Kapitel 12 - Zukunftspläne

Ins Nichts starrend saß ich auf dem Waldboden. Ich hatte es wieder getan. Einige Meter hinter mir lag der Wolf regungslos da, vier Einstichstellen in seinem Hals. Mein dunkelgrünes Kleid zierten Blutspritzer. „So kann es nicht weitergehen", flüsterte ich entrüstet. Die Tränen waren mir ausgegangen. Ich fühlte mich leer, mein Hungergefühl vorerst gestillt. Anscheinend würde ich wirklich nicht ohne Blut auskommen, dachte ich und blickte in den Himmel. Ich konnte nicht weiterleben und so tun, als hätte sich nichts verändert. Konnte nicht riskieren, die Kontrolle zu verlieren und jemandem etwas anzutun.

Sollte ich wegrennen? Ein trockenes Lachen entwich mir bei dem Gedanken. Wohin sollte ich gehen?

Mein Blick schweifte über die Bäume und ich kaute nachdenklich auf meiner Unterlippe rum. Hier könnte ich nicht bleiben, sie würden mich finden. So wie ich Willfried einschätzte, würde er bei seiner Rückkehr sofort einen Suchtrupp losschicken. Nicht, weil er sich um mich sorgte. Er hatte mehr als deutlich gemacht, was ich für ihn war. Eigentum. Und seinen Besitz zu verlieren würde eine teuflische Wut entfachen, da war ich mir sicher. Aber ich konnte nicht so weiterleben. Wenn er meinen Körper nochmals mit Blessuren dekorieren würde, wäre ich verloren.

Wie könnte ich meine schnelle Heilung erklären? Dazu kam die dunkle Vorahnung, dass das Monster in mir sich wehren würde. Was, wenn ich ihn verletzte? Ihn unabsichtlich ermordete?

Mein Leben wäre verloren. Ich würde als Hauptverdächtige angesehen werden und wenn sie den Leichnam begutachteten, würde die Polizei den Zusammenhang zu dem toten Jäger im Wald sehen. Zu den zwei toten Tieren. Das war natürlich angenommen, sie würden gefunden werden, aber irgendwann würde es soweit sein. Ich konnte nicht in der naiven Hoffnung leben, es wäre anders. Sie würden mich als Dämon betiteln, als Monster verfolgen.

Was, wenn ich schwanger würde? Würde mein Kind auch zu den werden, was ich nun war? Der Gedanke bereitete mir Bauchschmerzen. Bisher hatte ich Glück gehabt. So schmerzhaft meine Nächte mit Willfried waren, trug ich bisher kein Kind in mir. Es war ein gefährliches Glücksspiel, welches sich schnell wenden konnte.

Nein, ich musste handeln. Konnte und würde meine Zukunft nicht dem Zufall überlassen. Konzentriert blickte ich in den Wald. Vater hatte mal davon erzählt, dass er riesig war. Er meinte, Jäger würden nicht zu tief in die Wildnis wandern, da die Gefahr der Desorientierung zu groß war. Vielleicht war das meine Chance. Tief in den Wald zu rennen und dort zu leben. Fernab jeglicher Zivilisation.

Ich könnte mich darauf konzentrieren, Kontrolle zu üben. Vielleicht könnte ich nach einiger Zeit zurückkehren und mein Verschwinden mit einer Lüge erklären? Frustriert schnaufte ich, das würde niemals funktionieren. Wie könnte ich im Wald überleben? Vater hatte mir einiges beigebracht, aber vieles hatte ich über die Jahre vergessen. Die wenigen Pflanzen, die ich benennen konnte, waren nicht genug für das Überleben in der Wildnis. Ich könnte ein Buch über Pflanzenkunde mitnehmen, überlegte ich. Aber würde das reichen?

Wahrscheinlich nicht. Was würde ich im Winter machen? Ich könnte meinen Wintermantel mitnehmen, aber der Schnee und die Kälte würden sicherlich früher oder später zur Hypothermie führen. Würde ich überhaupt noch frieren? Wäre es wirklich so schrecklich, würde ich im Wald mein Ende finden? Immerhin würde so niemand mehr zu Schaden kommen.

Dann dachte ich an die Berge, welche hinter dem Wald in den Himmel ragten. Vielleicht könnte ich eine Höhle finden und dort den Winter überdauern. Im Endeffekt war das alles egal, dachte ich traurig. Hier bleiben konnte ich nicht. Die Gefahr war zu groß, für mich und meine Mitmenschen.

Also überlegte ich, was ich mitnehmen müsste. Wie würde ich das alles transportieren? Willfried hatte zwei Koffer da gelassen. Vielleicht könnte ich sie mit meiner neu gefundenen Stärke tragen. Ich müsste es zumindest versuchen. Dann kam mir ein anderer Gedanke. Würde ich packen, dann wäre klar, dass ich freien Stückes gegangen war. Geflohen war. Sie würden die Stadt durchsuchen und am Bahnhof nachforschen. Sicher würde keiner auf die Idee kommen, ich würde in den Wald wandern.

Seufzend blickte ich auf den toten Wolf. Ich musste es tun.

Also konzentrierte ich mich erneut auf meine Packliste. Kleidung für jedes Wetter. Es würden nicht viele Kleider in die Koffer passen, also müsste ich gut überlegen. Dann fiel mir wieder Vater ein. Gemäß seinem freien Geist hatte er meinen Wunsch erfüllt, als ich ihn eines Tages um eine Hose bat. Vater hatte mich amüsiert angeschaut und wir hatten es als unser kleines Geheimnis behalten, dass ich für eine Dame so unpassende Artikel besaß. Ich hatte die Kleidung separat eingepackt und hinten im Kleiderschrank versteckt, damit die Bediensteten sie nicht finden würden.

Zu der Zeit hatte ich die Sachen aus sentimentalen Gründen mitgenommen. Ein letzter physischer Beweis für meine Freiheit. Jetzt würde die Kleidung meine Flucht erleichtern.

Des Weiteren würde ich Lebensmittel brauchen. Präferiert welche, die sich einige Zeit halten würden. Ich hatte in der Küche ein paar Dinge gesehen, die dazu passen würden.

Meine Haarbürste, Seife und eine Decke kamen ebenfalls auf die Liste. Und vielleicht ein kleines Kissen. Im Salon hatte ich ein Buch über Pflanzenkunde gesehen. Warum Willfried sowas hatte, wenn er keinerlei Interesse an der Natur hatte, war mir ein Rätsel. Vielleicht um die Persona zu unterstützen, die er sich erstellt hatte? Wundern würde es mich nicht, dachte ich und erhob mich langsam. Ich müsste nachts fliehen, ansonsten würden die Bediensteten schneller aufmerksam werden.

So könnte ich im Schutz der Dunkelheit wegrennen und würde erst am Morgen als verschwunden bemerkt werden. Willfrieds Charakter half mir in der Hinsicht. Er wollte nicht, dass die Bediensteten in seinem Haus wohnten. Das Konzept war für ihn sinnfrei. Leise lachend erhob ich mich. Mein Ehemann war ein sadistischer Mensch, aber das half mir jetzt. Eines stand fest, bemerkte ich nüchtern. Würde ich fliehen, könnte mich keiner finden. Die Konsequenzen würden fatal sein.

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