29

Bin ich nicht, sagte ich innerlich, amüsiert darüber, wie schnell sich das Blatt doch wenden konnte. Mein Entschiedenheit alles daran zu setzen, um dieses Geheimnis zu wahren, hatte nicht einmal die Dauer überlebt, die Vorsetze zum neuen Jahr üblicherweise hielten.

"Du bist eine Lockheart", wiederholte Anjan mit versteinerten Miene und monotoner Stimme. "Du hast vor über einem Jahr geheiratet, bist nach England gezogen und von dort nach Dubai umgesiedelt, wobei kurz nach deiner Ankunft in Dubai sechs Monate keiner mehr etwas von dir gehört hat. Bis jemand mysteriöser Weise eine Frau an Ethan Lockhearts Seite wiedergefunden hat, welche mit ihm auf seinem Anwesen in der Wüste-"

"Unserem Anwesen", fiel ich Anjan ruhig ins Wort und lehnte mich etwas in meinem Stuhl zurück. "Das Anwesen war seines, wie auch meines." Rechtlich gesprochen fehlten mir die nötigen Information, um das mit Bestimmtheit sagen zu können. Doch Ethan hatte oft genug betont, dass es auch mein zu Hause war. Ich kannte den Charakter meines Mannes und dieser vertrug es nicht halbe Sachen zu machen. Zum ersten Mal entgleisten Anjans Gesichtszüge ein wenig. Sein starrer Blick gewann an Intensität und sein rechter Mundwinkel zuckte, nicht wie bei der Andeutung eines Lächelns, eher wie bei Anzeichen von Stress. "Ist...ist das von Relevanz?"

"Ich schließe lediglich die Lücken", antwortete ich, vielleicht ein bisschen zu amüsiert über die ganze Situation. Wenn er doch nur die Ironie dahinter ebenfalls sehen könnte. Diese Entschiedenheit, mein grandiosen Vorkehrungen den Namen Lockheart mit dem Namen Denaux zu überdecken. Hades Bemühungen meinen angeheirateten Namen unter Verschluss zu halten (besonders in den Akten). „Wenn du pedantisch an die Sache dran gehen möchtest", sagte ich freundlich, „dann richtig." Das würde ich zumindest als Lehre für meine nächste Geheimhaltung Aktion mitnehmen. Auch wenn ich Anjan praktisch herausgefordert hatte mir es auf irgendeine Art und Weise heimzuzahlen, dass er gleich in die Materie meiner Geheimnisse gehen würde, hätte... kommen sehen können.

Anjans Augenlieder fielen flatternd zu, bevor er mich mit einer Intensität ansah, die mir unter die Haut ging. „Schön." Seine Stimme erinnerte mich an das Zittern eines Blattes, welches sich mit großem Kraftaufwand zitternd an seinen kahlen Ast festklammerte, obwohl der eisige Winterwind alles daran setzte ihn zum gehen zu bewegen. Was mich in diesem Szenario wohl zum kalten und harten Winter machte. Vielleicht könnte ich ja aber auch der Wintermorgen nach einer besonders verschneiten Nacht sein, welcher den Himmel durch die Kälte stechend Scharf zeigte. Als Springer hatte Anjan bereits zu viel Winterschlaf gehalten.

„Wie weit entspricht es dann der Wahrheit, dass achtundneunzig Menschen auf eurem Anwesen in eine Falle gelockt und ermordet worden sind, genau heute vor eineinhalb Wochen."

Wo ich eben noch eine kalten, wenn auch schöne Winterlandschaft erblickt hatte, wurde diese binnen Sekunden unter einer gewaltigen Lawine begraben. Wie eine 360 Grad Kehrtwende drehte sich alles in mir, bis ich erneut von der Realität fortgerissen wurde und plötzlich das Geräusch von Schüssen, welche die Stille durchrissen, hörte, begleitet von Schreien und Flehen, welche selbst den Kugelhagel übertönten. Ein Kinderweinen und das entsetzliche Gefühl absolut machtlos zu sein. Und über allem Ethans ruhiges und zufriedenes Gesicht, dass auf mich herabblickte, mich davon abhielt mir die von ihm erdachte Realität anzusehen.
Es war gewesen, als hätte er nicht das Gleiche gehört, wie ich. Als hätte er nicht ebenfalls den metallischen Geruch von Blut und Rauch gerochen. Er hatte so ausgesehen, als wäre ihm ein Rezept besonders gut in der Küche gelungen. Wobei ich mir Ethan schlecht in der Küche vorstellen konnte. In einem anderem Leben vielleicht?

Meine Mundwinkel sackten langsam nach unten, während ich erneut das Blut und die Körper vor mir sah, welche sich auf meinem Rasen stapelten. Das Bild überdeckte den entgleist aussehenden Anjan. Was er auch immer in meinem Gesicht gelesen haben mochte, es musste ausgereicht haben um jede Vorahnung zu bestätigen, die er gehabt haben mochte. "Alle?" Dieses Eine Wort war wie ein überlaufendes Fass, voll mit Emotionen und physischen Schmerz. Es war absolut unerwartet und ließ mich beinahe zurück schnellen. Es ist nicht auf deinen Befehl hin passiert, erinnerte ich mich. Deswegen bin ich hier.

