30

Mia

Was möchtest du von mir hören? Wonach suchst du genau?

Dieses mal zuckte Anjan angesichts meiner Stimme in seinem Kopf nicht zurück. Sattdessen drückte er die Schultern durch. Seine schwacher Moment schien vorbei zu sein. Ich fragte ihn, als ob ich nicht bereits wüsste, worin sein Kummer bestand. Doch, auf eine morbide Art und Weise war ich neugierig, ob er mir die Wahrheit sagen würde. Oder, was wahrscheinlicher war, mich kalt abservieren würde, mit dem erst besten, was ihm durch den Kopf gehen würde.  

Erspare mir diesen Kitsch, Eure Hoheit.

Anjans Stimme fühlte sich wie eine dunkle, schwere Wolke an, die über meinen blauen Himmel zog und einen kalten Wind mit sich brachte. Es fröstelte mich und der Schweiß auf meinem Rücken fühlte sich eisig an.

So kann man es auch nennen, erwiderte ich trocken, nicht unbedingt an Anjan gerichtet, sondern rückblickend auf alles, was passiert war. Reinster Kitsch, eine Pharse, ein Theaterspiel voll von Diademen, Palästen und Gewalt.

Wie würdet Ihr es nennen wollen?

Die Betonung auf das Ihr legend, wusste ich, dass ich bei Anjan einen Nerv getroffen hatte. Einen tiefen Nerv. Ich überlegte. Der Auftritt von Naomie heute morgen, die toten Mädchen auf dem Rasen, Anjans Stimmung gestern, in seinem Abteil, sein Gesichtsausdruck, als ich ihm eins und eins vor Augen geführt habe und er sich zwei hat selbst zusammen reimen können. Das zwei bedeutete, dass ich sein neuer König war, hatte ihn sichtlich aus der Fassung gebracht, als wäre er nicht informiert gewesen.

Aber wenn sein Netzwerk schwächelte, wie hatte er dann dieses Video von Ethan gefunden? Wie hatte er die Verbindung zwischen Ethan und mir an erster Stelle knüpfen können? Das ganze Weiß der Eingangshalle fing an, mich zu blenden und ein unangenehmes Stechen in meinen Augen zu verursachen. Es fühlte sich an, als würde es mich wegen irgendetwas auslachen, was natürlich reine Einbildung war. Auch wenn Schmuckstücke anfangen konnten mit einem zu kommunizieren (meine Augen zuckten auf den Ring des weißen Königs an meiner rechten Hand), Farben blieben leblose Objekte.

"Ein Spiel, ich würde es ein Spiel nennen."

Meine Stimme wurde in einem schwachen Echo von den Wänden zurückgeworfen. Ich bildete mir ein, dem Weiß damit die Stirn zu bieten, obwohl es ihr Lachen und ihre unausgesprochenen Vorwürfe nicht zum verstummen brachte. Ich began, langsam die Treppe hinunter zu steigen. Im Moment hatte Anjan den Kopf so weit in den Nacken geworfen, dass es selbst von meiner Position aus unangenehm aussah. Meine Bewegungen fühlten sich nicht so elegant an, wie ich es gerne hätte und ich erwischte mich dabei, wie mein Blick immer nach rechts oder links zucken wollte, wo die Schule in große, glatt polierte Marmor Platten investiert hatte, welche meine Silhouette wage spiegelten. Das Kinn ein wenig reckend, fixierte ich meinen Blick auf Anjan und unterband damit das unnötige Zucken meines Kopfes. Äußere Einflüsse konnte ich schwer beeinflussen, aber ich war immerhin Herrin meiner innere Wahrnehmung. Weshalb ich mir sagte, dass es ok war, der gesamten Bandbreite von Anjans Blick ausgesetzt zu sein und mit jedem weiteren Schritt, den ich auf ihn zu tat, seinen Hass gegen mich zu spüren.

