SCHOOL/ Traumnovelle
(zum durchlesen für mich)
TRAUMNOVELLE INTERPRETATION
Das zeitlose Dilemma zwischen Nähe und Distanz, Entfremdung und Verständnis, Verdrängung und Offenheit, Krise und Bewältigung. Dazu gehören: Selbstprüfung, Selbsterkenntnis und Selbstentdeckung. Die "Traumnovelle" war definitiv auch eine gesellschaftskritische Stellungnahme zum Herrschaftsanspruch des Mannes über die Frau, also dem Patriarchat. Schnitzler fordert eine gleichberechtigte Partnerschaft. Der Handlungsverlauf der Traumnovelle ist aus personaler Perspektive Fridolins, also sehr subjektiv, erzählt. Schnitzler verstärkt diesen Effekt, indem er "erlebte Rede" und "inneren Monolog" benutzt. Arbeitstitel war "Doppelnovelle" - ein Hinweis auf dichterische Form und Aufbau des Textes. Die Novelle enthält zwei Handlungsstränge, die jeweils sowohl getrennt voneinander verlaufen als auch eng miteinander vernetzt sind: Einerseits Fridolins traumartige Erlebnisse, die aber in der Realität stattfinden. Andererseits die realen, nicht selten auch traumartigen Erlebnisse Albertines sowie ihr unverkennbar in der Realität verankerter Traum. Hier haben wir auch zwei Realitätsebenen - Traum und Wirklichkeit. Im letzten Kapitel wird beides zusammengeführt: Fridolin erzählt Albertine seine nächtlichen Erlebnisse. Durch ihre Ehrlichkeit können beide einen Neubeginn wagen. Die Katastrophe einer Trennung ist abgewandt. Die grundsätzliche Zuneigung zueinander zeigt sich durch Berührungen und Gesten wie das Zusammenkommen der Hände. Durch Schnitzlers enge wissenschaftliche Verbindung zu Sigmund Freud, kann bei der Interpretation der Traumnovelle auf dessen Lehre von Ich, Es und Über-Ich zurückgegriffen werden. So offenbart Albertines Traum die Erfüllung von Wünschen und Vorstellungen, deren mögliche Realisierung ihr in der Wirklichkeit ihrer Ehe nicht bewusst geworden ist. Oder die von Fridolin - unbewusst und rollenbedingt - verhindert worden sind. Inhalt ihres Traums ist die Erfüllung erotischer beziehungsweise sexueller Wünsche, also ihre Triebbefriedigung. Dazu kommen Rachegefühle gegenüber Fridolin. Viele Elemente, Orte und Personen der Traumhandlung sind eng mit dem Alltag verknüpft und daher symbolisch: Albertines Brautkleid fehlt - vielleicht hätte sie gerne die Hochzeit damals verschoben? Denn die bunten Kleider im Schrank stehen für das vielfältige, freie Leben. Auch der Verlust der Kleider bedeutet den Verlust der Freiheit. Albertine gibt Fridolin die Schuld für dieses Gefühl; eine Gefühl, das die Ehe in ihr erzeugt. Albertine möchte nicht umsorgt werden, nicht abhängig sein keine Wünsche unterdrücken: Freiheit statt Sicherheit. Albertines Bestrafung Fridolins zeigt ihre Enttäuschung darüber, dass sie nur noch "aneinander vorbei schweben". Ihr Traum ist also ein übersteigertes Gleichnis ihrer gemeinsamen Ehewirklichkeit. Der Traum und seine Erzählung haben eine befreiende Wirkung auf Albertine. Anders bei Fridolin. Geprägt vom patriachalischen Rollenverständnis reagiert er schon zu Anfang "feindselig", als Albertine von ihren Wünschen erzählt. Albertines Traumerzählung löst in Fridolin Hass- und Schuldgefühle aus. Immer mehr bestimmt das "Es" sein Handeln. Mit dem Aufenthalt in der Geheimgesellschaft gelingt ihm eine Projektion seiner triebhaften Wunschvorstellungen - ähnlich wie Albertines Projektion ihrer Wünsche auf den Dänen Zudem beruht die nächtliche Orgie auf Grundkomponenten von Albertines Traum: Sex, Grausamkeit und Tod. Die Maske hilft Fridolin, sich von den moralischen Normen des Alltags loszulösen. Doch nichts erfüllt sich, irgendwie bleibt Fridolin doch im Rahmen seiner sozialen Ordnung oder wird gehindert, diese zu verlassen. Die Unbekannt tut genau das, was ihm Albertine verweigert hat: sich für ihn restlos aufzuopfern. Eine Spiegelung seiner inneren Wünsche? Oder ist die Maskenträgerin sogar mit Albertine identisch? Damit die Ehepartner erneut zusammenfinden können, müssen die imaginären Anteile der Personen am Ende absterben: Die schöne Unbekannte der Nacht kommt ebenso zu Tode wie der sich opfernde Fridolin des Traums. Doch erst nachdem er Albertine seine Erlebnisse erzählt, spürt Fridolin auch ein Gefühl der Befreiung. Für das beidseitige Verständnis hat es beiderlei Erlebnisse gebraucht.
