9 - Im Inneren

Kapitel 9 - Im Inneren

„Vielen Dank, Herr Schiffer. Bitte begeben Sie sich jetzt an Ihren Platz“, sagte Dr. Kuchiki scheinbar unbeeindruckt von Ulquiorras Worten, während seine Hand in die Seitentasche seiner Anzugjacke verschwand um sein Mobiltelefon herauszuholen.

Bei den anderen in der Klasse trug Ulquiorras Aussage ebenfalls nur zur Heiterkeit bei und einige machten sogar eindeutige Gesten, dass der blasse Junge nicht ganz richtig im Kopf sein musste. Nur Grimmjow starrte ihn mit zusammengezogenen Brauen an: „Mann – wie bescheuert muss man eigentlich sein. Dir ist klar, dass Kuchiki gerade dabei ist eine SMS an Yoruichi zu tippen, die das dann gleich an die Bullen weiterleitet? Ich gehe jede Wette ein, dass Dich jemand direkt nach der Stunde einsammeln wird, bei dem, was Du da gerade von Dir gegeben hast“, flüsterte Grimmjow Ulquiorra ins Ohr als dieser an seinen Platz zum Stehen kam.

„Und was genau glaubst Du, habe ich gerade gesagt?“, Ulquiorra sah ihn nur kurz an, dann beugte er sich etwas vor, um nach hinten in das Transportnetz zu greifen und ein Heft und eine Mappe mit Stiften herauszuholen. Das Helft bekam er ohne Probleme herausgezogen, doch die schmale Mappe verhedderte sich im Netz.

Grimmjow beobachtete Ulquiorras vergebliche Versuche, die Stifte freizubekommen. Mit einem „Tse“ schubste er die blassen Hände zur Seite und befreite die Mappe, die er dann auf den Tisch warf.

„Herr Schiffer hat von Schuld gesprochen.“ Die scharfe Stimme von Dr. Kuchiki ließ jegliches Gemurmel im Raum verstummen. “Daher machen wir heute einen kleinen Exkurs zum Begriff der Schuld“, fuhr er fort, stoppte für einen Augenblick um auf sein Handy zu sehen und es daraufhin zurück in die Jackentasche zu stecken. Dann drehte er sich um und schrieb das Wort Schuld groß an die Tafel: „Mit der Schuld, im Sinne des Strafrechts, sind die meisten von ihnen gut bekannt. Wir werden uns heute jedoch mit dem ethisch-philosophischen Begriff der Schuld beschäftigen.“

Grimmjow blickte nach vorne. Während Dr. Kuchiki weiter sprach und die Begriffe Verantwortung, Pflicht und Konditionierung aufschrieb, dachte der Blauschopf nach. Dabei betrachtete er Ulquiorra immer wieder aus den Augenwinkeln.

Er verstand diesen Kerl einfach nicht. Einerseits war der so kontrolliert, dass es Grimmjow schon fast unheimlich erschien. Andererseits diese Ausfälle. Sicher war nur, dass Ulquiorra etwas verbarg. Die Prinzessin glaubte, dass er von schweren Schuldgefühlen geplagt wurde, weil er den Tod seiner Eltern nicht hatte verhindern und stattdessen nur hilflos hatte zusehen können.

Was die Prinzessin meinte, konnte er durchaus nachvollziehen. Grimmjow wusste ganz genau, was es bedeutete sich hilflos und schuldig zu fühlen. Doch was den Aspekt der Hilflosigkeit anging, da war er sich bei Ulquiorra nicht sicher. Der Kleine hatte etwas an sich, dass in ihm alle Alarmglocken laut aufheulen ließ. Sein Instinkt sagte ihm, dass der Andere gefährlicher war als er aussah. Er war nicht nur viel kräftiger als man es ihm zutraute, er hatte auch gute Reflexe und dazu war er auch noch so verdammt intelligent.

Das Letzte machte Grimmjow am meisten zu schaffen. Er war die ganze Zeit hin- und hergerissen zwischen Sympathie und Abneigung. Zwar nannte er ihn „Kleiner“, sorgte sich nichtsdestotrotz darum, dass der leichenblasse Kerl Orihime gefährlich werden und sie in irgendeiner Weise verletzen konnte.

Gerade dadurch, dass Ulquiorra so ein verdammt schlaues Kerlchen war, hatte er bestimmt schon herausgefunden, welche Knöpfe er bei der Prinzessin drücken musste, um ihre Seele wie ein Kartenhaus zusammen fallen zu lassen. Dazu hatte Grimmjow noch Bedenken, ob er selber in der Lage war, zu erkennen wann Ulquiorra mit ihm spielte. Bei so was verließ er sich ganz auf seine Instinkte. Aber auch das würde der Kleine mit Sicherheit einkalkulieren.

Grimmjow fuhr sich mit einer Hand genervt durch die Haare. Diese Gedanken führten zu nichts. Bei der nächsten Gelegenheit, so beschloss er, würde er Ulquiorra zur Rede stellen. Wenn er diese überhaupt noch bekam. Egal, wie man es drehte und wendete, der Kleine hatte gerade den Mord an seinen Eltern gestanden. Oder etwa nicht? Hatte der blasse Junge seine Alten wirklich in dieser Art und Weise über die Klinge springen lassen?

Er schielte wieder zu Ulquiorra herüber, dabei drangen vage Dr. Kuchikis Ausführungen zu ihm durch: „Schuld als Gefühl ist eine vielschichtige und starke Emotion, die sich nur schwer kontrollieren lässt. Wir sind ihr so gut wie immer hilflos ausgeliefert, selbst wenn wir uns bewusst sind, dass es keinen rationalen und nachvollziehbaren Grund für das Empfinden der Schuld gibt.“

Sein Blick wanderte weiter über Ulquiorras fast makelloses Gesicht, das nur von den schmalen hautfarbenen Pflastern, die immer noch längs über seine Wangen geklebt waren, verunstaltet wurde. Erstaunt bemerkte er, wie tiefschwarz und lang die Wimpern des anderen Jungen waren und wie sanft geschwungen seine, wenn auch ebenfalls sehr blassen Lippen wirkten. Fast wie die einer Frau.

Der Blauschopf schnaubte und schüttelte den Kopf bei diesem absurden Gedanken, woraufhin Ulquiorra ihn mit seinen tiefgründigen Augen ansah und fragend eine Augenbraue hob. Doch Grimmjow ignorierte ihn, schlug sein Heft auf und begann darin herumzukritzeln.

