Kapitel 1.2.
Ellie achtete kaum auf den Weg, als sie sich mit Kalem auf den Weg zur Magnetbahn machte. Obwohl der Zug durch Magnetspulen einige Zentimeter über dem Boden schwebte und durch runde Tunnel quer durchs Land schoss, dauerte es noch eine Weile, bis sie in ihre Heimatstadt gelangten. Das Unbehagen darüber, wenn Ellies Eltern erfahren würden, dass sie noch immer unter dem Strich stand, wuchs in ihr wie ein Geschwür.
»Bis zur Prüfung schaffst du die Punkte, Ellie. Ich werde dir helfen«, sprach Kalem zuversichtlich und sah aufmunternd zu seiner besten Freundin. Seine Trainingstasche baumelte fast schon lässig an seiner Schulter, während Ellie das Gefühl hatte, als würde ihr Arm bei der nächsten Bewegung abfallen.
»Ich habe Angst, dass es knapp wird. Denn wenn Olin mich auch in diesen Stunden so behandelt wie die letzten Wochen, dann...« Missmutig kickte sie einen Stein über den Boden und wich einem rennenden Schüler aus, der versuchte, die nächste Bahn zu schaffen. »Außerdem muss ich die Zusatzstunden mit den anderen Glücklichen des roten Bereichs absolvieren. Da kannst du mir unmöglich helfen. Du musst selbst für die Prüfungen lernen.«
»Die praktischen Übungen kannst du vielleicht nicht mit mir machen, aber die Theorie können wir zusammen lernen und bis zur Prüfung stehst du über dem Strich«, versuchte Kalem weiter Ellies Laune zu heben, doch er wusste wie sie, dass sich diese bis nach dem Gespräch mit ihren Eltern sowieso nicht ins Positive ändern würde. »Wenn du willst, dann kann ich für dich ein paar Übersichten erstellen oder deine holografische Karte optimieren. Was hältst du davon?«, schlug er vor und augenblicklich hob Ellie ihren Kopf.
»Beleidigst du gerade indirekt meine Konstruktionskünste?« Ihre grünen Augen waren zu Schlitzen verzogen und entlockten ihrem besten Freund ein Grinsen.
Kurz zuckte er die Schultern. »Wenn du die farbigen Punkte und Kringel als Landkarten und deine künstlerischen Fähigkeiten bezeichnest, dann ja.«
Empört schlug Ellie ihm gegen den Arm. »Das sind nicht nur Punkte und Kringel. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben!« Nun grinste Elienor auch und Kalem legte einen Arm um ihre Schulter.
»Wenn du meinst. Aber du musst doch zugeben, dass meine Karte von Phandalin deutlich realitätsgetreuer ist als deine.« Ein kurzer Seitenblick genügte, dann lachte Kalem auch schon los.
Ellie rollte mit den Augen und seufzte. »Na schön. Wenn du so darauf beharrst, meine Karten zu perfektionieren, dann gewähre ich es dir.«
Kalems bernsteinfarbene Augen funkelten freudig und als sie die Treppe nach unten zum Gleis gingen, stand bereits das weißgraue Gefährt reglos vor dem runden Tunnel, dessen Innenwände von gelben Scheinwerferlicht erleuchtet wurden. Sie stiegen ein und ergatterten vier Sitzplätze. Im selben Moment sprang Lor durch den Spalt, während sich die Türen hinter ihm bereits schlossen.
»Das war knapp«, schnaufte er und legte die Tasche neben sich auf den Sitz. Mit den Fingern strich er sich seine braunen Strähnen aus der Stirn und lächelte Ellie zu. »Ihr wart so schnell weg, alles okay?«
»Wir waren gar nicht so schnell weg«, entgegnete Ellie und versuchte sich nicht Olins finstere Miene zurück vor die Augen zu rufen. »Ich bin im roten Bereich«, ergänzte sie und sah auf ihre Finger.
