28
Ich kam zu spät. Aber nicht, weil wir zu spät losgefahren wären, sondern weil mir auf dem Weg zum Klassenraum Martins begegnet ist. Hades hatte mich erneut vor dem Schulgebäude raus gelassen und war weitergefahren. Ich hatte ihn beauftragt nach Jaswinda zu sehen.
Ohne große Eile, jedoch in einem schnelleren Tempo als üblich (schon komisch, was einem alles auffiel, wenn man sich ständig beobachtet fühlte), bin ich die geschwungene Treppe hinaufgegangen. Ich riss mich zusammen, nicht gleich zwei Stufen auf einmal zu nehmen. Ich erreichte gerade den oberen Absatz, als er um die Ecke bog, aus dem Gang, der links abzweigte. Er war nicht alleine. Neben ihm waren noch Viktor und mein Professor für Mathematik, dessen Name mir entfallen ist.
„Madame Ryan, sie sind spät", hatte der Professor gesagt. "Ich sollte es gerade noch schaffen, Professor", hatte ich erwiedert und hatte ein leichtes hochziehen seiner buschigen Augenbrauen als Antwort bekommen.
„Madame?", hatte Viktor gefragt, als eine kurze Stille eingetreten war.
„Es heißt Miss", war Martins mir leise zuvor gekommen, sein Gesicht bleicher als sonst. Ich hatte es nicht vermieden, ihn anzusehen, sondern viel mehr entschieden, ihm wenig meiner Aufmerksamkeit zu schenken.
Der plötzliche Hautton Wechsel waren weder Viktor, noch dem Professor entgangen, die abwechselnd Martins und dann mich angesehen hatten.
Ich hatte Martins daraufhin doch einen kurzen Blick geschenkt und versucht herauszufinden, was Hades noch mit ihm gemacht hatte, doch konnte äußerlich nichts erkennen. Was immer es gewesen ist, es konnte nicht angenehm gewesen sein. Ich hatte mich dem Mathematik Professor zugewandt und in einem sanften Ton gesagt, dass Madame völlig in Ordnung sei.
„Êtes vous français?", hatte Viktor gefragt (erneut in eine einsetzende Stille hinein), die Augen weiterhin von Martins zu mir wandernd. „Oui", hatte ich lächelnd geantwortet und mich daran erinnert, dass Mathematik erst in der vierten Stunde war und Wirtschaft in genau diesem Moment anfangen sollte. Ich hatte mich entschuldigt und war mit einem „Viens-tu?", in Viktors Richtung gegangen. Martins stechenden Blick in meinem Rücken. Viktor direkt hinter mir.
Der Ausstausch war knapp und nichtssagend gewesen. Und dennoch hatte er mich, statt angenommenen Sekunden, einige Minuten gekostet. Wir kamen zu spät.
Viktor hatte eine Entschuldigung vom Mathematik Professor bekommen, da er sich auf eine Olympiade vorbereitete, was ich innerlich staunend zur Kenntnis nahm.
Es herrschte oft die Annahme, dass die Schüler hier durch Bestechung ihre Examen gut abschnitten. Das mochte vielleicht auf ein oder zwei Ausnahmen zutreffen. Doch die Mehrheit war wirklich hoch intelligente. Und ehrgeizig. Und wurden bereits seid ihrer Kindheit mit einer Armada an Privatlehrern versorgt. Zweiteres war wohl ein Zündstoff fürs erstere, wobei letzteres zweiteres wohl erst hat entwickeln lassen. Dementsprechend waren die Mathematik Olympiaden hier auf hohem Niveau. Es ähnelte eher einer kleinen Schlacht über Tische hinweg, und die Teilnehmer waren Generäle, welche ihre Taktiken nicht nur in und auswendig wussten, sondern auch im Verlauf der Olympiade aus dem Nichts neu erschufen.