"Nicht alle", antwortete ich fest, wenn auch mit leiser Stimme.

Anjan sah zu Boden. Als würde mein Anblick schon reichen, um die Gesichter derjenigen zu sehen, die in unserem Garten ihr Leben gelassen hatten. Es würde mich nicht überraschen, wenn unter ihnen Freunde, oder sogar Familie von Anjan gewesen sind. Dieser Gedanke ließ mich schlucken. Ich hatte nicht damit gerechnet, mit Betroffenen so früh konfrontiert zu werden. Und andererseits gab es dafür wohl nie den richtigen Zeitpunkt. "Du...?" Anjan sah mich immer noch nicht an, „War es auf seinen und deinen Befehl hin..."
„Nein", unterbrach ich ihn ein zweites Mal. Obwohl das Wort in meinem Kopf wie ein Hammerschlag auf ein glühendes Stück Eisen vibrierte, klang es ausgesprochen im Raum sanft nach. Alles in mir verzog sich bei dem Gedanken in irgendeiner Form mit diesem Attentat in Verbindung gebracht zu werden. Und es fiel mir äußerst schwer auch nur den Gedanken zuzulassen, die Möglichkeit, weshalb ein Außenstehender so denken mochte.

Doch wie ein schwerer Anker, erdeten mich zwei Erkenntnisse und hielten mich inmitten eines Sturmes aus Emotionen an Ort und Stelle, erlaubten mir klarer zu denken.
Erstens, war es gar nicht weither geholt, immerhin war ich direkt an Ethans Seite gewesen, als es passiert war (wenn Anjan die Zahl wusste, ging ich davon aus, dass er seine Hausaufgaben gemacht hatte).
Und Zweitens habe ich neben Ethan gestanden und nichts, aber auch gar nichts getan.

Der Stuhl wurde langsam unbequem und mein Rücken tat vom langen sitzen weh. Also stand ich auf, was Anjan einen ganzen Schritt nach hinten machen ließ. Es war mehr ein Stolpern und als er aufsah, sah er verwirrt und leicht desorientiert aus.
Bevor ein dunkler Schatten sich über seine Augen legten. War er normalerweise ebenfalls so leicht zu lesen? Ich bezweifelte es und ging zum Fenster. Meinen Rücken möglichst unauffällig streckend, indem ich mein unteres Kreuz leicht nach vorne und hinten schob.

Obwohl die Klimaanlage in den Klassenräumen einwandfrei funktionierte und auf Raumtemperatur abgestimmt war, spürte ich wie mir vereinzelte Schweißtropfen bei der nach vorne neigenden Bewegung in der kurz entstandenen Kuhle im Unteren Rücken liegen blieben. Bevor sie mein Steißbein hinab flossen.

Meine Nackenhaare stellten sich auf. Teils wegen der plötzlichen Kühle (Schweiß und eine gut funktionierende Klimaanlage waren keine glückliche Kombination), aber teils wegen des intensiven Kribbelns, welches ich Anjan anrechnete. Ich musste ihn nicht ansehen um zu wissen, dass er mich mit seinen Augen vermutlich versuchte... was? Umzubringen? Mich seine Abneigung wissen zu lassen? Was es auch war, es fühlte sich erdrückend an.

Wieder einmal war mir Ethan ein Rätsel. Er musste in seinem Leben etlicher solcher Blicke zu spüren bekommen haben, wie hatte er dabei kein Gewissen entwickeln können? Kein Schmerz nachempfunden? Als ich ihm mitgeteilt hatte, dass ich vergiftet worden war oder als ich im Gewächshaus aufgewacht bin, bei beiden Gegebenheiten hattet er zumindest ausgesehen und sich so benommen, als wüsste er was Schmerz bedeutete.

„Ist das das Ende deines Berichtes?", fragte ich, während ich Schüler dabei beobachtete, wie sie aus dem Gebäude strömten. Vielleicht war unsere Klasse nicht die Einzige gewesen, welche eine verlängerte Mittagspause erhalten hatte. Wenn ich meinen Kopf ein wenig hob, und nach rechts drehte, konnte ich ein Stück der Universität sehen. Sie war ein Modernes Konstrukt aus Glas, welches das Sonnenlicht absorbierte, anstatt es zu spiegeln. Ungefähr wie bei Solarzellen, speicherte es ihre Energie und verwendete diese wieder.

Ich versuchte nicht darüber nachzudenken, dass ich das bis zu der Sekunde, in der ich mir das Glas des Gebäudes in Erinnerung gerufen habe, nichts über dessen Eigenschaften gewusst habe. Stattdessen glitt mein Blick an dem Gebäude ab zu dem stetigen Fluss an Studenten, welche aus der Universität strömten, den Breiten Weg vom Haupteingang entlang zu den wartenden dunklen Limousinen. Von weiter oben mussten sie aussehen wie Ameisen. Ich blinzelte und mit jedem Aufschlag wurde ein, aus der Luft geschossenes, Bild klarer. Es zeigte deutlich den Abschnitt der Universität aus der Vogelperspektive. Ich hätte vielleicht darüber lachen können, dass die Limousinen wirklich aus wie Ameisen aussahen.