Die Beziehung erlangt eine neue Offenheit. Heute führen wir größtenteils gleichberechtigte partnerschaftliche Beziehungen, die offener und moralisch flexibler sind. Doch die Sehnsucht, von einem anderen Menschen restlos verstanden zu werden, bleibt. Somit ist die Traumnovelle die zeitlose, feinfühlige Beschreibung einer Ehe, die von Zuneigung getragen ist und nach einer Krise wieder gefestigt wird. Und gleichzeitig noch viel mehr: Schnitzler erzählt die Bedrohung des Bewußten durch das Unbewusste. Seine Forderung ist es, sich der Selbsterkenntnis und der Erkundung der eigenen Psyche nicht zu verweigern und auf diese Weise die eigene Freiheit zu verteidigen.
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1. das Redoutenerlebnis als Auslösermoment,
2. die Urlaubserlebnisse Albertines und Fridolins in Dänemark,
3. die nächtlichen Erlebnisse Fridolins und seine Folgen,
4. der Traum Albertines.
"Aus dem leichten Geplauder über die nichtigen Abenteuer der verflossenen Nacht gerieten sie in ein ernsteres Gespräch über jene verborgenen, kaum geahnten Wünsche, die auch in die klarste und reinste Seele trübe und gefährliche Wirbel zu reißen vermögen, und sie redeten von den geheimen Bezirken, nach denen sie kaum Sehnsucht verspürten und wohin der unfaßbare Wind des Schicksals sie doch einmal, und wär's auch nur im Traum, verschlagen könnte."
Schnitzler spricht hier von dem Unbewußten, Unterbewußten der menschlichen Psyche. Jeder Mensch habe solch "verborgene" und "kaum geahnte Wünsche".
Albertine erzählt Fridolin, daß sie im Urlaub in Dänemark beinahe bereit gewesen wäre, sich einem jungen Mann hinzugeben, mit dem sie nicht einmal gesprochen habe, der aber dann vorzeitig abreisen mußte. Fridolin begegnete nun seinerseits beim letzten Morgenspaziergang einem hinreißend schönen, jungen Mädchen, das einen tiefen Eindruck auf ihn machte. Er und seine Frau spüren in diesem Erlebnis das Unbewußte; sie entkommen dieser Versuchung mehr durch Zufall als durch eigenes Zutun. Die Faszination, den unbewußten Wünschen nachzugeben, ist für Albertine und Fridolin außerordentlich groß. Sie sind in hohem Maße gefährdet.
Das nächtliche "Abenteuer" Fridolins ist eigentlich kein Traum. Dennoch trägt es alle Attribute des Traumhaften. Ich werde noch darauf zurückkommen. Mit dem Verlassen seines Hauses beginnt eine Veränderung der Bedeutung der Gegenstände:
"Auf der Straße mußte er den Pelz öffnen. Es war plötzlich Tauwetter eingetreten, der Schnee auf dem Fußsteig beinahe weggeschmolzen, und in der Luft wehte ein Hauch des kommenden Frühlings."
Der Kranke, den er besucht, ist bereits gestorben und Marianne, die etwas ältliche Tochter, gesteht ihm ihre Liebe. Er regisitriert:
"[. . .] natürlich ist auch Hysterie dabei. [. . .] Im selben Augenblick, er wußte nicht warum, mußte er an seine Gattin denken. Bitterkeit gegen sie stieg in ihm auf und ein dumpfer Groll gegen den Herrn in Dänemark mit der gelben Reisetasche auf der Hotelstiege."
