte. Zaghaft kraulte sie ihn hinter dem Ohr und trat dann zurück.
Auf dem Weg zu ihrem Zimmer überlegte Joy, ob sie einen Abstecher zur Küche machen sollte. Nach einem Blick auf ihren feuchten Rocksaum verwarf sie den Gedanken allerdings wieder. Als sie am Ratsaal vorbeiging, kam ihr Königin Riona aus einem Seitengang entgegen. Als sie Joy erblickte runzelte sie die Stirn. "Was machst du denn so früh schon hier? Warst du etwa im Garten?" Joy wich ihrem fragenden, meerblauen Blick unsicher aus. Was sollte sie jetzt sagen?
"Ja, ich ... ich wollte an die frische Luft."
"Das ist gefährlich, Joy." Riona schüttelte besorgt den Kopf. Joy biss sich unsicher auf die Lippe.
"Tut mir leid, ich ... ich werde jetzt wieder zurück auf mein Zimmer gehen. Die Königin nickte knapp.
"Gut."
Joy drehte sich um und lief eilig den restlichen Weg zu ihrem Zimmer zurück. Sie spürte Rionas Blick in ihrem Nacken und seufzte erleichtert, als sie aus ihrem Sichtfeld verschwand. Als sie ihr Zimmer betrat, zog sie die Tür sorgfältig hinter sich zu. Erst dann lockerte sie ihre verkrampften Finger etwas und zog sie mitsamt dem Messer, das sie mit schwitzigen Fingern umklammert hatte, unter ihrem Umhang hervor.
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Bin ich froh, dass ich dieses Kapitel noch geschafft habe bis heute zu schreiben. Obwohl Ferien sind und ich eigentlich mehr Zeit zum Schreiben haben sollte, ist es ziemlich knapp geworden.
Und, was haltet ihr von dem Kapitel?
Da nun nur noch 9 bis zu den unglaublichen 1Tsd Reads fehlen und "Schattenfeind" vor kurzem auch die 250 Votes geknackt hat, möchte ich mich unbedingt bei euch bedanken. Danke an euch alle! Danke, dass ihr mich unterstützt! Danke, dass ihr mein Buch voted, kommentiert oder auch einfach nur lest. Das bedeutet mir so viel. Danke!!! <3
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