»Verdammt, tut mir leid.« Lor drückte kurz ihre Hand und obwohl sie sich so mies fühlte, durchfuhr Elienor ein Schauer. »Hast du schon mit Olin gesprochen? Kann ich dir irgendwie helfen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ja, wir haben direkt danach geredet und er will mir nochmal eine Mail schreiben, welche Zusatzstunden für mich am sinnvollsten sind, um die meisten Punkte rauszuschlagen.«
»Das klingt doch nicht schlecht.«
Ellie zuckte mit den Schultern und kramte nach dem Scale in ihrem Rucksack.
Das multifunktionale Gerät war etwas schmaler als die Handys und viel dünner und so biegsam, dass man es sich als Armband umlegen konnte - für den Kampf sehr nützlich.
Als Ellie es endlich in der Hand hielt, aktivierte sie die holografische 3D-Anzeige.
»Was habt ihr vor?«, fragte Lor, der interessiert dabei zusah, wie Ellie durch ihre Dateien scrollte.
»Kalem will damit angeben, dass er besser im Konstruieren ist als ich«, entgegnete Ellie und legte sich den Scale auf die Beine. Im nächsten Moment öffnete sich die holografische Karte wie ein Brett zwischen ihnen.
»Warum sind die Einsamen Berge höher als die Felsspitzen in Ohre?«, fragte Lor nach kurzem Überblicken der Karte und zeigte auf die Berge im Osten, hinter denen sich auch die Kampfhochschule befand.
Ellie warf ihm einen bösen Blick zu. »Ich hatte nicht viel Zeit die Karte zu konstruieren, okay? Außerdem wissen wir nicht, ob die Thunderrocks jetzt immer noch genauso groß sind wie damals, als sich irgendjemand gedacht hatte, das abmessen zu müssen. Immerhin stehen sie im Dunklen Meer. Die können absacken.«
Mit erhobenen Händen lehnte sich Lor wieder zurück. »Das war kein Angriff, Ellie.« Seine Augen ließen sie einen Moment starr den Blick erwidern, dann riss Kalem sie wieder in die Wirklichkeit.
»Gut, da wir uns jetzt schon Mal im Norden des Landes befinden: Ellie, ist das hier der Ancoswald?« Mit dem Finger fuhr Kalem die Kringel entlang, die sich von den Spitzen der Einsamen Berge im Norden bis zur Westküste über die Hauptinsel zogen.
»Das sieht man doch«, murrte Ellie.
Kalem grinste sie schelmisch an und auch wenn sie wusste, dass er das nur tat, um sie aufzumuntern, klappte es nicht ganz. »Na schön, machen wir östlich des Ancoswaldes weiter. Dort ist der Minnesend-Lake. Er ist eigentlich nicht ganz in der Mitte der Insel, doch nicht weiter schlimm. Immerhin stimmt die Thistleberry Farm.« Er zoomte mit den Fingern an den gelben Punkt heran, neben dem in kleinen Buchstaben Farm stand. »Okay, lassen wir die Detailbesichtigung weg.«
Ellie warf ihm einen bösen Blick zu und zeigte stattdessen auf den winzigen Häuserteppich, der sich am westlichen Hang der Einsamen Berge bis zur Hügelebene Ancos' ausbreitete. »Schau mal. Ich habe sogar die Stadtmauer gekennzeichnet.«
»Ein wirklich toller schwarzer Strich«, meinte Lor und legte den Kopf schief. »Die Stadt ist nicht ganz so oval, eher verteilt, aber wie Kalem bereits sagte: keine Detailbesichtigung.«
»Bei Cerulis hat sie sogar mit Details gearbeitet«, erwähnte Kalem und zoomte heran. »Das Ratsgebäude steht im Nordwesten auf dem Hochplateau und der Wasserfall landet im See hinter dem Marktplatz. Die blauen Linien sollen bestimmt die Kanäle darstellen. Sie teilen auf der Karte zwar nicht die Straßen und Häuser, aber sie sind vorhanden.« Er zoomte wieder heraus und warf Ellie einen Blick zu. »Das ist eine wirklich tolle Darstellung unserer Hauptstadt. Der wundervoll deformierte Kreis einer Stadtmauer drumherum wäre aber nicht nötig gewesen.«
Ellie starrte eine Weile auf den großen gelben Punkt, neben dem Cerulis stand. Sie wollte noch irgendwas sagen, sich rechtfertigen, dass sie, mal wieder, zu spät angefangen hatte und die Zeit eben nicht ausgereicht hatte.