Bei allen Urmächten, Gabriel, Krishna, Amaterasu, Isis und wen es sonst noch an Göttern gab. Diese Augen waren wirklich hypnotisch und schienen wortwörtlich ein Fenster zu Anjans inneren zu sein. Da diese gerade deutlich den Wunsch zum Ausdruck gaben, mir Gewalt anzutun, sollte ich eine gewisse Nähe zu ihrem Besitzer aufnehmen, blieb ich sicherheitshalber drei Stufen über ihm stehen. In der Schule hatte meine Klassenlehrerin einst eine Vertrauensübung durchgeführt, in der einer die Augen schließen sollte, während eine zweite Person sich auf gerader Linie auf ihn zubewegt hatte. Die Person mit den geschlossenen Augen sollte stop sagen, sobald diese sich unbehaglich fühlte. Laut meiner Lehrerin, sollte diese Übung zeigen in wie weit man sich wohl in der Umgebung anderer Menschen fühlte, wo deine und wo seine persönliche Zone anfing und aufhörte. Ein Junge, ich erinnerte mich nicht mehr an seinen Namen, hatte erst stop gesagt, als die auf ihn zugehende Person Nase an Nase mit ihm stand. Sein Lachen, als er realisierte, dass er praktisch die gleiche Luft wie die ihm gegenüberstehende Person einatmete, hatte... warm geklungen. Er hatte grün braune Augen gehabt, fiel mir plötzlich ein (ohne die Hilfe des Ringes). An sich, waren sie nichts besonderes gewesen, doch ich fragte mich, was es wohl mit einem machen würde, Tag ein Tag aus in Augen zu sehen, die einem wärme und bedingungsloses (nicht naives) Vertrauen schenkten. Die Person, die auf ihm zugegangen war, war ich gewesen. Ich hatte Stoppen wollen, als ich lediglich zwei Schritte auf ihn zugegangen war, doch der Blick meiner Lehrerin hatte mich ermahnt, dass es nicht an mir lag, in jenem Moment Stopp zu sagen. Als der Junge seine Augen geöffnet hatte, hatte sich dieses Gefühl jedoch in Luft aufgelöst.

Mit leicht hin und her wiegendem Kopf stellte ich mir Anjan in der Übung vor. Es mochte nicht fair erscheinen, immerhin hatten der Junge aus meiner Erinnerung und der junge Mann vor mir zwei sehr unterschiedliche Leben geführt. Doch ich konnte Anjan buchstäblich vor mir sehen, wie er die Augen schloss, und nach nicht einmal einem Schritt der anderen Person stop rief.

Ich hatte das Gefühl, ungerechter Weise seinen persönlichen Raum betreten zu haben. In einem Moment, der für ihn nicht leicht erscheinen mochte. Das Bild der Zwillinge blitzte vor meinen Augen auf und in einer flüssigen Bewegung, machten ich zwei Schritte nach rechts und stieg mit einigem Abstand die Stufen neben Anjan hinab, bis er sich über mir befand und ich einige Schritte in die Halle machen konnte, weg von dem unterem Treppenabsatz. Ich besaß nicht die gleiche Wärme oder die gleiche Ausstrahlung wie der Junge von damals. Aber vielleicht könnte ich es über die Zeit hinweg erlernen.

Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und mein Atem ging einen Ticken schneller. Ich hatte ihn, zugegebenermaßen etwas planlos bis hierhin verfolgt. Doch ich wusste, dass ich mir einen Feind gemacht hätte, wäre ich im Klassenraum geblieben und hätte ihn mit seinen Gedanken alleine gelassen. Ungefähr in der Mitte der Eingangshalle blieb ich stehen und drehte mich um. Ich hatte mehr Schwung als erwartet in die Bewegung gelegt und mein Haar beschrieb einen schönen Bogen, bevor es leicht und her schwingen meinen Rücken hinabfloss. Ich registrierte die Bewegung leicht bewundernd (ich hätte niemals gedacht, dass so etwas außerhalb eines Filmes funktionieren konnte) und nutzte dieses Gefühl, um mein klopfendes Herz ein wenig zu beruhigen. Das fragile Konstrukt in meinem Kopf aufrecht zu erhalten.

Ich hatte lange genug darauf gewartet, dass Anjan etwas erwiderte. Und mit der, zumindest etwas, eingekehrten balance in mir, öffnete ich erneut die Key-Verbindung.

Ob gewollt oder nicht, du bist Teil dieses Spiels. Und die Tatsache, dass du dir einen Namen auf dem Spielbrett gemacht hast, sagt bereits viel über deine Bereitschaft, dieses Spiel zu spielen.

Wesentlich eleganter wandte Anjan sich mit seinem ganzen Körper mir zu und stieg nun ebenfalls die Treppen, bis zum Treppenabsatz, hinab. Seine Augen glühten, wenn möglich, noch intensiver, noch dunkler, noch schwerer. Wer zum Teufel war dann die Person gestern gewesen? War es wirklich ein und derselbe junge Mann? Derjeniege, der den Ring an meinem Finger erst erkannt hat, als ich ihn gegen ihn verwendet habe?