Ich hatte bei einer Olympiade zugeschaut, in der einer der Teilnehmer des Hells Team (das Institut, mit dem sich das The Heavens die Anlage teilte) ein neue Formel für irgendein Aero Problem kreiert hatte, welche jetzt allgemein in den Physikbüchern benutzt wurde. Gedankenverloren war an mir vorbeigegangen, dass ich keine Entschuldigung für meine Verspätung besaß und das The Heavens strickte Regeln innehatte.
„Miss Ryan, setzen sie sich bitte, oder wollen sie für uns dieses Problem lösen." Ich blinzelte. Und musste feststellen, dass Viktor sich bereits auf seinen Platz begeben hatte. Die Professorin war um ihr modernes Pult hervor gekommen und hatte sich mit verschränkten Armen vor mir aufgebaut. Ihr Haar fiel ihr offen, in einer honigblonden, welligen Flutwelle über die Schultern. Ihr schmalen Lippen waren zu einen harten Zug verzogen, der im starken Kontrast zu ihrem weichen Blick, aus kornblumenblauen Augen, stand. Sie sah wie eine Person aus, die ein Nein nicht gerne als Antwort akzeptierte. Auch wenn ihre Frage sarkastisch geklungen hatte, schüttelte ich mit einem Blick auf das Whiteboard sicherheitshalber den Kopf. Was auch immer das CAPM Model war, es erschien mir vollkommen fremd. „Nein, Ma'am", setzte ich noch hinzu, leicht verunsichert über ihre starre Haltung.
Ich war mir fast sicher, dass die aufgehende Tür zum Klassenzimmer mich vor einer zweiten Blamage bewahrte. Die Professorin sah nicht sonderlich freundlich gesinnt aus. Doch ihre Starre Haltung floss an ihr ab, wie die gehäutete Haut einer Schlange, als sie den Neunankömmling hinter mir in Augenschein nahm. „Naomie! Was ist dei... Ihre Entschuldigung? Setzen Sie sich noch nicht, Miss Ryan." Ich blieb im Schritt setehen und balancierte mich zurück in einen festen Stand.
Innerlich seufzend ließ ich meinen Blick zum Fenster schweifen, wobei ich kurz meinem Atem lauschte und das Gefühl der Unannehmlichkeit über mich hinwegrauschen ließ. Ich mochte es nicht, so vor die Klasse gestellt zu werden, aber es ließ sich wohl schlecht ändern. Einem Lehrer, einer Professorin obendrein, zu widersprechen, so weit war ich noch nicht. Und würde es auch hoffentlich niemals sein. Das war eine Frage des Respekts.
Das Atmen und die simple Akzeptanz des Gefühls, der Bloßstellung, verringerten das Gefühl ein wenig. Erst dann drehte ich mich um. Und musste den Atem anhalten, um nicht einen unbemerkten Laut von mir zu geben. Mir war die Reaktion der Professorin als unwichtig erschienen, Hauptsache ich konnte mich setzten.
Doch... Nun, um das folgende zu verstehen, sollte klar sein, dass Naomie kein Mensch war, der unordentlich aus dem Haus ging. Sie besaß, so weit ich wusste, ein eigene Hairstylistin und einen Make Up Artisten. Diese Information hätte nützlich werden können, falls sich einer von beiden bestechen lassen würde, um regelmäßige Nachrichten über Namoie zu bekommen. Überraschenderweise waren beide äußerst resistent gegenüber Bestechungen jeglicher Art gewesen. So unnütz mir diese Information über deren Existenz nach jener Erkenntnis damals erschienen war, umso mehr kam sie mir jetzt gelegen.
Naomie trat auf wie die Kapitänin eines gesunkenen Schiffes. Verwahrlost, verwirrt... und allein. Schrecklich allein. Die Einsamkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben. Wie ein leeres Blatt, welches nicht nur unbeschrieben, sondern gebahr jeder Identität und Sinn und Zweck war. Wenn mich jemand gefragt hätte, ihr Äußeres in Worte zu fassen, ich hätte nicht gewusst, wo ich anfangen sollte. Lediglich, dass ihr gesamtes Erscheinungsbild, ihr Auftreten, ihr Blick, und ihre Haltung einen üblen Nachgeschmack hinterließen.