Auch wenn der Andere gefährlicher war, als es auf den ersten Blick schien, so fiel es Grimmjow schwer, sich den blassen Jungen tatsächlich als kaltblütigen Mörder vorzustellen. Das war keine spontane Tat gewesen, so wie bei ihm, als er seinen Frust an diesem Idioten ausgelassen hatte. Damals hatte er die Kontrolle verloren und sich von der Wut beherrschen lassen. Der Tod von Ulquiorras Eltern hatte mit Spontanität jedoch nichts zu tun und wer würde sich nach so einer Tat dann auch noch selber an einen Stuhl ketten und zusehen wie seine Opfer langsam ins Gras bissen? Nur ein Idiot und das war Ulquiorra ganz sicher nicht.

„Herr Jaegerjaquez, könnten sie bitte wiederholen, was ich gerade gesagt habe?“, Dr. Kuchikis scharfe Stimme ließ ihn aufschrecken. Grimmjow starrte an die Tafel und versuchte sich etwas Sinnvolles zusammenzureimen, doch sein Kopf war leer. Schließlich stotterte er etwas von Schuld als starker Emotion zusammen, was das letzte war woran er sich erinnern konnte.

„Das reicht. Hören Sie auf zu stammeln. Passen Sie ab jetzt besser auf. Es ist auch für Sie nicht zu spät, Ihren Horizont durch Wissen zu erweitern.“

Grimmjow schaffte es gerade noch sich ein erneutes „Tse“ zu verkneifen. Den Rest der Stunde bemühte er sich zuzuhören. Doch seine Gedanken kreisten weiterhin um Ulquiorra und wie abgebrüht oder verrückt dieser tatsächlich war. Erst der Gong schaffte es ihn aus diesem Russischen Gedankenroulette zu holen.

Wie er es erwartet hatte verließ Dr. Kuchiki nicht einfach den Raum, sondern blieb neben ihrem Tisch stehen: „Wären sie dann so freundlich mich zu begleiten, Herr Schiffer?“, forderte er Ulquiorra ruhig auf. Der nickte kurz, schlug sein Helft zu und legte seinen Stift waagerecht darauf.

Grimmjow sah Ulquiorra mit gemischten Gefühlen hinterher. Dr. Kuchiki schob ihn mit gleichmäßigen Schritten den Gang hinunter. Das war es dann wohl, den Kleinen würde er bestimmt nicht wiedersehen. Er beobachtete, wie Orihime aus ihrem Klassenzimmer am Ende des Ganges trat und gerade noch sah wie Ulquiorra in den Fahrstuhl gefahren wurde.

Sie blickte sofort fragend zu ihm herüber. Er zuckte nur mit den Achseln, worauf Orihime im Laufschritt auf ihn zukam. Er schlenderte ihr entgegen, die Hände in den Taschen. Abrupt blieb sie vor ihm stehen: “Was ist passiert, wo bringt Dr. Kuchiki Ulquiorra hin?“

„Der Idiot hat gerade vor Kuchiki und der ganzen Klasse den Mord an seinen Eltern gestanden“, abfällig verdrehte Grimmjow die Augen.

Orihime schlug entsetzt die Hände vor den Mund und es dauerte einen Augenblick, bis sie sich wieder gefangen hatte. „Nein, nein. Das glaube ich einfach nicht. Das kann nicht wahr sein“, sie presste ihre Hände jetzt auf seine Brust: “Grimmjow – wiederhole mir ganz genau, was Ulquiorra gesagt hat!“ Ihre Stimme klang schrill, während sich ihre Finger jetzt panisch in sein Shirt krallten. Sie blickte erwartungsvoll zu ihm hoch.

Grimmjow seufzte, dann fuhr er sich mit der Hand durchs Haar und versuchte sich an Ulquiorras Worte zu erinnern. Nachdem er diese dann zweimal wiederholt hatte, lockerte Orihime langsam ihren Griff. Ihre Augen wanderten nachdenklich hin und her bis sie plötzlich erstarrte. Dann verschwand die Verwirrung aus ihrem Gesicht. Sie lachte kurz und befreiend auf und schlug ihm auf die Brust. „Das war kein richtiges Geständnis. Er hat ´verschuldet´ gesagt. Er glaubt es nur, er hat es nicht wirklich getan“, sie lachte nochmals auf. „Wie ich sagte, er glaubt, dass er Schuld ist, weil er nichts hatte tun können. Kein Wunder, dass er so leidet.“

Grimmjow starrte sie an. Das was er von Kuchikis Vortrag über die Schuld gehört hatte, wirbelte wieder in seinem Kopf herum bis der Satz „Unbewusste Überzeugung, etwas Falsches getan zu haben“ hängen blieb. Er runzelte die Stirn, als ihm darauf Ulquiorras Antwort einfiel. Alles passte so verdammt gut. Viel zu gut und wieder hatte er dieses ungute Gefühl, dass der Kleine doch nur mit ihnen allen spielte.

„Ulquiorra wird zu Yoruichi gebracht, nicht wahr? Ich muss sofort mit ihr reden. Sie muss erfahren, wie schlecht es ihm gegangen ist - geht. Sie wird dann sofort verstehen, was da in ihm vorgeht. Dass, falls er gesteht, es nicht die Wahrheit ist. Dass er sich selber nur bestrafen will.“ Sie wirbelte herum und rannte auf die Treppe neben dem Fahrstuhl zu, bevor er sie aufhalten konnte. „ Ich schick Dir eine SMS. Bis später dann, Grimm“, rief sie ihm noch zu, bevor sie begann die Stufen runterzulaufen.

Der Gong ertönte erneut und Grimmjow blieb nichts anderes übrig als zurück in seinen Klassenraum zu gehen.
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Yoruichi nippte an ihrem Tee. Dank Kisukes Überredungskünsten war sie erst heute Morgen wieder zurückgekommen. Sie fuhr sich mit den Fingern über die Lippen und lächelte. Seinem Ideenreichtum und besonderen Argumenten war sie schon immer hilflos ausgeliefert gewesen. Schon damals. Warum es ihr in der Vergangenheit auch so schwer gefallen war, sich von ihm zu trennen. Doch sie beide hatten schon immer ihre Freiheit gebraucht und ihre eigenen Zugeständnisse waren ihr deutlich größer erschienen als das, was er bereit gewesen war für sie aufzugeben.

Rückblickend war sie sich heute nicht mehr so sicher, ob sie damals wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Manche Dinge brauchten Zeit, doch damals war sie nicht besonders geduldig gewesen. Vielleicht würde es diesmal anders laufen. Vielleicht, wer wusste das schon, würden sie diesmal einen Weg finden, der irgendwo zwischen ganz und gar nicht lag.