Fridolin befindet sich in einem labilen psychischen Zustand; Ereignisse gewinnen für ihn eine besondere Bedeutung, denen er sich ausgeliefert sieht; er kann keinen Widerstand leisten. So geht er mit einer Dirne - mit einem Frauenzimmer dieser Art hatte er seit seiner Gymnasiastenzeit nichts mehr zu tun gehabt - auf ihr Zimmer, unterhält sich mit ihr.
"Wer auf der Welt möchte vermuten, dachte er, daß ich mich jetzt gerade in diesem Raum befinde? Hätte ich selbst es vor einer Stunde, vor zehn Minuten für möglich gehalten? Und - Warum? Warum?"
Und so wird es verständlich, daß er seinen ehemaligen Studienfreund bedrängt, ihn auf einen Ball einer geheimen Gesellschaft mitzunehmen, die ein seltsames Ritual befolgt. Der Übergang zum Traumhaften wird hier vollzogen. Traum und Wirklichkeit werden austauschbar. Die Parole zu diesem Ball ist "Dänemark", die Erinnerung an das Urlaubserlebnis steigt in ihm hoch:
"Also - Parole ist Dänemark."
"Bist du toll, Nachtigall?"
"Weshalb toll?"
"Nicht, nichts. - Ich war zufällig heuer im Sommer an der dänischen Küste."
Hier wird wiederum deutlich, daß Schnitzler durch die assoziative Verknüpfung des nächtlichen Abenteuers mit seinem Alltag bzw. Unterbewußten die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verschiebt. Er begibt sich auf diesen Ball im Mönchsgewand, die Frauen und Männer präsentieren sich zunächst ebenfalls als Mönche und Nonnen. Keuschheit und sexuelle Zügellosigkeit sind die Pole, die nach Schnitzler in jedem Menschen unmittelbar aufeinander bezogen sind; sie können auch jeweils dem Es bzw. dem Über-Ich zugeordnet werden. Die Außenseiterrolle, die ihm in diesem "Wach-träum" zufällt, wird durch die dritte seelische Seinsweise, das Ich, ausgelöst. Damit wird Fridolin als verantwortlicher Person die Peinlichkeit der Realisation seiner unterbewußten Strebungen bewußt, und er muß aus dem Kreis dieser Party ausgeschlossen werden. Die Figuren sind namenlos, rote, weiße Kavaliere, Nonnen, Mönche, die Gesichter durch Masken verdeckt, Repräsentanten dieser Es-Schicht des Menschen. Eine seltsame Rolle spielt die Frau , die Fridolin "auslöst" und sich schließlich dadurch für ihn opfert. Diese Tat entspringt wiederum der unbewußten Schicht Fridolins, der diese spontane Opfertat einer bis zu diesem Zeitpunkt ihm völlig unbekannten Frau als Erhöhung seines Ichs genießt. Dazu korrespondiert im Traum seiner Frau die Opferung Fridolins für sie. Der Anlaß ist geradezu banal. Nach der Traumliebesnacht sind plötzlich die Kleider verschwunden und Albertine berichtet:
"Doch nun war etwas Fürchterliches geschehen. Unsere Kleider waren fort. Ein Entsetzen erfaßt mich, brennende Scham bis zu innerer Vernichtung, zugleich Zorn gegen dich, als wärest du allein an dem Unglück schuld; |. . .]"
Die Über-lch-Instanzen lassen eine Situation, die Nacktheit, peinlich erscheinen, die andererseits im weiteren Verlauf des Traumes durchaus glückhaft erlebt wird. Fridolin, der in der Morgenzeitung vom Tod einer unter falschem Namen in einem Hotel abgestiegenen Baronin D. liest, vermutet sofort in ihr jene unbekannte Schöne, der er in dieser seltsamen Nacht begegnet ist. Er beschließt, diese in der Anatomie zu besichtigen. Nun wird endgültig klar, daß eine kunstvolle Verschränkung von Traum und Wirklichkeit durch Schnitzler beabsichtigt ist:
"Und er wußte doch zugleich, auch wenn es ihr Antlitz wäre, ihre Augen, dieselben Augen, die gestern so lebensheiß in die seinen geleuchtet, er wüßte es nicht, könnte es - wollte es am F2nde gar nicht wissen. Und sanft legte er den Kopf wieder auf die Platte hin und ließ seinen Blick den toten Körper entlang schweifen, vom wandernden Schein der elektrischen Lampe geleitet. War es ihr Leib? - der wunderbare, blühende, gestern noch so qualvoll ersehnte?"