Es war lediglich einen Tag her, erinnerte ich mich. Einen Tag, was konnte schon großartiges in, nicht einmal, 24 Stunden passiert sein?
Und dennoch war das Bild vor mir das Gleiche. Die stolze Naomie, die Königin des The Heavens, schien gefallen zu sein. In ein tiefes, tiefes Loch. Als hätte sie meinen intensiven Blick gespürt (nicht ein Ding der Unmöglichkeit, wie ich selbst habe Zeugin werden dürfen), sah Naomie plötzlich auf. Ihre dunklen Augen wie zwei Ursprünge der schwarzen Materie. Unerforscht und unentdeckt. Ich konnte nicht sagen, was in ihnen stand, nur das es abgrundtief in ihr Selbst schnitt. Beinahe, als hätte sie in diesen 24 Stunden eine Metamorphose durchgemacht, die sie von einem Schmetterling, in einen Nachfalter gewandelt hatte. Längst nicht mehr interessiert an den Blumen und dem Sonnenlicht dieser Welt. Nein. Sie sah wie jemand aus, der selbst in eine Flamme fliegen würde, wenn es ihren Zwecken zugunsten kam.
"Naomie, ist alles in Ordnung?" Die Stimme der Professorin schien uns beide erneut zurück in die Gegenwart zu holen. Brutal und unvorbereitet, wischte sich Naomie einen Träne aus dem Augenwinkel. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, die Geste zu tarnen.
"Wir sollten mit dem Unterricht anfangen!", sagte Namoie abrupt, ohne Vorwarnung und setzte sich hin. Die Professorin, welche selbst über dieses Auftreten sichtlich die Fassung verloren hatte, hatte ihre Ehrfürchtige Miene fallen lassen und schien verwirrter als jeder Andere.
Ohne meinen Blick wirklich durch den Klassenraum geschwenkt zu haben, war die schweigende Andacht wie eine erdrückende Decke, welche über den Raum ausgebreitet worden ist. Um erneute Haltung bemüht schickte mich die Professorin mit einer Handbewegung ebenfalls auf meinen Platz und begann erneut zu reden. Ihr meine vollste Aufmerksamkeit zu schenken viel mir mit Naomie im Nacken nicht leicht.
Naomies Verhalten wäre mir womöglich nicht aus dem Kopf gegangen, zumindest den folgenden Tag hinweg nicht. Ihr brennender Blick hatte mich die ganze Zeit nicht losgelassen. In den kurzen Pausen zwischen den einzelnen Stunden war sie zwar in tiefes Schweigen verfallen, welches sich auf dem gesamten Raum übertragen hatte, doch ihr Schweigen war geladen gewesen mit Wörtern und Emotionen.
Nicht mal ihr Gefolge hatte sich in ihre Nähe getraut.
Es kam also nicht von weither, dass Naomis Verhalten mich hätte beschäftigen sollen, wäre nicht folgendes in der Mittagspause passiert. In der verfrühten Mittagspause (sie war dieses Mal eine Stunde länger für meine Klasse, wegen eines unerwarteten Ausfalls) blieb ich zunähst im Raum zurück und schlug Jaswindas Bericht auf. Viktor hatte mir im hinausgehen einen fragenden Blick zugeworfen, welchen ich mit einem Kopfschütteln beantwortete hatte, ohne wirklich zu wissen, was er von mir gewollt hatte.