Sie leerte ihre Tasse und stellte sie zur Seite um ihren Laptop einzuschalten. Ihr blieben noch ein paar Minuten Zeit bis Byakuyas Stunde zu Ende war. Dessen SMS hatte sie in dem Augenblick erreicht, als sie das Wohnheim erreicht hatte.

Wieder einmal hatte Ulquiorra sie überrascht. Da sie über das Wochenende keine Nachrichten erhalten hatte, war sie davon ausgegangen, dass nichts Besonderes vorgefallen war. Was scheinbar ein Trugschluss gewesen sein musste. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Ulquiorra so eine Aussage ohne einen Anlass machen würde.

Der Laptop war bereit und Yoruichi warf einen Blick auf den Bildschirm auf der Suche nach einer Lücke in ihrem Terminkalender. Gerade die Montagnachmittage waren recht dicht gepackt. Je nachdem wie das Gespräch mit dem Jungen gleich verlaufen würde, wollte sie auf jeden Fall noch sowohl mit Orihime als auch mit Grimmjow sprechen.

Das Telefon klingelte und ihr Sekretär teilte ihr mit, dass Dr. Kuchiki sie zuerst kurz alleine zu sprechen wünschte. Sie legte auf und vergewisserte sich, dass Ulquiorras Tasche mit den Sachen, die sie ihm hatte mitbringen sollen, so hinter dem Schreibtisch stand, dass man sie von vorne nicht sofort sehen konnte. Da diese Dinge eine gewisse Bedeutung für ihn haben mussten, konnte sie sie bei Bedarf möglicherweise als Lockmittel oder als Belohnung einsetzten.

Dann erhob sie sich. Byakuya Kuchiki kannte sie fast noch länger als Kisuke Urahara und es verband sie beide eine tiefe Freundschaft. Wenn er seine Frau Hisana nicht kennen und lieben gelernt hätte, dann wäre aus dieser Freundschaft vielleicht sogar Liebe geworden. So aber war es nur bei einer, wenn auch sehr innigen Freundschaft, geblieben.

Sie ging ihm entgegen als er durch die Tür trat und umfasste seine ausgestreckte Rechte mit beiden Händen: „Byakuya, es tut gut Dich zu sehen. Wir sollten wirklich aufhören uns unsere Treffen nur von der Arbeit diktieren zu lassen.“

Auch wenn er nicht lächelte, so wusste Yoruichi dennoch, dass er sich genauso freute sie zu sehen. Der Druck seine Hand war kräftig und er hielt die ihre einen Hauch länger fest, als es bei einer einfachen Begrüßung angemessen war. In seinen Augen lag dabei die gleiche Wärme und Herzlichkeit die ihr auch sein Händedruck vermittelte.

Auf den ersten Blick mochten Byakuya und Kisuke wie Feuer und Wasser erscheinen. Doch das täuschte. Das Auftreten des schwarzhaarigen Doktors war wie immer makellos. Auch heute verunstaltete kein Staubkorn und keine Falte seinen dunklen Anzug. Bei der dunkelgrauen Weste darunter, die er über dem schneeweißen Hemd trug, hatte er, wie es sich gehörte, den untersten Knopf geöffnet. Als einziger Farbtupfer in seiner Erscheinung stachen die kleinen stilisierten rosafarbenen Kirschblüten auf seiner, mit einem perfekten doppelten Windsorknoten geschlossenen, ebenfalls grauen Krawatte, ins Auge.

Yoruichi musste lächeln. Genau das war es was die beiden Männer im Innersten sehr ähnlich machte. Kirschblüten waren die Lieblingsblumen seiner Frau Hisana und Byakya liebte sie mit stiller Leidenschaft. Genau wie Kisuke hatte er seine Prinzipien und stand für diese ohne Kompromisse und aus vollstem Herzen ein. Im Unterschied zu Kisuke jedoch, würde Byakuya dies stets Takt und Würdevoll tun. Sein Ansehen war ihm genauso wichtig wie seine Prinzipien. Kisuke kümmerte das, was andere Leute über ihn dachten wenig. Er handelte und benahm sich so wie er es für richtig hielt. Beides hatte seine Vor- und Nachteile.

Sie führte ihn zu dem Sofa, dass sich an der Wand der schmalen Seite in ihrem großzügigen Büro befand: „Bitte setzt Dich. Ich hoffe, es geht Hisana wieder besser“, sagte sie. Dann holte sie ihre Tasse und eine Frische für ihren Freund. Nachdem sie ihnen Tee eingeschenkt und sie beide einen Schluck genommen hatten, neigte Byakuya leicht den Kopf: „Danke der Nachfrage, Yoruichi“, er zögerte einen Augenblick: „Hisana geht es den Umständen entsprechend gut.“ Als er wieder nach seiner Tasse griff, berührte sie ihn an der Hand. Ihr ehrliches Mitgefühl nahm er mit einem kurzen, aber dankbaren Nicken zur Kenntnis.

Nach einem weiteren Schluck Tee sah er sie dann ernst an: “Der Junge ist wie Du ihn beschrieben hast. Doch ich glaube, dass er im Inneren genau weiß, was er tut. Er mag nicht immer alles kontrollieren können was in ihm vorgeht, aber damit weiß er umzugehen und es bei Bedarf sogar zu seinem Vorteil zu nutzen.“

„Das mag sein. Aber wie Du weißt, ist gerade Schuld ein stark vom Unterbewusstsein gesteuertes Gefühl. Selbst wenn sich die Person dessen bewusst ist, werden Ihre Handlungen trotzdem davon beeinflusst. Dr. Unohana glaubt, dass seine Lähmung die physische Manifestation seiner Schuldgefühle ist. Bisher kann ich ihr in diesem Punkt nur zustimmen. Ulquiorra ist durch das Anketten an den Stuhl in eine Situation gezwungen worden, die sich komplett seiner Kontrolle entzogen hat. Ausgeliefert sein, ist für jemanden wie ihn das Schlimmste, was ihm passieren kann“, erwiderte sie.

Zwar hatte sie die Akte, die Kisuke ihr von Dr. Unohana gegeben hatte, noch nicht komplett durchgelesen. Dazu war sie am Wochenende nicht gekommen. Kisuke hatte ihr kaum eine ruhige Minute gegönnt. Doch das, was sie bisher über Ulquiorra gelesen hatte, zeigte deutlich, dass er jemand war, der immer versuchte die Kontrolle über sich und seine Umwelt zu behalten. Darüber hinaus schien er sein Leben bisher hauptsächlich damit verbracht zu haben, den Erwartungen seiner Adoptiveltern gerecht zu werden. Dr. Unohana charakterisierte ihn als pflichtbewusst, in sich gekehrten jungen Mann, der kaum eigene Interessen zeigte.