Kalem fuhr aber bereits fort: »Der Engelsplatz ist am richtigen Ort, doch rechts davon stehen nicht so viele Bäume, immerhin kommen da steile Klippen, die kannst du also streichen«, sinnierte Kalem, als er mit dem Finger an der nordöstlichen Grenze des Landes entlangfuhr. Als er den am östlichsten Punkt des Landes stehenden Turm identifizierte, lachte er los. »Sehr schön, Ellie. Phandalin ist stolzer Besitzer der größten Taschenlampe der Welt.«
Empört schnappte sie nach Luft. »Das ist keine Taschenlampe.«
»Naja, das Licht kommt aber nicht senkrecht aus dem Dach geschossen.«
»Ich hatte nicht die Zeit einen Leuchtturm zu konstruieren«, wiederholte sie sich genervt.
»Dafür ist Jiafa an seinem Platz«, merkte Lor an und Ellie warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Die Bucht hat ein gutes Maß im Verhältnis zum Rest der Karte.«
Kalem nickte. »Und nach der Landzunge in Teheco kommt direkt die Brücke, die die Palastinsel mit der Hauptinsel verbindet. Dahinter liegt der Strand und direkt daneben beginnt wieder der Ancoswald.« Sein Finger blieb im Südwesten der großen Hauptinsel stehen und er blickte zu Elienor. "Vielleicht kannst du noch Cahlruh einfügen, auch wenn das jetzt nur noch Ruinen sind."
»Die Palaststadt ist nicht detailreicher als Cerulis, aber ich habe den Palast etwas abseits gestellt und hier ist sogar Cagard«, erklärte Ellie stolz, als sie auf die untere linke Ecke ihrer 3D-Karte hinwies und die letzten beiden Inseln Phandalins antippte.
»Cagard zu konstruieren ist auch nicht wirklich schwer. Ein einfacher Kreis reicht da schon«, bemerkte Kalem und sah Ellie schiefgrinsend an. »Aber es freut mich, dass du den Gefangenen dort auf der verseuchten Insel Beachtung schenkst.«
»Das Chaos wurde eingedämmt, Kalem«, berichtigte Lor.
»Jaja, ich weiß, aber die dunklen Farbnuancen hinterlassen immer einen Nachgeschmack auf meiner Zunge, wenn ich daran denken muss.«
»Solange du dort nicht landest, sollte dich das nicht weiter stören.« Ellie schaute auf die südwestliche Landesgrenze, an der sie die Auswirkungen des Chaos als dunkle Stellen flächig dargestellt hat. Sie wollte die Karte wieder schließen, da fuhr Kalem mit der Hand dazwischen.
»Hey, nicht so schnell. Willst du mir die Karte nicht noch zuschicken?«
»Ich kann sie auch für dich bearbeiten«, warf Lor ein. Seine Augen fesselten Ellie und beinahe hätte sie vergessen zu atmen.