Doch die Inschrift rechts unten auf dem Bild erstickte jeden Anflug von Amüsement. Selbst ein spontanes, etwas leichtes Lachen wurde augenblicklich im Keim erstickt.
Satellit 622X LH. Neben der Inschrift war drei Zahlen Blöcke, wobei sich der letzte schnell addierte, bis er bei sechzig von Neuem anfing. Die Uhrzeit und darüber das Datum von heute. Ich musste schlucken. Entweder der Ring hatte sich soeben in ein Satelliten geheckt oder da war ein Satellite dort oben welcher einer Reihe sehr gestörter Menschen gehörte. Meine Wenigkeit eingeschlossen. Ich atmete langsam aus und hätte über den Geräuschpegel meiner Gedanken beinahe verpasst, was Anjan sagte.

„Du bist arrogant." Dankbar für die Ablenkung, aber innerlich darüber im Konflikt, dass ich Anjans Schmerz durchaus nicht so begegnen möchte, strich ich mir eine Strähne aus der Stirn. Sie hatte sich gelöst, als ich meinen Kopf bewegt hatte. Innerlich folgte ich der Bewegung meiner Finger, fühlte die kühle Weiche meiner Haare und die verschwitze Hitze meiner Schläfe.

"Das mag durchaus sein", sagte ich, immer noch das Geschehen unter mir beobachtend. Im Grunde konnte er von mir denken was er mochte, die Frage war, ob er diese Haltung behalten würde und sie womöglich seine Kompetenzen einschränken könnte. Hass war kein guter Katalysator für gute und effektive Arbeit.

Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Fragte eine leise Stimme in mir. Ich weiß es nicht, gab ich zurück. Ich weiß es nicht.

Anjan drehte sich auf dem Absatz um und brauchte exakt drei, große Schritte, um das Klassenzimmer zu verlassen. Klassenzimmer, schnaubte ich innerlich, bevor ich die Verfolgung aufnahm. Klassenzimmer bedeuteten das man sich noch in einem Zeitraum befinden sollte, in dem man nichts über die wirkliche Welt wusste. In dem man zwanglos lachen, reden und sich ausprobieren konnte. Erwachsen wurde man noch früh genug. In unserem Fall, sehr früh. Der kurze Windzug der aufgehenden und hinter mir zu gleitenden Tür hauchte mir eine angenehme, kurze Kühle auf mein erhitztes Gesicht.

Meine Wangen und meine Stirn glühten, je schneller ich ging, desto stärker wurde es. Aber so hatte ich Anjan schnell eingeholt. Ich blieb auf dem oberen Absatz der Treppe stehen, kam kurz zu Atem und beobachtete dabei, wie Anjan elegant wie ein Panther die Treppen herunterging.

Am unteren Treppenabsatz blieb er abrupt stehen und sah zu mir hoch. Er wirkte kleiner, schmaler, doch das intensive Blau seiner Augen war unverändert. Selbst über diese Distanz hinweg. Ich konnte beim besten Willen nicht den Finger drauflegen, den Ursprung benennen oder sagen woher es plötzlich kam, doch die Wende des Gebäudes fingen an sich auf uns zuzubewegen.
Sie bewegten sich natürlich nicht physikalisch, doch die Bewegung, projiziert von meinem Gehirn, reichte bereits. Wie konnte ein Ort der Sicherheit, eine Zukunft versprach, zulassen, dass Kinder bereits Erwachsen wurden, bevor sie überhaupt bereit dazu waren. Wie konnte ein Gebäude so erdrückend werden, dass ein einzelner Luftzug nicht reichte, um meine Lungen mit Sauerstoff zu füllen.

Ohne meines Zutuns, rollte mir eine einzelne Träne aus dem rechten Augenwinkel, dass Bild von zwei Mädchen vor Augen, welche Anjan erstaunlich ähnlich sahen und welche ich, zumindest glaubte ich das, kurz auf dem blutbefleckten Rasen gesehen hatte. Meine Unsicherheit wurde undankbarerweise bestätigt, als das neue Bild vor meinem inneren Auge, begleitet von der sanften Vibration des Ringes, mir glasklar einen Ausschnitt meiner Erinnerung zeigte. Zwei Mädchen, Zwillinge, die kichernd hinter dem Amerikanischen Präsidenten im Ballsaal die Köpfe zusammen gesteckt hatten.

Und dann die gleichen Mädchen, wie sie mit leeren Augen, die Köpfe aneinander geschmiegt, die Körper flach auf den Rasen gedrückt, in den Nachthimmel blickten.
Ich kehrte meine Aufmerksamkeit aus meinem Inneren nach Außen, stülpte sie um wie eine Socke, die ich beinahe verkehrt angezogen hätte.

Meine Lieben Leserinnen und Leser, es ist lange her. Ich bin sehr dankbar für jeden Kommentar und jede Leserstimme. Ihr seid wirkliche Sterne, mes étoiles. Ich hoffe es geht euch gut und ihr findet Freude an dem was ihre gerade tut.
P.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top