Ich ging mittels meines Key-Schlüssels sicher, dass sich niemand in der Näher befand, bevor ich den Bericht vorsichtig aus dessen Umschlag zog. Jaswindas ordentliche Handschrift nahm eine Handvoll Bögen an Papier ein (Vorder- und Rückseite) und listete eine Reihe von unverständlichen bis hin zu Sinnbefreiten und Wahnwitzigen Bitten auf. Ich musste ihn Zwei Mal lesen, um sicherzugehen, sie richtig verstanden zu haben. Unter ihren Vorderrungen befanden sich unter anderem eine Demütigung. Ein Bordell (die Rede war von einem ganzen Club, keinem Besuch in eines oder dergleichen). Sowie Gift. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sie damit wollte, auch wenn sie es in ihrem Bericht beschrieb. Sie setzte außerdem hinzu, dass sie wusste, dass die Zeit drängte und sie deswegen so viel auf einmal verlangte. Nichts war zu viel, solange es unserem Zwecke diente. Dennoch ließ sie mich mit ihren Ideen ein wenig sprachlos zurück. Und ich fing an mich zu wundern, wie ich ihren Anschlag hatte überleben können.
"Am Abend der Soiree!"
„ES MUSS unbedingt am Abend der Soiree sein, dort wird es den größten Effekt haben."
„Nach der Soiree, am Besten so nah wie möglich (Las Vegas wäre ideal).
Kopfschüttelnd faltete ich das Papier und schob es zurück in den Umschlag.
Wusstest du, dass die Zwillinge in meiner Klasse als Aushilfen angestellt werden können?, eröffnete ich die Key-Verbindung zu Hades.
Ja, kam die sofortige Antwort.
Ich überlegte kurz, bevor ich Jaswindas Anweisung weitergab, entschieden zu glauben, dass sie wusste, was sie tat. Ich werde sie am Abend der Soiree anstellen.
Ich werde Platz im Personal schaffen, war Hades einziger Kommentar.
Mit Blick auf die Uhr über der Tür, welche sich lediglich während der Pause anschaltete, um während des Unterrichts völlige Konzentration zu gewährleisten, wusste ich, dass ich die Zwillinge noch erwischen konnte. Sie waren vermutlich in der Mensa. Ich hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da schoss ein Bild vor meinem inneren Augen vorbei. Es war so intensiv, dass ich die Augen schließen musste. Es war wie doppelt zu sehen, nur dass das zweite Bild nicht mit dem ersten, der Realität, übereinstimmte.
Mit geschlossenen Augen konnte ich das Bild klarer sehen. Ein Lageplan eines Gebäudes, oder zumindest ein Ausschnitt davon. Auf dem Plan waren drei Räume nebeneinander abgebildet, wobei es ein bisschen wie eine ungleiche Block Pyramide aussah. Der linke Block war am größten, der rechte am kleinsten, mit einem kleinen Kasten in den Block gezeichnet, welcher wohl eine Treppe symbolisieren sollte. Der obere war durch einen Flur mit den anderen verbunden und...
Das ist der VIP Bereich, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Der kleine Block ist die Eingangshalle, und der große ist die Mensa. In dem Mensa Block leuchteten zwei Punkte rot auf, sie bewegten sich nicht, weil sie vermutlich saßen und ihr Essen aßen. Abrupt riss ich die Augen auf, instinktiv ahnend, dass ich die Zwillinge geortet hatte. Ohne es zu wollen, lediglich geleitet von einem Gedanken, hatte ich ihre Key-Schlüssel ausfindig gemacht. Übelkeit stieg in mir auf und mein ganzer Körper fühlte sich auf einmal unter Strom an.
„Mia..."
"Mia..."
Vermissen, so sagte man, schneidet wie Glas, brennt wie Feuer, und ist, einer Sucht gleich, ein Rausch, denn es heißt geliebt zu haben. "Mia." Die Stimme jagte wie ein Blitz durch mich, teilte meine Gedanken, brannte sich in mein Trommelfell, und ließ ein Gefühl von Heimweh in mir aufkommen. Ein Ort, so weit entfernt, dass er unmöglich für mich zu erreichen war. Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich so die Stimme aus meinem Ohr schütteln, dabei wusste ich, dass das unmöglich war. Ich konnte sie ignorieren, doch es hieß nicht, dass ich sie nicht da war. Genaugenommen, befand sie sich direkt vor mir. Denn als ich den Kopf hob, um mich zu vergewissern, dass ich sie mir nicht nur einbildete, war er dort. Projetziert auf einem großen Bild, wo normalerweise der Professor oder die Professorin die Aufgaben, Audiomaterial zu den Aufgaben abspielten oder das hochmoderne Whiteboard zum schreiben benutzten.