Er sieht schon das "Werk der Verwesung" im Gange. Schnitzler bewegt sich hier beinah in einer barocken Betrachtung des Todes:
"[. . .] er sah, wie von einem dunklen, nun geheimnis- und sinnlos gewordenen Schatten aus wohlgeformte Schenkel sich gleichgültig öffneten, sah die leise auswärts gedrehten Kniewölbungen, die scharfen Kanten der Schienbeine und die schlanken Füße mit den einwärts gekrümmten Zehen."
Es wird Fridolin klar, daß das nächtliche Ereignis nun eine andere Bewertung erfahren muß. Er nimmt sich nach seiner Rückkehr vor, Albertine die "Geschichte der vergangenen Nacht zu erzählen, doch so, als wäre alles, was er erlebt, ein Traum gewesen - und dann, erst wenn sie die ganze Nichtigkeit seiner Abenteuer gefühlt und erkannt hatte, wollte er ihr gestehen, daß sie Wirklichkeit gewesen waren. Wirklichkeit? fragte er sich -, [. . .]". Auch der Traum wird hier nicht nur als Fiktion dargestellt. Im Gespräch mit Albertine sagt er: "Und kein Traum f. . .] ist völlig Traum." Der Bedeutung nach, die der Traum für die Psychoanalyse einnimmt, ist diese Austauschbarkeit von Wirklichkeit und Traum nur konsequent. Danach ist der Traum die Realität des Unterbewußten und offenbart eindeutiger das wirkliche Sein des Menschen als seine bewußten Reaktionen. Deshalb ist die Traumdeutung ein wichtiges Analyseinstrument der Psychoanalyse; diese Traumdeutung kann danach dazu beitragen, die Ursachen neurotischer Störungen zu erkennen und damit den Schlüssel zu deren Beseitigung.
Der Traum Albertines ist demnach ebenso wenig "nur" Traum wie die Wirklichkeit des nächtlichen Erlebnisses Fridolins "nur" Wirklichkeit ist. Beide "Abenteuer" besitzen identische Elemente, die ihren Ursprung u. a. in den Urlaubsbegegnungen in Dänemark haben. Traum und verdrängte Wirklichkeit sind einander äquivalent. So kann Albertine mit Recht am Ende behaupten: "Nun sind wir wohl erwacht, [. . .] auf lange."
In Albertines Traum trägt die Fürstin die Züge des jungen Mädchens, dem Fridolin am Strand begegnet war. Fridolin widersetzt sich nun aber standhaft allen Annäherungsversuchen. Für sie wird er ausgepeitscht, so daß das Blut "wie in Bächen" an ihm herabfließt; er soll gekreuzigt werden. Albertine betrachtet dies alles mit Genugtuung, mit einer Art Glücksgefühl; sie vergnügt sich mit anderen Männern, während ihr Mann für sie schreckliche Leiden zu erdulden hat. Ja, sie fühlt sich dazu gedrängt, ihn zu verhöhnen, daß er ihretwegen eine Fürstin ausgeschlagen hat.
Nach Freud sind im Unterbewußten jedes Menschen masochistisch-sa-distische Strebungen erkennbar, die mühsam durch die Über-Ich-Nor-men beherrscht werden. Die Konstruktion eines Destruktions-, Todestriebes wird aus derselben Auffassung heraus begründet. Dieser Trieb kann sich gegen andere und gegen den Träger selbst richten. Der Schluß des Traumes Albertines zeigt an, wie sehr beide Ehepartner sich schon voneinander entfernt hatten:
" - ich begann zu schweben, auch du schwebtest in den Lüften; doch plötzlich entschwanden wir einander, und ich wußte: wir waren aneinander vorbeigeflogen. Da wünschte ich, du solltest doch wenigstens mein Lachen hören, gerade während man dich ans Kreuz schlüge."