Laut dieser Akte hatten ihn die Schiffers bei einem Besuch eines befreundeten Professors, welcher an der Kasachischen nationalen medizinischen Universität in Almaty arbeitete, adoptiert. Die näheren Umstände, unter den sie Ulquiorra dort kennengelernt hatten, waren Dr. Unohana nicht bekannt. Die Schiffers hatten niemals die Gründe offen gelegt, die sie zu der Adoption bewogen hatten. In den Unterlagen befanden sich aber Kopien der Originaladoptionsurkunde, die im Kyrillischen verfasst war, sowie einer übersetzten Version in Deutsch. Daraus hatte Yoruichi erfahren, dass Ulquiorra ein Waisenkind war, dessen leibliche Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen waren.

Die Adoption war mit Sicherheit ein prägendes Ereignis in Ulquiorras Leben gewesen. Aufgrund seiner hohen Intelligenz hatte er daher bereits im Alter von nur fünf Jahren begriffen, welche Möglichkeiten und Vorteile ihm damit zuteil geworden waren.

Durch die Adoption war ihm ein Leben in Luxus, mit fast unerschöpflichen Möglichkeiten seinen angeborenen Wissensdurst zu stillen, geschenkt worden. Daher schien Ulquiorra sich den Schiffers gegenüber von Anfang an in der Schuld gefühlt zu haben. Was sein hohes Maß an Ergebenheit, ihren Wünschen gerecht zu werden, erklärte. Durch ihren Tod und der Art wie er daran beteiligt worden war, war ihm nicht nur die Möglichkeit genommen diese Schuld weiter abzugelten, sondern er war indirekt zum Mittäter gemacht worden. Jedenfalls in seinen Augen. Der Täter hatte ihm jeglicher Kontrolle beraubt und ihn zu einem stillen Beobachter herabgesetzt. Darauf konnte Ulquiorra im Innersten nur erneut mit einem starken Gefühl der Schuld reagieren.

Byakuya räusperte sich und holte sie damit aus ihren Gedanken. „Du bist die Expertin in diesen Dingen und daher sicher besser in der Lage, den Jungen und seine Motivation zu beurteilen“, er stand auf: „Aber unterschätzen solltest Du ihn auf keinen Fall und versuchen, trotz aller Sympathie, auch die andere Möglichkeit in Betracht zu ziehen: Dass er das, was er gesagt hat, ganz genauso gemeint hat und er tatsächlich der Täter ist.“

Yoruichi erhob sich ebenfalls und ging mit ihrem Freund zur Tür: „Ich werde ihn nicht mit mehr Samthandschuhen anfassen, das kannst Du mir glauben. Grüß Hisana ganz herzlich von mir und ich hoffe, dass es ihr bald wieder besser geht.“ Sie reichten sich noch einmal die Hände, dann verließ Byakuya ihr Büro.

Sie hielt die Tür weit auf: „Bitte, Ulquiorra, komm herein.“

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Orihime rannte die Treppe herunter. Ihr Herz schlug heftig und schnell in ihrer Brust. Sie hielt sich am Geländer fest und nahm die letzten drei Stufen mit einem Sprung. Unten angekommen konnte sie gerade noch sehen wie Yoruichis Sekretär die Tür hinter Dr. Kuchiki und Ulquiorra schloss.

Entschlossen ging sie weiter. Dann jedoch wurden ihre Schritte langsamer. Alles was in der WG passierte und unter ihnen gesprochen wurde, so hatte sie es Ulquiorra erklärt, würde auch unter ihnen bleiben. Wenn sie Yoruichi von seinen Zusammenbrüchen erzählte, dann brach sie damit ihr Wort. Sie blieb stehen. Ihr Herz schlug immer noch schnell, doch nicht mehr nur alleine vom Laufen. Sie war unsicher. Nervös begann sie an ihrer Unterlippe zu saugen.

Wenn sie es nicht erzählte, vielleicht würde Yoruichi ihm wirklich glauben und ihn für schuldig halten. Er war so schwer zu durchschauen und wenn sie selbst nicht gesehen hätte wie er sich quälte, dann würde sie auch ganz anders über ihn denken. Orihime ging langsam weiter. Deshalb war es wichtig, dass sie dieses Mal diese Regel brach und wenn sie es genau überlegte, hatte sie ihm nur gesagt, dass nichts von dem was er erzählte weitergegeben werden würde.

Vor der Tür von Yoruichis Büro blieb sie stehen. Orihime atmete tief ein und ging im Gedanken noch einmal durch, was sie sagen wollte. Auch wenn sie Yoruichi mochte und diese immer sehr nett und verständnisvoll zu ihr war, so hatte ein Besuch in ihrem Büro jedes Mal etwas beklemmend Offizielles. Wenn Yoruichi zu ihnen in die WG kam, dann war das etwas ganz anderes. Nervös wippte sie vor und zurück. Sie stellte sich wieder einmal nur an.

Dann schluckte sie ihre Angst herunter, atmete noch einmal tief durch und hob die Hand um anzuklopfen. Als sie nach zwei halbherzigen Anläufen endlich wirklich richtig klopfen wollte, spürte sie einen leichten Druck. Besser sie ging schnell noch zum Klo, sonst würde sie bestimmt müssen, sobald sie vor Yoruichi stand und das wäre dann super peinlich. Orihime ließ den Arm sinken und ging den Gang hinunter in Richtung der Toiletten.

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Ihr Sekretär stellte den Stuhl, der sich für Besucher vor ihrem Schreibtisch befand, für Ulquiorra zur Seite. Yoruichi setzte sich währenddessen auf ihren Platz. Sie bat dem Jungen einen Tee an, den dieser mit einem neutralem: „Ja“, akzeptierte. Ulquiorra und sie schwiegen solange bis ihr Sekretär den Tee gebracht und den Raum verlassen hatte.

Byakuya hatte sie ermahnt, nicht auszuschließen, dass Ulquiorra an dem Mord beteiligt war. Ihn vielleicht sogar selbst begangen hatte. Das setzte voraus, dass er sich ebenfalls selber an den Stuhl gekettet hätte. Was nicht unmöglich war. Die verwendeten Handschellen konnte man, wenn man etwas geschickt war, selber mit einer Hand anlegen. Dann lag auch nah, dass er sich die Skarifizierungen auf den Wangen selbst zugefügt hatte. Doch welchen Grund sollte er dafür gehabt haben? Welchen Grund sollte er überhaupt haben, seine Adoptiveltern, die ihm augenscheinlich nur Gutes getan hatten, zu ermorden? Dann auch noch auf diese Art und Weise?

