Kapitel 3
Die Abendsonne malte goldene und orangefarbene Streifen über den Himmel und Elena saß wie so oft auf der Fensterbank ihres Zimmers, das Gesicht nach draußen gerichtet. Die vertraute Wärme der untergehenden Sonne auf ihrer Haut war ein Trost, den sie sich selbst kaum eingestand. Die Welt draußen wirkte ruhig, geordnet, ein scharfer Kontrast zu dem Chaos, das oft in ihrem Kopf herrschte.
Sie drehte eine grünliche Haarsträhne zwischen ihren Fingern, beobachtete, wie das Licht ihre Farbe von einem sanften Moosgrün in ein strahlendes Türkis verwandelte. Es war eine ihrer Eigenheiten, ein kleines Geheimnis, das sie immer mit sich trug. Und obwohl sie wusste, dass es einzigartig war, fühlte es sich oft wie eine Last an. *„Was bringt es, besonders zu sein, wenn niemand versteht, was das bedeutet?"* dachte sie zum wiederholten Mal.
Ein plötzliches, kräftiges Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Sie zuckte leicht zusammen, ihre Finger ließen die Haarsträhne los, und sie drehte sich zur Tür. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, eine Mischung aus Überraschung und Nervosität. Ihre Mutter war nicht zu Hause – sie hatte sich für einige Tage zurückgezogen, um „nachzudenken", wie sie es oft tat, ohne viele Erklärungen zu geben.
Elena stand auf und ging zögernd zur Tür. Sie spürte ihre nackten Füße auf dem kalten Holzboden und bemerkte, wie ihre Hände leicht zitterten, als sie den Türknauf drehte.
Doch als sie öffnete, war niemand da. Der Gang war leer, und das einzige, was sie fand, war ein kleiner Umschlag, der ordentlich vor ihrer Tür lag. Ihr Name war darauf geschrieben, mit geschwungener, fast altmodischer Schrift: *Elena*.
Sie sah sich um, spähte in beide Richtungen, doch die Stille blieb ungebrochen. Kein Schatten bewegte sich, keine Gestalt, die sich eilig entfernte. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie beobachtet wurde, doch sie konnte niemanden sehen. Mit einem mulmigen Gefühl bückte sie sich und hob den Umschlag auf.
Zurück in ihrem Zimmer setzte sie sich auf ihr Bett, den Umschlag vorsichtig in den Händen haltend. Das Papier fühlte sich dick und hochwertig an, wie etwas, das nicht in ihre gewöhnliche Welt passte. Ihr Herz hämmerte, während sie die Kante des Umschlags aufbrach und das darin enthaltene Papier herauszog.
Sie las die Worte lautlos, ihre Augen glitten langsam über die sorgfältig geschriebene Nachricht:
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**„An Elena,
Deine Gabe ist einzigartig, doch du bist nicht allein. Es gibt andere wie dich und es ist an der Zeit, dass du lernst, wer du wirklich bist. Wir laden dich ein, dich uns anzuschließen. Komm und entdecke, was es bedeutet, ein Wandler zu sein.
Wenn der Mond aufgeht, an der alten Weide der Vergänglichkeit
Wir erwarten dich."**
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Ihr Atem ging schneller, als sie den Brief wieder und wieder las. *„Andere wie mich?"* Der Gedanke wirkte wie ein ferner Traum, etwas, das sie nie für möglich gehalten hatte. Bis zu diesem Moment hatte sie geglaubt, sie sei allein – ein seltsames Wesen, das nirgendwo richtig dazugehörte.
Ihre Gedanken sprangen hin und her. War das eine Falle? Wer wusste von ihr, wer konnte ihre Tarnung durchschauen? Ihre Finger fuhren unbewusst an ihren Nacken, wo das kleine, filigrane Zeichen verborgen lag, das sie immer sorgsam verdeckte. Es war ihr Zeichen, das sie als Wandlerin auswies – ein Symbol, das sie niemals jemandem gezeigt hatte, nicht einmal ihrer Mutter.
Sie stand auf, lief in ihrem kleinen Zimmer auf und ab, das Papier immer noch in der Hand. Ihre Gedanken überschlugen sich: *„Ich sollte das ignorieren. Es ist zu gefährlich. Aber... was, wenn es wahr ist?"*
Schließlich blieb sie vor dem Spiegel stehen. Sie schob ihre Haare zur Seite und betrachtete ihr Zeichen im schwachen Licht des Zimmers. Es schimmerte zart, ein Muster, das nur sie und vielleicht die Menschen verstanden, die diesen Brief geschickt hatten.
„Was, wenn ich wirklich nicht allein bin?" flüsterte sie leise, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch.
Doch gleichzeitig war da diese Angst, tief verwurzelt in ihrem Herzen. Was, wenn diese „anderen" sie genauso abwiesen, wie sie es so oft erlebt hatte? Was, wenn sie eine Gefahr für sie bedeuteten oder schlimmer noch, sie für sie?
Sie legte den Brief behutsam auf ihren Nachttisch und sah hinaus in die langsam dunkler werdende Nacht. Ihre smaragdgrünen Augen schimmerten entschlossen.
„Ich werde hingehen," murmelte sie schließlich. „Aber ich werde vorsichtig sein."