Sie schüttelte den Kopf. »Nichts für ungut, aber Cagard ist bei deiner Insel wirklich nur ein Kreis. Klippen und unförmige Strände scheinen dir da Fremdwörter gewesen zu sein.« Sie sendete Kalem ihre Karte zu. »Und Kalem hat nun mal Kunst als Nachmittagskurs.«
Empört schnaubte Lor. »Ich war noch nie auf Cagard und habe auch kein Bedürfnis, mir die Gefängniszellen anzusehen.«
»Die Geografie Cagards steht auch in Büchern, das ist also keine Ausrede dafür, dass du die Struktur nicht konstruiert hast.«
Kalem hielt seine Hand zwischen Lor und Ellie. »Genug. Lor, ich gebe dir Recht, dass du ebenfalls die Karte nachbessern könntest. Aber du hast dein Ruderteam und ich massig Zeit. Und Ells«, er richtete seinen Blick auf seine beste Freundin, »wir wissen, dass du ein Geschichts-Nerd bist, also lass den armen Lor in Ruhe.«
»Fein.« Sie lächelte Lor zu und tatsächlich war ihr Frust über die geringe Punktzahl etwas vergessen. »Weißt du was ich glaube?« Sie lehnte sich zurück und guckte Kalem dabei zu, wie er seinen Scale um das Handgelenk schloss. »Mein Vergangenheits-Ich hat gewusst, dass du vor den Prüfungen so wenig zu tun haben wirst. Deshalb hat es mit Absicht eine so grauenhafte und nicht maßstabsgetreue Karte angefertigt, damit du sie ausbessern kannst.«
»Ganz bestimmt«, schmunzelte Kalem und blickte zur Tür. Die Magnetbahn schoss durch die Tunnel und außerhalb der Fenster sah man nur die vorbeifliegende Wände.
»Nächster Halt: Cerulis - Mitte«, lautete die mechanische Durchsage.
Ellie umfasste die Träger ihrer Trainingstasche und schluckte.
Das wird ein Spaß ... nicht.
[...]
Cerulis besaß mehrere Haltestellen, da sich die Hauptstadt über die Plateaus der Berge verteilte und zusätzlich von schmalen Flüssen geteilt wurde. Lor musste schon die erste Haltestelle aussteigen und so stiegen Kalem und Ellie erst wenige Minuten später hinaus.
Ellie war froh, nicht mehr in der stickigen Bahn zu sitzen. Der laue Herbstwind brachte Düfte von Laub und frischen Blumen mit sich. Genüsslich sog Ellie die Luft durch ihre Nase. Ein paar Sekunden lang war der Gedanke, ihren Eltern erzählen zu müssen, dass sie noch immer im roten Bereich war, verschwunden. Doch dann kehrte er mit dem nächsten Wimpernschlag wieder zurück.
»Lass uns noch einen Spaziergang machen und das gute Wetter ausnutzen bevor der Winter kommt.«
Kalem richtete sein schwarzes Bandana und stemmte die Hände in die Seiten, ehe er in die Sonne blinzelte. »Ich weiß, dass du nicht nach Hause willst, Ellie. Aber wenn du es deinen Eltern nicht sagst, dann werden es spätestens die Mails der Schule für dich erledigen.«
Ellie biss sich auf die Lippe. Sie wusste, dass Kalem recht hatte. Je länger sie sich absichtlich von Zuhause distanzierte und vermied, zu ihren Eltern zu gehen, desto schlimmer würde die Anspannung und Unruhe in ihr werden. »Vielleicht können wir auch einen Blumenstrauß für deine Mom besorgen?«, versuchte sie, nochmal ihren besten Freund umzustimmen.
Kalem strich sich durch einzelne, hellblonde Zotteln seines Haares und lächelte ihr zu. »Na schön, du hast gewonnen, aber wir gehen nur zu dem Blumenladen um die Ecke.«
Ellie nickte. Solange sie jetzt noch nicht nach Hause musste, war ihr alles recht.
Sie drehten dem Tunnel der Bahnstation den Rücken zu und begaben sich in die entgegengesetzte Richtung. Sie befanden sich direkt an einer Balustrade, die einen unglaublichen Blick auf die Stadt gewährte.