Manche haben keine Wahl und manche sehen erst was sie verpasst haben, wenn es bereits zu spät ist.

Innerlich schnaubte ich. Hörte er sich selber reden?

Selbst ohne eine Wahl hat man eine Wahl. Es gibt hunderte Schicksale in denen man keine Wahl hat. Doch selbst dann hat man eine Bandbreite an Auswahl Möglichkeiten.

Jaswinda und ich, unter anderem. Ethan wäre nie meine erste Wahl gewesen. Genaugenommen, hatte ich gewusst, dass meine "Erziehung" bei mir Jahrelange Traumas hinterlassen hat, die verschiedene Vertrauensprobleme, aufgestaute Emotionen, und Bindungsängste verursacht hatte. Ich hatte Angst vor dem Leben. Davor mein Leben zu leben.

Ethan hatte mir keine Wahl gelassen, hatte mich einfach vor vollendete Tatsachen gestellt und mich mehr oder weniger dazu gedrängt, diese Sachen hinter mir zu lassen. Er hatte mich wortwörtlich dazu gezwungen mich meinen Problemen zu stellen. Die Chancen hatten gut gestanden, dass ich auch einen ganz anderen Weg hätte einschlagen können. Einen, von dem es kein Zurück mehr gab. Aber neben einem ausgewachsenen Stockholm Syndrom, hatte Ethan eine Neugier in mir geweckt.

So morbide es auch klingen mochte, Ethans Leben, er selbst, hatten mir vor Augen geführt, dass das Leben voller Geheimnisse steckte, die gutes und schlechtes (subjektiv betrachtet) mit sich brachten. Geheimnisse über mich selbst, die ich vielleicht nie wirklich vergessen hatte, nur verdrängt. Was wäre wohl passiert, wenn ich an dem heißen Sommertag, ich war gerade dreizehn geworden, dem Mann im weißen Anzug gefolgt wäre? Das Bild ist unscharf, so wie das Bild auf dem Bildschirm eines Röhrenfernsehgerätes, doch ich erinnerte mich daran auf dem Absatz kehrt gemacht und weggerannt zu sein. Der Ring erwärmte sich, so, als wolle er mit weitere Bilder und Eindrücke jenes Tages schicken. War ich fast entführt worden? So verrückt es klingt, ich glaubte fast schon.

"Du bist eine Lockheart", sagte Anjan kalt, ohne auf mein Worte einzugehen. Als würde mein Nachname Grund genug für alles folgende sein würde. Ich nickte zustimmend. Zumindest der Aussage konnte ich nichts entgegensetzen.

„Ich bin eine angeheiratete Lockhearts, aber macht mich das wirklich zu einer? Wäre ich hier, wenn es so wäre?"

„Jeder kann mit Fragen um sich schmeißen", erwiderte Anjan, die Augen zu Schlitzen verengt. „Doch nur die wenigsten können sie beantworten."
Eine meiner Augenbrauen zuckte, bis ich sie schließlich losließ und sie frei nach oben wanderte. Zugegeben, leicht beeindruckt von dem was Anjan äußerte. Vielleicht war er in seinem vorherigen Leben ein Philosoph gewesen? Ich glaubte zwar nicht an Wiedergeburten, aber ausschließen konnte ich es auch nicht.
„Ich bin hier gegen den Willen meines Mannes."

Anjan schnaubte. „Die Löwin mag sich vom Löwen abwenden und wird doch immer seine Jägerin sein." 
Und damit verließ er ohne ein weiteres Wort das Schulgebäude. Es dauerte ein wenig, bis er die Halle durchquert hatte und die Sekunden dazwischen waren zogen sich. Sekunden in denen ich hilflos dabei zusah, ohne zu wissen, was ich tun oder sagen konnte, um ihn zum belieben zu bewegen. Frustriert ballte ich die Hände zu Fäusten. Ich wartete bis die Halle erneut Menschenleer war, bevor ich den Kopf senkte und ein paar mal tief ein und ausatmete.

Ein weiteres Mal konnte ich ihm nicht folgen.

Ich ging zurück zur Klasse, in Gedanken versunken merkte ich nicht, wie sie sich bald darauf füllte und der Unterricht fortgesetzt wurde.

Wäre Ethan an meiner Stelle gewesen, erhärte Anjan nicht gehen lassen, er hätte ihm keine Wahl gelassen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top