"Mia", sagte der Ethan auf dem Bild erneut und runzelte die Stirn über irgendwas. Seine grünen Augen leuchteten mit den Kerzen um ihn herum um de Wette. Er trug einen seiner bevorzugten Anzüge, schwarzes Hemd, darüber eine schwarze Weste, und eine schwarze Krawatte, mit silbernen Nadelstreifen. Das Bild zeigte meinen Mann zwar lediglich von der Hüfte aufwärts, doch ich wusste, dass er eine dazu passende schwarze Anzughose trug. Ich hatte ihn nicht einmal nicht unpassend angekleidet gesehen. Abgesehen von der Nacht vielleicht, im Kasino in der Wüste welche Dubai umschloss. Wobei der Zustand seiner Kleidung wohl eher dem Angriff der Terroristen zuzuschreiben gewesen ist, und nicht freier Wahl.
"Darling, wir kommen zu spät."
Wohin, formte ich mit den Lippen nach, während im Video, nicht sichtbar, da lediglich Ethan im Bild war, eine nach mir klingende Stimme das gleiche fragte. Sie war wie ein Fossil, welches vorsichtig mit einem Pinsel von seinem Staub befreit wurde, um dessen zerbrechlichen Zustand ja nicht zu beschädigen. "Das wirst du noch sehen", sagte der Ethan im Video kalt. Doch das würde ich nicht. Ich war zusammengebrochen, kurz bevor wir das Haus hatten verlassen können. In Ethan's Anwesen in England. Das war vielleicht eine Woche nach unserer "Hochzeit" gewesen. Ich wusste bis heute nicht, wohin Ethan mich hatte mitnehmen wollen. Er war am späten Nachmittag lediglich wie ein leiser, aber immer bedrohlich werdender Schneesturm in dem kleinen Salon ein und ausgegangen, in dem ich meine meiste Zeit verbracht hatte. Von Morgens bis Abends nichts tuend, als lediglich eine freiwillige Gefangene meiner Depression zu sein.
Bis er sich entschlossen hatte, zu einem Blizzard zu werden, mir befohlen hatte mich anzuziehen und anschließend nach unten zu kommen. Wir würden ausgehen, hatte er gesagt. Im Verlaufe dieser ersten Woche hatte ich ein Menge Gewicht verloren, meine Wangen waren hohl gewesen und meine Augen eingesunken. Ich hatte kaum Energie gehabt am Mittag aus dem Bett zu kommen, geschweige denn das Haus zu verlassen. So viel hatte Hilde, die Haushälterin, die sich um mich gekümmert hat, ihm auch gesagt, verängstigt und zitternd. Ein Blick hatte gereicht sie zum schweigen zu bringen und mich anschließend anzukleiden.
Es erschien mir wie ein verzerrtes Paradoxon, dass diese düstere Szene, dich ich bis zu diesem Zeitpunkt bereits verdrängt hatte, ein Gefühl wie Heimweh und Sehnsucht in mir hervorrufen konnte. Das Video stoppte, als Ethan gerade den Mund aufmachte. Seine nächsten Worte eine erneute Aufforderung, mich zu beeilen. Es war ganz und gar untypisch für ihn gewesen. Damals, wie jetzt. Ethan beeilte sich niemals, schon gar nicht aus dem Grund heraus, dass er zu spät kommen könnte.
Meine Ellenbogen auf den Tisch abstellend, meine Hände locker ineinander verschränkt, hatte ich zwar dafür gesorgt, dass das Video angehalten hat, doch ich schaltete es nicht ganz aus. Der Schmerz und den tosenden Gefühlen zum trotz, die ihren Ursprung in dem eingefrohrenen Bild meines Mannes und in meinen Erinnerungen von der erneuten durchlebung jenes Tages hatten, hielt ich das Bild. Aus dem einfachen Grund, dass ich andernfalls Anjan genau das geben würde, wonach er suchte.