Albertine spürt, wie sehr Fridolin sich von ihr entfernt hat, sie bestraft ihn dafür im Traum brutal und nimmt für sich selbst alle Freiheit in
Anspruch. Die Realebene ist von diesen Vorgängen zunächst noch nicht direkt beeinträchtigt. Die Partner tun so, als ob ihre gegenseitige Beziehung intakt sei. Daß diese Beziehung die Belastungsprobe überdauert, wird während der Novelle angedeutet. Denn sosehr sich Fridolin durch den Traum seiner Frau brüskiert fühlt und innerlich bereits beschließt, ihr diese nächtliche Brutalität heimzuzahlen, so sehr ist er dennoch im emotional Unterbewußten an sie gebunden:
"Nun merkte er, daß er immer noch ihre Finger mit seinen Händen umfaßt hielt und daß er, wie sehr er auch diese Frau zu hassen gewillt war, für diese schlanken, kühlen, ihm so vertrauten Finger eine unveränderte, nur schmerzlicher gewordene Zärtlichkeit empfand; und unwillkürlich, ja gegen seinen Willen, - ehe er diese vertraute Hand aus der seinen löste, berührte er sie sanft mit seinen Lippen."
Diese Bindung, diese intakte Beziehungsebene, bringt es mit sich, daß die Ehe nicht in einer Katastrophe endet, wie in so vielen Novellen und Erzählungen Schnitzlers. Ja, die Aufrichtigkeit der beiden Eheleute, die sich alles erzählen, eröffnet ihnen eine neue Dimension der Partnerschaft, aber im vollen Bewußtsein der Zerbrechlichkeit, der Anfälligkeit menschlicher Beziehungen. Die Traumerlebnisse sind Indiz für diese unbewußte Schicht, die nun, und das ist das Entscheidende, von Albertine und Fridolin nicht verdrängt, sondern durchlebt, verarbeitet wird. Diese Verarbeitung wird schon am Anfang angedeutet. Die selbstverantwortliche Person , die in soziale Bezüge eingeordnet bleibt , geht aus dieser Auseinandersetzung mit der Es-Schicht gestärkt hervor. Verantwortliche Partnerbeziehungen sind nach Schnitzler durch diese Triebschicht in einem labilen Gleichgewichtszustand zu halten. Dann aber, wenn dieses Gleichgewicht nicht von der Ich-Schicht, sondern von Über-Ich-Normen erhalten wird, kommt es zur Katastrophe, sobald sich die Es-Schicht durchsetzt, z. B. in "Fräulein Else", "Die Fremde" oder "Der Mörder". Von daher ist dieses Ehepaar in der bürgerlichen Gesellschaft der damaligen Zeit eine Ausnahmeerscheinung. Dies läßt sich durch die Kommunikationsstruktur belegen. Albertine ist ein gleichwertiger Kommunikationspartner; sie ist nicht, wie so häufig in bürgerlichen Ehen, die von vorneherein nur reaktive. Sie agiert aber nicht nur auf der verbalen Ebene, sondern vermag versöhnende Zeichen auch nonverbal zu setzen, als sie z. B. die Larve, die Fridolin bei seiner Rückkehr verloren hatte, auf das Kopfkissen legt:
"So konnte er auch nicht daran zweifeln, daß Albertine nach diesem Fund mancherlei ahnte und vermutlich noch mehr und noch Schlimmeres, als sich tatsächlich ereignet hatte. Doch die Art, wie sie ihm das zu verstehen gab, ihr Einfall, die dunkle Larve neben sich auf das Polster hinzulegen, als hätte sie nun sein, des Gatten, ihr nun rätselhaft gewordenes Antlitz zu bedeuten, diese schmerzhafte fast übermütige Art, in der zugleich eine milde Warnung und die Bereitwilligkeit des Verzeihens ausgedrückt schien, gab Fridolin die sichere Hoffnung, daß sie, wohl in Erinnerung ihres eigenen Traumes -, was auch geschehen sein mochte, geneigt war, es nicht allzu schwer zu nehmen."
Dies wiederum zeigt deutlich, daß die Beziehungsebene noch intakt ist, auch wenn sich Schwierigkeiten auf der Inhaltsebene bereits in ihrem Verhalten zueinander auszuwirken beginnen. Sein "Ich will dir alles erzählen" signalisiert Albertine jene vorbehaltslose Bereitschaft, sie als Partnerin anzuerkennen und zu akzeptieren.
Die Inhaltsebene darf in diesem Zusammenhang nicht zu eng aufgefaßt werden; denn die potentielle Störung reicht bis in die unbewußten Schichten der Persönlichkeit. Daß sie in der Lage sind, durch rückhaltlose Ehrlichkeit diese Störung zu beseitigen, hebt sie weit über das Mittelmaß üblicher Partnerbeziehungen.