Wie in Elienors Kartenkonstruktion standen die Häuser verteilt auf dem Hang der Einsamen Berge. Pultdächer und kleine Dachterrassen zogen sich runter bis zur Stadtmauer und wurden nur von Kanälen oder Bäumen unterbrochen. Elienor und Kalem nahmen nicht die breite Hauptstraße, die sich vom Stadttor über mehrere Brücken bis zum See hinauf wand, sondern die zwischen Häusern und unter Arkaden liegenden Treppen und Gassen.
»Wie viele Bücher hast du dieses Jahr eigentlich schon gelesen?«, fragte Ellie, um die Stille etwas zu lockern und weiter gegen ihre Anspannung vorzugehen.
»Nicht so viele, das deprimiert mich wirklich«, gestand Kalem und seufzte theatralisch. »Ich glaube, in den letzten neun Monaten waren es tatsächlich nur neunundsechzig.«
Ellie stolperte drei Stufen runter und hielt sich an der Hauswand neben ihr fest. »Nur neunundsechzig?« Kalems Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen, als er sich zu Ellie umdrehte. »Ich habe vielleicht dreißig gelesen. Und mindestens sieben waren für den Unterricht«, sprach sie.
»Tja, Bücher ziehen mich eben magisch an.«
»Stimmt ja. Deinen Wissensdurst zu stillen ist, als ob man ein Leck im Boot mit einem Schwamm zu stopfen versucht.«
Kalem lachte kopfschüttelnd und blieb dann vor dem Blumenladen stehen. Während er seinen Blick über die verschiedenen Blumentöpfe und Pflanzen schweifen ließ, hefteten sich Ellies Augen an das verdunkelte Schaufenster, an dessen Scheibe eine holografische Nachrichtenübertragung lief.
Leider hatte jemand, vermutlich der Geschäftsinhaber, den Ton abgestellt, deshalb konnte Ellie nur die schriftliche Anzeige unterhalb des abgebildeten Ratsgebäudes lesen: »Besprechungen mit dem Komitee für Überseeverhandlungen abgeschlossen. / Möglicher Rohstofffund in den Minen Cagards. / Kooperation zwischen Neer-Technik und Eliteeinheit geplant. /...«
»Die Geranien sind wirklich wunderschön, haben Sie vielen Dank.«
Ellie drehte ihren Kopf und sah Kalem, wie er der Verkäuferin einen Topf hellrosaner Geranien abnahm, bezahlte und ihr mit einem Kopfnicken zu verstehen gab, dass sie gehen konnten.
»Und? Gibt's Neuigkeiten?«
»Das übliche. Sitzungen und Besprechungen über den Handel und die Übersee.« Ellie strich über eines der Blütenblätter. »Die werden deiner Mutter bestimmt gefallen.«
»Das glaube ich auch. Apropos geplante Sitzungen: Denkst du, dass wir jemals in das Ratsgebäude schauen können, ohne etwas verbrochen haben zu müssen?«
Ellie musste etwas grinsen. Verglichen mit dem imposanten Ratsgebäude sahen die Wohnhäuser aus wie die in einem Märchen. Sie wurden aus Holz oder Backsteinen gebaut und einige hatten große Fenster, andere wiederum kleine, eckige oder runde. Erker schoben sich in der ersten Etage über die Straßen und Kanäle und die vollbewachsenen Blumenkästen und Bäume, die sich in den Gassen an die Hauswände schmiegten, strahlten eine unglaublich mysteriöse Anziehungskraft aus.
Das Ratsgebäude hingegen war ein gigantischer Bau aus hellen Steinen, mit großen Fenstern aus buntem Glas, kleinen Zinnen und Türmchen, Giebeln über den Fenstern und Fries mit Wellenmustern. Kalem wollte es schon immer mal von innen sehen und auch Ellie musste zugeben, dass sie das Innere interessierte.
Bevor sie Kalem jedoch eine Antwort geben konnte, ertönte hinter ihnen plötzlich eine kindliche Stimme.
