2 - Grauer Nachmittag
Kapitel 2 – Grauer Nachmittag
„Nur weil ich Sie kenne und schätze, werde ich ihnen den Jungen ohne den üblichen Papierkram mitgeben." Dr. Retsu Unohanas Stimme war so sanft wie immer und wie immer lag darin diese unterschwellige Nachdrücklichkeit, die ihren Worten Gewicht verlieh und die ganz im Gegensatz zu dem fast mütterlichen Ausdruck auf ihrem Gesicht stand.
„Auch wenn viele meiner Kollegen Ihre Methoden für unprofessionell halten, so weiß ich doch, dass der Erfolg für Sie spricht. Aber ich kenne Ulquiorra schon eine ganze Weile und muss Sie warnen. Bereits früher hat er kaum gezeigt, was in ihm vor sich geht. Ob er jetzt überhaupt noch jemanden weit genug an sich heranlässt, um ihm wirklich helfen zu können, halte ich für sehr fragwürdig." Die schlanke Frau mit den fülligen schwarzen Haaren war aufgestanden und deutete Yoruichi an, sich ebenfalls zu erheben und ihr zu folgen.
Beide Frauen verließen das Büro der Ärztin und gingen langsam in Richtung Fahrstuhl. Ihre Schritte klangen düster und dumpf auf dem streng nach Desinfektionsmittel riechenden Linoleum-Boden. „Ulquiorra ist überdurchschnittlich intelligent. Kein Genie, aber seine IQ-Tests, die seine Eltern haben regelmäßig durchführen lassen, lagen nur knapp darunter und gerade bei den letzten Tests, bin ich mir nicht sicher, ob das nicht reine Kalkulation seinerseits war".
Der Fahrstuhl kam und sie stiegen ein. Während der Fahrt schwiegen beide Frauen. Im sechsten Stock - der Psychiatrie - angekommen, wurde Yoruichi zu ihrer Überraschung nicht direkt zu dem Jungen geführt, sondern in einen der Überwachungsräume. Auf einem der an der Wand angebrachten zehn LC-Displays erkannte sie Ulquiorra. Dieser saß angezogen auf dem hohen Krankenbett. Die Beine hingen unbeweglich über der Kante, die Hände hatte er locker auf den Oberschenkeln abgelegt und den Rücken durchgedrückt, sodass er sehr gerade saß. Sein Blick war starr auf die Tür gerichtet. Auf seinem Gesicht war der Ausdruck, den sie schon von den Fotos kannte und der keine Gefühlsregung preis gab.
„Dass er akut suizidgefährdet ist, hat mir Kommissar Urahara verschwiegen," sagte Yoruichi verärgert, da dies ihren eigentlichen Plan, was die Unterbringung von Ulquiorra betraf, zu Nichte machte.
„Nein, ist er auch nicht", erklärte Dr. Unohana sehr ruhig. "Wir hatten Ihn unter 24-Stunden-Überwachung, um sicher zugehen, dass er nicht simuliert."
Yoruichi wollte gerade nachhaken, als ihre Aufmerksamkeit von dem Geschehen in Ulquiorras Zimmer abgelenkt wurde. Ein Pfleger hatte den Raum betreten. Er schob einen Rollstuhl hinein, den er neben dem Bett platzierte. Dann ging er vor dem Jungen in die Knie und zog ihm die Schuhe an. Ulquiorra beobachtete ihn dabei mit einem weiterhin neutralen Gesichtsausdruck.
Der Pfleger stand auf, sprach mit dem Jungen und erklärte ihm wohin dieser seine Hände legen sollte. Doch Ulquiorra reagierte nicht. Daraufhin hob der Pfleger ihn, mit sichtbarer Leichtigkeit hoch, und setzte ihn in den Rollstuhl. Positionierte dann die Beine des Jungen so, dass diese Mittig auf den Trittflächen ruhten. Dann sagte er wieder etwas zu Ulquiorra. Vermutlich, dass dieser gleich abgeholt werden würde. Ging dann aber ohne eine Antwort abzuwarten, die er so wie es den Anschein hatte, auch gar nicht bekommen hätte. Ulquiorra sah dem Pfleger kurz nach, bevor er seinen Blick direkt in die Kamera richtete.
„Kann man die Kamera im Raum sehen", fragte Yoruichi, nachdem Ulquiorra seine Augen unbeweglich weiterhin genau in die Kamera hielt.
„Nein. Aber wir vermuten, dass er erraten hat, dass sie sich an dieser Stelle befindet, da dies der einzige Punkt ist, von dem man aus den gesamten Raum inklusive der Bad-Nische einsehen kann.
Yoruichi nickte. Dass er intelligent war, dass stand außer Frage. Leider lagen Genie und Wahnsinn oft sehr nahe beieinander.