Die Einladung hatte etwas in ihr geweckt, eine Neugierde, die stärker war als die Angst. Was auch immer sie dort erwartete, sie war bereit, es herauszufinden. Doch sie wusste, dass sie niemandem zu schnell vertrauen durfte. Nicht in einer Welt, in der sie nie wirklich dazugehört hatte.
Elena blieb noch lange am Fenster sitzen, während die Nacht sich über die Stadt legte. Ihre Finger trommelten unruhig auf dem Holzrahmen, und ihr Blick wanderte immer wieder zu dem Brief auf dem Nachttisch. Jede Faser ihres Körpers schien vor Anspannung zu vibrieren.
*„Andere wie ich..."* Die Worte hallten in ihrem Kopf wider wie ein Echo. Ihr Herz pochte heftig, als sie daran dachte, was es bedeuten könnte. Nicht mehr allein zu sein, das klang wie ein Traum. Doch mit dem Traum kam auch die Angst.
Elena schloss die Augen, lehnte ihren Kopf gegen die kühle Fensterscheibe und atmete tief ein. Das Licht der Laternen draußen schien tröstlich, aber sie konnte sich nicht davon abhalten, jeden Schatten zu beobachten, jede Bewegung, die durch die Straßen huschte. Es fühlte sich an, als sei der Brief nicht nur eine Einladung, sondern auch eine Warnung. Wer immer ihn geschickt hatte, wusste von ihr. Und wenn sie etwas gelernt hatte, dann das: Geheimnisse zu haben bedeutete, immer auf der Hut zu sein.
Mit einem leisen Seufzen richtete sie sich auf und ging zurück zum Bett. Sie hob den Brief hoch und betrachtete ihn erneut, als könnte sie darin mehr Antworten finden, wenn sie nur genau genug hinsah. Doch die Worte blieben dieselben, schlicht und doch voller Versprechen.
„Wenn ich hingehe," murmelte sie zu sich selbst, „muss ich bereit sein. Ich kann nicht einfach blindlings darauf vertrauen, dass sie mir nichts Böses wollen."
Ihre Gedanken wanderten zu ihrer Mutter. Die Geschichten über andere Wandler waren in ihrem Haus immer wie verbotene Themen gewesen, etwas, das sie nie offen ansprechen durfte. Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, sich zu verstecken, immer unauffällig zu bleiben, sich niemals zu zeigen. Warum, hatte sie nie wirklich erklärt.
„Vielleicht wusste sie mehr, als sie zugegeben hat," sagte Elena leise und biss sich auf die Lippe.
Sie ballte die Hände zu Fäusten. Es war an der Zeit, dass sie selbst Antworten fand. Wenn ihre Mutter nicht darüber sprechen wollte, dann würde sie ihren eigenen Weg gehen müssen.
Mit dieser Entschlossenheit in ihrem Herzen öffnete sie den kleinen Schrank an der Wand. Darin hingen einige ihrer Lieblingskleider, aber ihr Blick fiel auf ein Paar robuste Stiefel und eine dunkelgrüne Jacke. Sie zog die Stiefel an und zog die Jacke über ihre Schultern, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
Elena schob den Brief in die Innentasche der Jacke und warf einen letzten Blick auf ihr Zimmer. Es fühlte sich an wie eine Schwelle, die sie überschritt, der Moment, in dem sie die Welt, die sie bisher gekannt hatte, hinter sich ließ.
„Ich werde vorsichtig sein," flüsterte sie erneut, fast wie ein Mantra.
Die Nacht war still, als sie die Tür hinter sich schloss und in die Straßen hinaustrat. Ihre Schritte hallten leise wider, während sie durch die schmalen Gassen ging. Der Ort, der im Brief angegeben war, lag am anderen Ende der Stadt, und der Gedanke daran ließ ihre Nackenhaare kribbeln.
Doch je weiter sie ging, desto stärker wurde das Gefühl, beobachtet zu werden. Es war nicht das erste Mal, dass sie das spürte, eine Präsenz, die sie nicht sehen konnte, aber die da war. Sie spähte über ihre Schulter, ihre Augen huschten durch die Schatten.
Dann, in einer kleinen Seitengasse, blieb sie stehen. Etwas bewegte sich im Dunkeln.
„Wer ist da?" fragte sie, ihre Stimme fester, als sie sich fühlte.
Keine Antwort. Nur ein Rascheln, das vom Wind hätte kommen können – oder von jemandem, der sie verfolgte.
Elena spürte, wie ihr Herz schneller schlug, und sie griff instinktiv an ihren Nacken, wo das Zeichen unter ihrer Kapuze verborgen lag. Die vertraute Wärme des Symbols beruhigte sie, auch wenn sie wusste, dass es sie verraten könnte, wenn jemand wusste, worauf er achten musste.
Sie trat zurück, die Augen wachsam, bereit zu reagieren. Aber dann kam nichts. Stille.
Mit einem leisen Atemzug wandte sie sich ab und ging weiter. Doch die Anspannung blieb, und in ihrem Kopf kreisten die Fragen: *Wer weiß von mir? Und wer hat diesen Brief geschickt?*
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Sorry, dass in den letzten Tagen nichts kam, musste dann doch noch andere Dinge erledigen:)
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