»Elienor! Kalem!«
Augenblicklich blieben sie stehen und drehten sich um. Ein mittelgroßer Junge, zehn Jahre alt, dessen schwarzes Haar ganz durcheinander war, rannte auf sie zu.
»Elmon, was machst du hier?«, fragte Elienor ihren kleinen Bruder, der neben ihr zum Stehen kam und seine Rucksackträger mit beiden Händen umklammert hielt.
»Mama hat mir geschrieben, dass wir sofort nach Hause kommen sollen. Papa und sie wollen uns etwas Wichtiges sagen«, wandte sich Elmon nun an seine Schwester. Diese blickte auf die Geranien und sah dann wieder in Elmons Augen. Ihr Magen zog sich zusammen und als sie schluckte, hatte sie einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Ob ihre Eltern schon Bescheid wussten?
Zitternd krallte sie ihre Finger in den Träger ihrer Tasche. »Ich wollte noch kurz zu Kalem. Die Blumen würden seiner Mutter bestimmt gefallen. Komm doch mit? En freut sich bestimmt, wenn du ihn besuchst.«
Elmons Mundwinkel zuckten kurz, doch dann schüttelte er entschieden den Kopf. »Wir sollen nach Hause, es scheint wirklich wichtig zu sein.«
Wenn Olin Bescheid gegeben hatte, dass sie noch immer unter dem Strich stand, und sie war sich ziemlich sicher, dass bereits so eine Nachricht geschickt wurde, dann würde sie Ärger bekommen. Ellie ließ die Schultern sinken. »En zu besuchen ist aber auch wichtig. Du freust dich doch sonst immer, wenn du zu ihm kannst.«
»Wir können ihn auch danach noch besuchen gehen. Der Nimmerschlaf hindert ihn schließlich am Weglaufen.« Das schienen Elmons letzte Worte gewesen zu sein, denn er drehte sich um und ging wieder den Weg zurück. Sprachlos blickte Ellie ihm hinterher.
»Mach dir nichts draus. Schaut einfach heute Abend vorbei.« Kalem legte seine Hand auf ihre Schulter.
Elienor blickte von Elmon zu Kalem. »Er hat noch nie eine Möglichkeit abgeschlagen, En sehen zu können. Und die Bemerkung, dass er ja im Nimmerschlaf läge, passt nicht zu ihm.« Sie blinzelte ihrem Bruder hinterher.
»Er und En sind beste Freunde. Die Sache mit dem Unfall damals nimmt ihn ganz schön mit«, bemerkte Kalem. »Ich wäre aber auch am Boden zerstört, wenn meine beste Freundin von jetzt auf gleich in den Nimmerschlaf fallen würde.«
Kalem drückte sanft ihre Schulter und nickte Ellie geschlagen. »Na schön. Wir schauen heute Abend nochmal vorbei, sofern mir meine Eltern keinen lebenslangen Hausarrest aufdrücken.« Sie drückte kurz Kalems Hand.
»Das wird schon. Wir sehen uns«, sprach er.
Dann rannte Ellie zu ihrem Bruder, der bereits die Brücke überquerte, die auf die Hauptstraße führte.
»Ist alles okay bei dir?«, fragte sie und sah Elmon an. »Du wirktest etwas komisch eben.«
Elmon runzelte die Stirn. »Komisch?«
»Naja, du wolltest En nicht sehen.«
Langsam schüttelte er den Kopf. »Das stimmt so nicht. Die Nachricht von Mama klang nur sehr dringend und ich wollte nicht unnötigen Ärger provozieren, indem wir uns aufhalten lassen und verspäten.«
Ellie nickte. Elmon zu verstehen war manchmal etwas schwer. Manchmal vergaß sie, dass er erst zehn Jahre alt war, obwohl er durch sein Potenzial und seiner Ausdrucksweise älter wirkte. Dass er versuchte, jedem Ärger aus dem Weg zu gehen, war eine weitere Eigenart an sich und Ellie wollte auch nicht, dass er irgendwelche Schimpftiraden ihrer Mutter abbekam, nur weil sie sich vor Zuhause drückte.