„Seine Weigerung zu sprechen ist eine bewusste Entscheidung von ihm. Dass er seine Beine nicht bewegen kann ist, soweit ich das bisher beurteilen kann, unbewusst. Eine Art Blockade. Verursacht vermutlich durch das Trauma, das er erlitten hat. Rein Körperlich hat er keine Einschränkungen oder Verletzung erfahren, die dafür verantwortlich sein könnten", erklärte die Ärztin weiter.
Wieder nickte Yoruichi zur Bestätigung, dass sie verstanden hatte während sie Ulquiorra eingehend betrachtete. Nach einiger Zeit fragte sie dann: „Er ist sehr blass und scheint Untergewichtig zu sein. Gibt es dafür einen nennenswerten Grund. Etwas das ich wissen sollte?"
Dr. Unohana schüttelte langsam den Kopf: „Nicht direkt. Sein BMI liegt bei 19, also knapp unterhalb der Grenze. Er war schon immer sehr dünn. Als er jünger war, war es noch deutlich ausgeprägter. Er hatte bis vor wenigen Jahren Probleme mit einer Lebensmittelallergie, die nie genauer diagnostiziert werden konnte. Weshalb er mehrfach hier bei uns in Behandlung war. Nachdem die üblichen Tests keine Ergebnisse gebracht haben, hatte er ein paar Sitzungen bei mir. Aber außer, dass er Anzeichen von Stress gezeigt hatte, welchen ich auf den allgemeinen Leistungsdruck in der Schule zurückgeführt habe, konnte ich ebenfalls nichts feststellen, was eine derart starke körperliche Reaktion ausgelöst hätte. Sie bekommen noch eine Kopie seine Akte".
Für einen Moment schwiegen beide Frauen und nur die gedämpften Geräusche, die durch die Tür vom Flur her in den Raum drangen, waren zu hören. Dann räusperte Yoruichi sich. "Können wir dann? Uns steht noch eine längere Fahrt bevor, die ich dazu nutzen möchte, um mir einen ersten persönlichen Eindruck von Ulquiorra zu verschaffen."
~ * ~
Der Junge saß unbeweglich neben ihr auf dem Beifahrersitz. Wie erwartet hatte er nicht gesprochen. Er hatte sie aber sofort angesehen, als sie seinen Raum betreten hatte und den Augenkontakt auch gehalten, solange sie mit ihm gesprochen und ihm erklärt hatte, dass sie ab jetzt für ihn verantwortlich war und ihn mitnehmen würde.
Als sie die übliche Floskel am Ende, dass er sich keine Sorgen machen sollte, weggelassen und ihn einfach nur ebenfalls schweigend angesehen hatte, hatte sie für den Bruchteil einer Sekunde Verwirrung und dann Neugierde in seinen Augen erkennen können. Was ihre Vermutung bestätigte.
Sobald etwas nicht der Norm entsprach, weckte es Interesse und intelligente Menschen waren dafür weitaus anfälliger als alle anderen.
So hatte Yoruichi, während der Fahrt auch gar nicht erst versucht Smalltalk mit ihm zu machen oder versucht ihm Fragen zu stellen, die er sowieso nicht beantwortet hätte.
Ganz im Gegenteil, sie hatte ihm sehr direkt und ohne Umschweife erklärt, was dadurch das er seine Beine nicht benutzen konnte, auf ihn zukommen würde. Dazu hatte sie ihm akkurat und detailliert alle notwendigen Therapien aufgelistet. Außerdem hatte sie ihm sehr eindringlich versucht verständlich zumachen, dass er in Zukunft auf die Hilfe anderer angewiesen sein werden würde.
Eine gute Stunde hatte er unbeeindruckt ihrer medizinischen Litanei zugehört. Doch dann konnte sie sehen wie seine Hände, die bisher locker auf seinen Knien gelegen hatten, diese umfassten und fester zugriffen, bis die Knöchel deutlich hervortraten. Diesen Augenblick nutzte sie, um ganz nebenbei zu erwähnen, dass er kein einfaches Zimmer bekam, sondern sich eine Wohnung mit zwei anderen teilen würde.
Kaum hatte sie das gesagt, hatte er auch schon den Kopf abrupt herumgerissen und starrte sie an. Unglauben und ein Hauch Empörung lagen deutlich erkennbar in seinem Blick.
Doch sie ging nicht weiter darauf ein und sagte auch nichts mehr zu der WG oder den Anderen, die dort bereits wohnten, sondern schwieg den Rest der Fahrt über.
Lächelnd nahm sie aber zur Kenntnis, dass Ulquiorra bald anfing seine Knie zu kneten und seine Kiefermuskeln deutlich hervortraten, wenn er die Zähne zusammenbiss.
Yoruichi konnte spüren wie Ungewissheit und Neugier an ihm nagten und sie war jetzt schon sehr sicher das ihre Entscheidung genau die richtige gewesen war.
Wenn alles so funktionierte, wie sie sich das vorstellte, dann würde sie nicht einmal eine ernsthafte Gesprächstherapie mit ihm durchführen müssen. Das würden seine zwei Mitbewohner für sie erledigen.
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