Yoruichi sah ihn an. Ulquiorra saß vor ihrem Schreibtisch und trank seinen Tee langsam in kleinen Schlucken. Er wirkte ruhig, fast schon zu ruhig. Genau das war es, was diese Zweifel in ihr weckte. Von einem rein objektiven Standpunkt aus gesehen, sprach alles dafür, dass er ein Opfer war. Ein Opfer, das getrieben durch seine starken Schuldgefühle den Mord an seinen Adoptiveltern gestanden hatte. Den er jedoch nicht begangen hatte und an dem er keine Mitschuld trug. Sein Geständnis war damit nur der verzweifelte Versuch Kontrolle über etwas zu erlangen was außerhalb seiner Möglichkeiten lag. Er hatte den Mord nicht verhindern können und dafür bestrafte er sich jetzt.

Dennoch gab es bisher nicht die geringste Spur von dem Täter und auch die Tatwaffe war ebenfalls bisher nicht gefunden worden. Sicher war nur, dass der Täter entweder von Ulquiorra oder seinen Eltern ins Haus gelassen worden war. Oder dass er von Anfang an im Besitz der Codes gewesen sein musste. Spätestens um das Haus nach der Tat zu verlassen, hatte er die Codes gebraucht. Die er dann entweder von Ulquiorra oder den Schiffers erpresst haben musste. Ulquiorra hatte unter Umständen also nicht nur den Täter gesehen, sondern auch mit diesen gesprochen.

Yoruichi fluchte im Stillen. So sehr sie auch versuchte sich Ulquiorra als Täter vorzustellen, es gelang ihr, trotz ihrer Zweifel, einfach nicht. Laut Dr. Unohana war er niemals von sich aus gewalttätig geworden oder hatte überhaupt nur ein einziges Mal schlecht über die Schiffers gesprochen. Weder sie noch Kisuke konnten sich bisher ein Motiv vorstellen. Andernfalls hätte der Kommissar Ulquiorra auch nicht gehen lassen. Dazu kam noch, dass er, im wahrsten Sinne des Wortes, kaum weglaufen konnte.

Sie war wieder am Anfang. Egal wie sie es drehte und wendete, sie musste Ulquiorra bewegen zu erzählen, was passiert war. Ihn herauszufordern und teilweise auf sein Spiel einzugehen hatte sich bisher als eine gute Strategie erwiesen. Wie als wenn er ihre Gedanken erraten hätte, hob Ulquiorra den Kopf und sah ihr mit neutralem Ausdruck ins Gesicht. Yoruichi erwiderte seinen Blick schweigend.

Mehrere Sekunden verstrichen, doch wie sie es bereits von ihm gewohnt war, zuckte er nicht einmal mit der Wimper. Sie fixierte ihn weiter. Beobachtete insgeheim seine Atmung und vor allem seine Pupillen. Diese waren geweitet, eine Reaktion die unmöglich zu kontrollieren war. Er war also durchaus nicht so ruhig wie er sich gab. Er stand unter Stress, empfand Angst oder beides. Sie hatte es Byakuya bereits gesagt, diesmal würde sie ihn nicht mit Samthandschuhen anfassen.

Yoruichi lehnte sich in ihrem Stuhl zurück: „So, Du hast also Deine Adoptiveltern ermordet. Oder sollte ich Deine Aussage vielleicht anders verstehen?“

Ulquiorra reagierte nicht.

Jetzt beugte sie sich vor und lehnte sich auf ihren Schreibtisch: “Wenn Du nichts dazu sagst, dann muss ich davon ausgehen, dass das 'Nein' bedeutet.“ Er schwieg weiterhin und Yoruichi ließ ihn weiterhin nicht aus den Augen.

Mit diesem Blick hatte sie schon andere in die Knie gezwungen, die sich für ganz harte Kerle hielten. Nur bei Personen, die moralisch korrupt waren, wie dieser Nnoitra Gilga, musste sie stärkere Geschütze auffahren. Ginge es nach ihr, dann wäre Nnoitra sowieso bereits lange aus dem Programm ausgeschlossen worden. Doch Gilga gehörte zu Professor Granz Schützlingen und war daher, sofern sie den Jungen nicht auf frischer Tat bei einer Verfehlung erwischte, so gut wie unantastbar. Für Granz war diese Einrichtung hier ebenfalls nur eine Spielwiese für seine egomanischen Eitelkeiten. Leider hatte er sowohl das Geld als auch den Einfluss um in seiner Position ebenfalls unantastbar zu sein.

Ulquiorra hielt sie für keineswegs moralisch korrupt. Eher das Gegenteil. Die Bücher, die sie ihm mitgebracht hatte, zeigten deutlich, dass er sich mit diesem Thema ausgiebig beschäftigt hatte. Doch die Auswahl der Werke und Philosophen war das, was ihren Zweifel ebenfalls nährte. Sollte er einen ausreichend guten Grund gehabt haben, der den Tod seiner Adoptiveltern in seinen Augen nötig gemacht hatte, dann lieferte insbesondere Nietzsches Infragestellung der allgemein gültigen Moral und der Ethischen Werte ihm die Grundlage seine Tat vor sich selbst zu rechtfertigen. Was jedoch dem Bild des angeschlagenen Jungen im Rollstuhl widersprach, den sie gerade vor sich sah.

Sie musste einfach wissen, was ihn im Innersten antrieb. Wenn es sein musste würde sie sein Spiel dieses Mal bis zum Äußersten treiben: “Dann bleibt mir nichts anderes übrig als den Kommissar anzurufen und ihm von Deinem Geständnis zu berichten.“

„Sie erwarten sicher nicht von mir, dass ich etwas sage, von dem ich weiß, dass es mich nur belasten wird“, erklärte Ulquiorra dann nach einer erneuten Minute des Schweigens und nachdem ihre Hand bereits auf dem Telefon lag.

„Bitte überlas es mir, das zu beurteilen. Ich bin nicht die Polizei, sondern bis auf weiteres Dein gesetzlicher Vormund. Solltest Du eine Straftat begangen haben, muss ich das melden, aber es gibt immer Möglichkeiten...“, sie hörte auf zu sprechen. Ulquiorra hatte den Kopf gesenkt und blickte nach unten auf seine Beine.