Dennoch handelt es sich nicht um ein billiges Happy End, sondern es wird deutlich, daß lediglich ein psychisches Gleichgewicht der Ich-Person erreicht wurde, das keineswegs ein für allemal gesichert ist, sondern immer von neuem zu gewinnen sein wird. Dies zeigt der Schluß der Novelle, als Fridolin das Erwachen "für immer" feststellen möchte: da "legte sie ihm einen Finger auf die Lippen und, wie vor sich hin, flüsterte sie: ,Niemals in die Zukunft fragen.'"
Albertine ist in diesem Augenblick ihrem Manne überlegen; denn sie ist es, die die Zeichen des Vertrauens setzt und weiß, daß die Zukunft durchaus nicht ohne Probleme sein wird.
Schnitzler dürfte sich wohl mit Fridolin identifiziert haben. Wie dieser war auch er Arzt und führte ein bütgerliches Leben. Es wird aus der Perspektive Fridolins erzählt; Albertine charakterisiert sich selbst durch ihre Teilhabe am Gespräch, oder es wird durch eine Art inneren Mo-nologes Fridolins ihre psychische Konstellation offenbar:
"Sie nahm seine Hände, streichelte sie und sah zu ihm auf mit umflorten Augen, auf deren Grund er ihre Gedanken zu lesen vermochte. Jetzt dachte sie seiner anderen, wirklicherer, dachte seiner Jünglingserlebnisse, in deren manche sie eingeweiht war, da er, ihrer eifersüchtigen Neugier allzu willig nachgebend, ihr in den ersten Ehejahren manches verraten, ja, wie ihm oftmals scheinen wollte, preisgegeben, was er lieber für sich hätte behalten sollen. In dieser Stunde, er wußte es, drängte manche Erinnerung sich ihr mit Notwendigkeit auf, und er wunderte sich kaum, als sie, wie aus einem Traum, den halbvergessenen Namen einer seiner Jugendgeliebten aussprach. Doch wie ein Vorwurf, ja wie eine leise Drohung klang er ihm entgegen."
Es wird deutlich, daß ein Erzähler das Geschehen berichtet, wenn auch meist aus der Sicht Fridolins; dennoch hat sich dieser schon so weit aus dem Novellengeschehen zurückgezogen, daß seine Anwesenheit nur noch indirekt erschlossen werden kann, wie in der oben zitierten Stelle, die nun tatsächlich als reiner innerer Monolog hätte gestaltet werden können, wie dies Schnitzler oft genug gemacht hat. Dies hat zur Folge, daß die erzählte Welt unmittelbar, fast distanzlos, auf uns wirkt; und der Leser wird zwar nicht angesprochen, aber dennoch ins Geschehen mit hineingezogen.
Die Psychoanalyse wurde und wird von der psychologischen Forschung heftig angegriffen, vor allem ihre spekulative Grundlage. Moderne Richtungen der Psychologie gründen mehr auf empirischen Untersuchungen. Eine Interpretation auf psychoanalytischer Basis darf nicht gleichgesetzt werden mit dem Versuch, die Richtigkeit des psychoanalytischen Denkens nachzuweisen. Der Ansatz in diesem Zusammenhang ist deshalb legitim, da Schnitzlers Werk ohne Interdependenz zum Lehrgebäude Freuds kaum verstanden werden kann. Man könnte also behaupten, daß in dieser Novelle das psychoanalytische Erklärungsmodell menschlicher Existenz als Grundlage zu erkennen ist. So kann z. B. die Deutung Scheibles nicht akzeptiert werden, der das "Abenteuer" Fridolins eindeutig der Realitätsebene zuordnet:
"Die Gestaltung der geheimen Gesellschaft in der ,Traumnovelle' ist also durchaus nicht so phantastisch, wie es den Anschein haben mag; das phantastische Element ist eher das Produkt einer Gesellschaftsordnung, deren Unterscheidung zwischen offizieller und tatsächlich praktizierter Moral der strengen Abtrennung des privaten vom öffentlichen [. . .] entspricht."
Nur wenn man weiß, wie real nach der Psychoanalyse für das tatsächliche Sein des Menschen besonders Träume sind, kann man begreifen, daß dieses Erlebnis Fridolins auf derselben Ebene wie Albertines Traum anzusiedeln ist.
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