Ich hatte die Frage noch nicht einmal richtig denken müssen. Noch während das Video gespielt hatte, hatte mein Key Schlüssel sich sofort mit dem seinem Verbunden. Was in mir die Frage aufwarf, wie viel mein Key-Schlüssel von meinen Unterbewussten Gedanken aufnahm. Ich meine mal gelesen zu haben, dass 99,9% der Gedanken am Tag unterbewusst sind, und lediglich 0.01% bewusst. War es möglich, dass mein Key-Schlüssel mehr tat, als mir bewusst gewesen ist.
Jetzt zumindest war ich mir im vollkommenen klaren, dass Anjan versuchte die Kontrolle über das Video zurückzuerlangen. Es war wie ein drücken gegen eine Barierre in meinem Kopf. Oder viel mehr ein leichtes schieben, denn meine Mauer bewegte sich kein Stück. Im Gegenteil, je mehr es Anjan versuchte, desto mehr schien sie sich auszuweiten und an Masse zu gewinnen. Ich blendete das Gefühl aus. Das Gefühl in meinem Kopf eine Art virtuelle Realität wahrzunehmen und gleichzeitig die wirkliche Realität zu sehen überstieg jegliche meiner Kompetenzen.
Hinzu kam der plötzliche Geruch nach Tannen, welcher in Ethans Anwesen praktisch ständig present gewesen war. War das ein Zeichen, dass ich diesen Menschen sehr vermisste? Das ich, nach nicht einmal vier Tagen Abstand von ihm, allein durch den Klang seiner Stimme so durcheinander gebracht werden konnte? Oder war es lediglich die Erinnerung an diesen Tag, welche mich so durcheinander brachte? Ich spürte, wie eine irrationale Wut in mir Aufstieg. Ich wusste, dass das Gefühl lediglich so stark war, weil ich mich gerade überfordert fühlte.
Meinem Atem lauschend, fing ich an, meine Wut zu beobachten, das Unwohlsein darunter zu sehen, welches Anjan in mir ausgelöst hat. Ohne einen klaren Kopf würde ich etwas unüberlegtes tun. Gleich von Beginn an einen falsche schritt zu tun könnte einen ungewünschten Domino Effekt hervorrufen, erinnerte ich mich. Niemand ist perfekt sagte eine leise Stimme in mir, dem ich aus tiefsten Herzen zustimmte. Perfektion und einen kühlen Kopf bewahren waren zwei verschiede Paar Schuhe.
Ethan hielt an der Idee von Perfektion fest. Es hatte ihn dahin geführt, wo er heute, aus vollster Überzeugung, stand. Martins schien mir ein Mensch zu sein, welcher ebenfalls an dieser Idee festhielt, wobei ich auch zu vorschnell urteilen konnte, doch es hatte aus ihm keinen besseren Menschen gemacht. Ein kühler Kopf hing an keinem Ideal, sondern sorgte lediglich dafür, dass ich darauf achtete, was ich sagte und tat.
Das Endresultat überraschte mich.
„Soll mich das beeindrucken?", fraget ich schlussendlich.
Meine Stimme klang in der Stille des Raumes normal, nicht unbedingt verstimmt oder angriffslustig. Ich hätte mit ein bisschen mehr Autorität gerechnet. Anjans, für den Bruchteil einer Sekunde, herabfallende Mundwinkel waren immerhin Trost genug, um mich nicht ganz unwohl in meiner Rolle zu fühlen. Er war direkt an mir vorbei ans Pult herangetreten. Das Licht der Projektion halb auf seinem Gesicht, was tiefe Schatten durch es zog.
Als Er den Mund öffnete, strömte es in seinen Mund und hob das Weiß seiner Zähne hervor.
„Du bist eine Lockheart."
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