„Das Jugendstrafgesetz sieht für einen vorsätzlich begangenen Mord, Doppelmord um es zu spezifizieren, die Höchststrafe von 10 Jahren vor. Möglicherweise wird die Strafe in meinem Fall auch noch verdoppelt.“ Er fuhr mit den Händen über die Oberschenkel bis zu den Knien. Diese umfasste er dann so stark, dass die Knöchel weiß hervortraten.

„Umso wichtiger ist es, dass Du mir alles erzählst. Ich bin mir sicher, dass Du das kannst. Du musst es nur wollen und mir vertrauen. Ich verspreche Dir, dass ich mein Möglichstes für Dich tun werde.“

Ulquiorra hob den Kopf. Seine Pupillen waren weit aufgerissen und seine Hände zitterten so heftig, dass es sich sichtbar auf seine Beine übertrug. Besorgt beobachtet Yoruichi ihn. Seine physische Reaktion war stärker als erwartet, was nur deutlich widerspiegelte, wie stark er innerlich zerrissen war. Sie wollte ihn nicht brechen. Die Gefahr, damit das Gegenteil zu erreichen, war zu groß. Das wieder zu kitten konnte eine Menge Zeit in Anspruch nehmen und Zeit hatte sie gerade keine zu verschenken.

„Und Ihr Möglichstes wäre? Dass ich die Zeit in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie verbringe?“, Ulquiorras Stimme schwankte, sein gesamter Körper war angespannt und eine Schweißperle rann langsam, aber unaufhaltsam an der Seite seines mittlerweile erschreckend fahlen Gesichts herunter.

In Yoruichi begannen alle Alarmglocken zu schrillen. Unbewusst musste sie eine tief sitzende Furcht getroffen haben. Wieder hatte sie vergessen, dass Ulquiorra von dem Beruf seines Adoptivvaters nicht unbeeinflusst geblieben war. Er zeigte alle Anzeichen einer Panikattacke. Durch die geschlossene Tür drang die helle Stimme einer Frau, die laut und aufgeregt auf ihren Sekretär einredete. Yoruichi ignorierte sie, ihren Blick auf Ulquiorra gerichtet versuchte sie zu entscheiden, ob eine Berührung ihn beruhigen oder nur weiter verschrecken würde.

Doch dann klingelte das Telefon auf ihrem Schreibtisch.

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Orihime betätigte die Klospülung und trat aus der Kabine. Sie hatte alles noch einmal sorgfältig und in aller Ruhe durchdacht. Sich genau überlegt, was sie sagen wollte. Sie wollte Ulquiorra auf keinen Fall bloßstellen oder ihn schwach erscheinen lassen. Jungs waren da ja so empfindlich. Sie würde nur das Notwendigste erzählen. Beim Hände waschen versuchte sie sich Mut im Spiegel zuzulächeln. Es war richtig und wichtig, dass sie jetzt mit Yoruichi sprach. Sie wollte nur das Beste für Ulquiorra und die Wahrheit war immer das Beste. Meistens jedenfalls.

Sie strich sich über die Haare und richtete ihre Kleidung. Dann sah sie auf die Uhr und erschrak. Ganze 20 Minuten war sie bereits hier drin. Was gar nicht sein konnte, jedenfalls nach ihrem Gefühl. Doch ein erneuter Blick auf die Uhr bestätigte die Zeit nur. Das war eindeutig zu lang, in der Zwischenzeit konnte Ulquiorra sich schon um Kopf und Kragen geredet oder besser geschwiegen haben. Sie stürmte aus dem Raum und rannte zurück zu Yoruchis Büro. Dort klopfte sie diesmal sofort an. Der Schreck bewahrte sie davor, nochmal über alles nachzudenken.

Sie wurde sofort herein gerufen. „Bitte, es ist sehr wichtig. Ich muss sofort mit Yoruichi sprechen“, sprudelte es atemlos aus ihr heraus.

„Tut mir leid. Das ist nicht möglich. Frau Shihōin wünscht nicht gestört zu werden“, erwiderte der Sekretär unbeeindruckt.

Orihime machte noch einen Schritt auf den Schreibtisch zu: “Bitte, es ist wirklich sehr wichtig. Ich muss ihr etwas über Ulquiorra erzählen. Das ist der Junge, der gerade bei ihr ist“, sie sah den Mann flehend an, doch dieser schüttelte den Kopf und wiederholte nur noch einmal, dass Yoruichi keine Störung wünschte.

Sie strafte die Schultern und begann laut und hektisch ihn mit allen Argumenten zu bombardieren, die ihr in den Kopf kamen. Dass sie zusammen in einer WG wohnten, dass Ulquiorra zwei Mal so etwas wie einen Zusammenbruch gehabt hatte und das Yoruichi ihr gesagt hatte, dass sie immer sofort zu ihr kommen sollte, wenn sich einer ihrer Mitbewohnern seltsam benahm. Sie verschwieg, dass damit Grimmjow gemeint gewesen war, da sie einfach davon ausging, dass dies nun auch für Ulquiorra galt.

Endlich gab der Sekretär nach und griff zum Telefonhörer.

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Grimmjow kaute auf einem Bleistift herum und zog zum wiederholten Mal sein Handy aus der Hosentasche um zu sehen, ob die Prinzessin endlich eine SMS geschickt hatte. Handys hatten während des Unterrichts ausgeschaltet zu sein. Er stellte seines, wie fast alle, nur auf stumm. Was von den meisten Lehrern toleriert wurde, außer man beschäftigte sich zu auffällig damit.

Die Stunde lief jetzt schon seit 25 Minuten und er hatte immer noch nichts von ihr gehört. Entweder sie war doch nicht zu Yoruichi gegangen, was sehr unwahrscheinlich war. Was die Prinzessin sich in den Kopf gesetzt hatte, zog sie auch durch. Oder Yoruichi hatte sie nicht angehört, was er sich ebenfalls nicht vorstellen konnte. Wahrscheinlicher war, dass die Polizei Yoruichi angewiesen hatte, Ulquiorra bei sich zu behalten, bis jemand ihn abholen kam. Yoruichi konnte sich einiges Leisten, aber einen dringenden Tatverdacht musste sie melden.

Sorgen machte er sich, wie die Prinzessin darauf reagiert hatte. Sie hatte den Kleinen beängstigend schnell ins Herz geschlossen. Vielleicht weil sie glaubte, dass er genauso wie sie empfand. Auch sie fühlte sich mitschuldig an dem Scheiß, den Ihr Vater mit ihr gemacht hatte. Dass das perverse Arschloch seine Finger nicht von der eigenen Tochter hatte lassen können, das war mit Sicherheit nicht ihre Schuld gewesen. Sie hatte ihm nie erzählt, wie weit das Ganze gegangen war. Das Schlimmste hatte wohl von ihrem Bruder verhindert werden können. Der auch rechtzeitig Kontakt zu Yoruichi aufgenommen hatte, damit sich diese nach seinem Tod um Orihime kümmerte.