»Wir haben heute den Test zurückbekommen, den wir letzte Woche über den anatomischen Aufbau des Menschen geschrieben haben«, riss Elmon sie zurück in die Realität. Stolz blickte er zu Elienor auf und zeigte ihr im Laufen das Testergebnis auf seinem Scale. Am oberen Rand schimmerte die volle Punktzahl, daneben ein großes A+.
Ellie konnte nicht verhindern, dass sich Neid in ihr ausbreitete. Trotzdem lächelte sie, als sie sagte, dass sich Mama ganz bestimmt darüber freuen wird. Jetzt funkelten Elmons grüne Augen noch stärker. Die Augen – das Einzige, das Ellie von der jahrelangen Genetik ihrer Familie geerbt hatte. Seit Generationen hatten alle in ihrer Familie schwarze Haare und grüne Augen und sie kam - oh Wunder - mit braunem Haar auf die Welt. Ein kurzer Schock - das Drama darum verstand Ellie bis heute nicht.
Die Geschwister bogen nach rechts in die Gasse ein und hielten auf das helle Backsteinhaus zu. Wie fast alle Häuser in Cerulis wurde auch ihr Zuhause von einem zwei Meter breiten Kanal von der Straße getrennt, und nur über eine schmale ebenerdige Brücke gelangte man ins Haus. Rosenranken wuchsen an Spalieren neben der Haustür nach oben bis unter das dunkle Dach, das zur Vorderseite des Hauses abfiel.
»Mama!«, rief Elmon, nachdem beide eingetreten waren und der Duft nach Kräutern und Erde ihre Nase umhüllte. Braune Tontöpfe standen in den Ecken und Fensterbrettern. In Regalen und Nischen stapelten sich Blumenkübel und leere Gemüsekisten.
»Mama, ich habe ein ‚Ausgezeichnet' im Anatomietest bekommen. Die volle Punktzahl, schau!« Elmon warf seine Schuhe in die Ecke und rannte in die Küche.
Ellie räumte die Schuhe von Elmon und sich ordentlich in den rechten Wandschrank, dann betrat sie die Küche und ging bis hinter in den kleinen Gartenraum. Ihre Mutter stand an einer kleinen Werkbank. Schräge Dachfenster über ihr ließen den blauen Himmel durchscheinen und mit der erdbefleckten Hand wischte sich Jezebel Allistair eine schwarze Strähne aus dem Gesicht. Das Tuch auf ihrem Kopf war verrutscht und ihre Wangen vor Anstrengung gerötet.
Sie lächelte Elmon an, drückte ihm einen Kuss auf den Kopf und strich ihm über die Wange. »Ich bin sehr stolz auf dich, Elmon.« Dann wandte sie ihren Blick über die auf der Ecke stehenden Orchideen hinweg zur Tür, in der Elienor noch immer schweigend stand und meinte: »Euer Vater und ich müssen etwas mit euch besprechen. Kommt bitte.«
Es dauerte einige Sekunden, ehe Ellie ihre Hand von der Tür löste und durch die Küche in das Wohnzimmer nebenan ging. Die schrägen Fenster zogen sich auf dieser Seite der Decke durch und wiesen auch hier auf den wolkenlosen Himmel hin. Direkt darunter stand das Sofa und darauf saß Victor Allistair, dessen schwarzes Haar bereits von grauen Strähnchen durchzogen wurde. Er rückte seine dicke runde Brille zurecht und wies auf die zwei Sitzhocker vor dem leeren Kamin, auf denen sich Ellie und Elmon niederließen.
Als sich auch Ellies Mutter neben ihren Mann gesetzt hatte, kehrte der Druck in Ellies Brust mit aller Macht zurück. Angespannt schluckte sie und sah abwechselnd in die Augen ihrer Eltern, während ihre Finger sich in den Ärmelsaum ihres Pullovers verkrampften.
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