Die Prinzessin behauptete immer, ihr Bruder hätte sich wegen ihr zu Tode gearbeitet, doch das hielt Grimmjow für eine maßlose Übertreibung. Yoruichi hatte dazu nur gesagt, dass er sich gedulden müsse, bis Orihime ihm genug vertraue um es ihm freiwillig zu erzählen.

Dieser ganze psychologische Quatsch kotzte ihn an. Er bevorzugte es, wenn die Dinge einfach und gerade heraus waren. Doch seit Ulquiorras Auftauchen war nichts mehr einfach. Die Prinzessin verhielt sich ihm gegenüber anders als früher. Und er? Er reagierte plötzlich auch viel stärker auf sie. Nicht, dass er sich früher keine Sorgen um sie gemacht hatte. Das hatte jedoch vorrangig den Grund gehabt, dass er durch diese blöde Regel dazu gezwungen worden war. Wenn er nicht auf sie aufpasste und sie Scheiß baute; sich in Situationen brachte, die nur wieder darin endeten, dass sie heulend in der Küche saß oder noch schlimmer, sich in ihrem Zimmer verbarrikadierte und sich selbst Schaden zufügte. Dann gab das nur Stress und Ärger für sie beide.

Wie auch immer, der Kleine brachte alles durcheinander. Trotz einer gewissen Sympathie und auch Dankbarkeit, die Grimmjow für ihn empfand, war er tief im Innersten davon überzeugt, dass es gut war, wenn Ulquiorra heute nicht zurück in die WG kommen würde.

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„Ist gut. Sagen sie Orihime ich komme gleich raus um mit Ihr zu reden.“

Ulquiorra beobachtete wie die Psychologin den Hörer wieder auflegte. Er versuchte ruhig weiter zu atmen und das Zittern in seinen Beinen endlich unter Kontrolle zu bekommen. Während des Telefongesprächs hatte sie ihn nicht aus den Augen gelassen. Er hatte gehofft, dass das Gespräch sie genug ablenken würde, damit er unbemerkt ein Stück näher an den Schreibtisch fahren könnte, um ihr den Blick auf seine verräterischen Beine zu nehmen. Er biss die Zähne zusammen, gleich würde sie hoffentlich den Raum verlassen, dann konnte er sich entspannen. Er musste Kontrolle über den Stress bekommen, dem er sich bewusst ausgesetzt hatte.

Sie legte auf und sagte: „Wir reden gleich weiter. Möchtest Du noch etwas trinken, dann werde ich Dir etwas bringen lassen?“

Ulquiorra schüttelte den Kopf: „Danke, das ist nicht nötig“, er bemühte sich, dass seine Stimme, trotz der Anspannung, wieder gleichmäßig klang. Es war überzeugend genug, dass die Psychologin, nachdem sie ihn noch einmal eindringlich angesehen hatte, endlich ging.

Er wartete noch einige Sekunden, bis er sicher war, dass sie nicht sofort zurückkommen würde. Dann lockerte er den verkrampften Griff um seine Knie und ballte die Hände mehrfach zu Fäusten um sie zu entspannen. Seine Beine zitterten weiter. Er brauchte die verdammte Kiste. Je mehr die Lähmung nachließ umso leichter konnte ein Tremor auftreten.

Als der Sekretär den Stuhl zur Seite gestellt hatte um Platz für seinen Rollstuhl zu machen, hatte er die Zeit genutzt sich nach seinen Sachen umzusehen. Als er keinen Hinweis darauf hatte entdecken können, hatte ihn das mehr aus der Bahn geworfen als ihm lieb war.

Wissend, dass er den emotionalen Stress nicht vor der Psychologin würde verbergen können, hatte er seine Antworten entsprechend ihren Erwartungen formuliert. Dazu hatte er noch den lästigen, vom Stress ausgelösten Tremor, irgendwie maskieren müssen. Dieser würde nur bei einer physischen Lähmung auftreten, nicht aber bei einer durch das Unterbewusstsein verursachten. Für eine echte Lähmung gab es jedoch keine logische Erklärung und er wollte die Zweifel, die sie mit Sicherheit auch hatte, nicht vergrößern. Bisher dachte sie genau das, was er sie glauben machen wollte und das sollte noch so lange wie möglich so bleiben.

Ulquiorra atmete tief ein und aus, schloss kurz die Augen und zählte langsam im Geist von 10 bis 1 rückwärts, während er bewusst eine Muskelgruppe nach der anderen entspannte. Er lauschte kurz, doch die Psychologin war noch immer mit der Frau beschäftigt. Dann fuhr er den Rollstuhl etwas zurück und zur Seite um hinter den Schreibtisch sehen zu können. Die Mühe wurde belohnt und seine Mundwinkel zuckten. Beinahe hätte er gelächelt, als er endlich seine vollgepackte Sporttasche entdeckte. Das, zusammen mit dem Auftauchen der Frau, entspannte ihn schlagartig und viel effektiver als der Mechanismus, den er sich selber antrainiert hatte.

Er fuhr an die Stelle, an der er sich vorher befunden hatte. Gerade noch rechtzeitig. Nur einen Augenblick später traten beide Frauen in den Raum. Etwas verärgert musste Ulquiorra feststellen, dass das lächelnde Gesicht der Frau zu sehen deutliche Freude bei ihm aufkommen ließ.

„Orihime hat mir gerade berichtet, dass es Dir sowohl Freitag, als auch Samstag nicht besonders gut gegangen ist. Darüber werden wir uns am Dienstag, nach Deinem Termin bei Soi-Fon unterhalten.“ Sie ging hinter ihren Schreibtisch, trug die Tasche nach vorn und stellte sie neben ihm ab. „Da mir gerade wieder einmal bewusst geworden ist, wie viel Du über meinen Job weißt, werde ich es ganz direkt sagen: Das ist auch der Grund, warum ich Dein Geständnis nicht als solches anerkenne, sondern es als einen Ausdruck der Schuld sehe, die Du empfindest.“

Erleichterung durchströmte Ulquiorra. Die Dinge liefen wieder so, wie er es geplant hatte.

Die Psychologin ging in die Knie und öffnete die Tasche. Dann holte sie die Kiste mit den asiatischen Schriftzeichen heraus: “Für heute wird es das Beste sein, wenn Dich Orihime in eure WG zurückbringt. Ihr seid für den restlichen Tag freigestellt. Doch vorher möchte ich gerne wissen, was hier drin ist, bevor Du sie mitnehmen darfst.“ Sie reichte ihm die etwa unterarmlange Kiste.

Ulquiorra nahm sie entgegen, drehte sie um und schob einige der Intarsien an die richtige Position, die dafür sorgte, dass er den oberen Deckel der Kiste öffnen konnte. Da er wusste, dass sie ihn sowieso nach dem Inhalt fragen würde, erklärte er: “Das ist ein Replika von Miyamoto Musashi Wakizashis. Ich habe es von meinem Aikido-Trainer bekommen als ich meinen 1. Dan erworben habe. Die Klinge ist nicht geschärft.“

Die Psychologin nahm das kleine Schwert aus der Kiste und zog es aus der Holzscheide. Ulquiorra sah zufrieden zu, wie sie mit dem Daumen über die stumpfe Schneide strich und beruhigt das Schwert zurücklegte.

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„Ist alles gut gegangen. Gehe mit Ulquiorra jetzt in die WG.“ Grimmjow starrte auf sein Handy und auf die SMS der Prinzessin. Er hatte sie schon zweimal gelesen. Orihime alleine zusammen mit Ulquiorra in der WG war ein Gedanke, der ihm überhaupt nicht gefiel. Wenn der Kleine nun doch ein verrückter Mörder war? Dieser Typ aus dem Film, an dessen Namen er sich gerade nicht erinnern konnte, war auch super intelligent und gut erzogen gewesen. Außerdem selber noch Psychiater und ein kaltblütiger Mörder, der seine Opfer mit Vorliebe verspeiste.

Er musste an die Katze denken und Ulquiorras kalte Augen. Dann an die ruhige Art wie der Kleine ihm sehr bildlich erzählt hatte, wie seine Eltern vor seinen Augen verblutet waren. Dass der Kleine ihn nur hatte beeindrucken wollen, war an dem Abend sein erster Gedanke gewesen. Was dieser damit auch gründlich erreicht hatte.

Dann erinnerte er sich, wie er Ulquiorra vom Boden aufgehoben hatte. Wie leicht er gewesen war. Seine Schwester hatte mehr gewogen. Er dachte an seine langen, schlanken Finger und wie sie kraftvoll sein Handgelenk festgehalten hatten als Ulquiorra ihn davor bewahrt hatte das Arschloch Nnoitra zu schlagen. Sein ruhige und geduldige Art als der Kleine ihm Mathe erklärt hatte. Da hatte er absolut nichts Angsteinflößendes, geschweige denn etwas Verrücktes an sich gehabt.

Verdammt. Grimmjow fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Der Kleine machte ihn fertig. Er musste mit ihm reden, da ging kein Weg dran vorbei. Wenigstens würde er das jetzt tun können und zwar so bald wie möglich.

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„Danke, dass Du meine Tasche getragen hast. Ich wäre jetzt gerne allein. Das Gespräch mit Frau Shihōin war… ermüdend.“ Die Frau sah ihn verständnisvoll an und Ulquiorra hatte das Bedürfnis ihr Lächeln zu erwidern. Doch er konnte nicht. Dafür war es noch zu früh.

„Könntest Du mir noch die Kiste aus meiner Tasche geben?“

Natürlich tat die Frau das gern und dann ging sie, wenn auch zögerlich.

Ulquiorra warf die Kiste auf das Bett. Er folgte und diesmal kletterte er ohne größeres Problem aus dem Rollstuhl. Dann zog er die Schuhe und auch seine Hose mit etwas Mühe aus und ließ beides auf den Boden fallen. Als nächstes legte er sich die Kiste auf die Oberschenkel und strich langsam mit den Fingern darüber. Die Kiste lag mit derselben Seite oben, wie vorhin bei der Psychologin. Seine Mundwinkel zuckten wieder und der Hauch eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht.

Dann drehte er die Kiste um, sodass die Oberseite nun unten lag. Wenn man wusste wie ließen sich auch hier die Intarsien verschieben. Ein leises Klicken ertönte und Ulquiorra öffnete die Kiste. Im Inneren dieser Seite befand sich ein identisch aussehendes Wakizashi. Daneben lagen drei Spritzen mit langen Nadeln.

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Erklärungen:
Das Wakizashi (dt. „an der Seite getragen“) wird auch als Shōtō ( dt. „kleines Schwert“) bezeichnet und ist ein japanisches Schwert ähnlich dem Katana, aber mit einer kürzeren Klinge von ein bis maximal zwei Shaku, also zwischen 30 und 60cm.
Das Wakizashi war im japanischen Feudalsystem eine standesbezogene Waffe. Feudale Ehrenleute, Samurai, gesellschaftlich angesehene Bauern und Händler durften es führen. Das Langschwert (das Katana oder das längere Tachi) durfte nur die Samurai-Klasse führen. Außerhalb des Hauses wurden beide Schwerter zusammen getragen. Dieses Schwertpaar wird als Daishō (dt. groß und klein) bezeichnet.
Nach dem Ehren-Kodex der Samurai (Bushidō) wurde das Wakizashi zur rituellen Selbsttötung (Seppuku) benutzt, oder um einem getöteten Feind den Kopf abzutrennen. [Quelle Wikipedia]

Größe der Pupillen:
Unabhängig voneinander entdeckten in den siebziger Jahren israelische und US-amerikanische Wissenschaftler (Eckhard Hess), dass die Größe der Pupille auch durch psychische Prozesse beeinflusst wird. Der Grund dafür ist, dass der die Pupille erweiternde Musculus dilatator pupillae über den Sympathikus indirekt auch mit dem limbischen System im Gehirn verbunden ist. Das limbische System wirkt auch bei der Gefühlsentstehung, bei Lernprozessen und bei der Speicherung von Gelerntem im Langzeitgedächtnis mit. Bei besonderer Aktivität des limbischen Systems wird die Pupille erweitert. Bei Überforderung erschlafft der Muskel und die Pupille wird verkleinert. Da eine bewusste Steuerung der Pupillenbewegung in der Regel nicht möglich ist, kann die Pupillengröße auch ein Indikator für die (seelische) Belastung eines Menschen sein.
Quellen: http://de.wikipedia.org/wiki/Pupille // http://www.panik-attacken.de/index.php/angststgen-mainmenu-2/vegetatives-nervensystem-mainmenu-38/72-vegetatives-nervensystem-augen

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