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Die Luft war zum schneiden dick und ließ zwei Schichten Schweiß auf Jaswindas Haut zurück. Sie wünschte sich sofort in das klimatisierte Innere des Buses zurück, als sie aus ebenjenem stieg. Ironischerweise waren es ihre müden Glieder die sie dazu antrieben einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie hatte heute bereits um 3 Uhr morgens aufstehen müssen um irgendwelche Erledigungen für die Schulmensa zu tätigen.
Als Mias persönliche Angestellte zählte das normalerweise nicht zu ihrem Aufgabengebiet, doch sie hatte gestern zufällig überhört, wie Ana, die alte Dame, die im wohnkomplex der Angestellten unter ihr wohnte, krank geworden ist. Für jede verpasste, nicht erledigte Aufgabe, strich das the Heavens einem einen Strafpunkte auf. Bei zehn flog man automatisch raus.
Das und wo es die besten Männer zum aufreißen gab, waren die ersten Dinge, die Jaswindas Flur Nachbarin ihr gestern erzählt hatte, als diese unangemeldet in Jaswindas kleine, Schuhschachtelgroße Wohnung gekommen war, um sich vorzustellen und erst drei Stunden später wieder zu gehen. Es waren anstrengende drei Stunden gewesen, doch Jaswinda hatten keinen ersten schlechten Eindruck machen wollen. Und sie konnte nicht sagen, ob Maja nicht doch zu Killians Kreis angehörte, auch wenn sie es irgendwie bezweifelte. Maja erschien ihr dazu zu oberflächlich. Aber was wusste sie schon. Sie war auch in aller Herrgottes frühe aufgestanden, um einer alten Dame einen Strafpunkt zu erleichtern. Und ihre Arbeit war noch nicht getan. Um die Früchte ihrer Tat zu ernten, hatte sie noch einiges zu tun.
Aber alles zu seiner Zeit. Sie war müde und musste Lady Mia noch einen Bericht schreiben. Der Bericht würde ebenfalls einen Antrag auf ein bestimmtes Objekt und einen Gefallen beinhalten. Beides würde sie brauchen. Sie musste ein Gähnen unterdrücken. Sie brauchte auch dringend eine Tasse Kaffee. Der Tag fing gerade erst an. Und war mit einer Menge kleineren Aufgaben gefüllt, die sie erledigen wollte. Sie war erleichtert, als vor ihr die Wohnkomplexe auftauchten.
Der Weg von der Bushaltestelle zu den Wohnkomplexen führte über einen Hügel, keine gerade Straße. Der Komplex selbst war in einer Art Senkung, welche Anwesenheit man am besten von der obersten Stelle des Hügels erkennen konnte, bevor dieser einen wieder, dieses Mal etwas steiler, hinabführte.
Ein geographischer Umstand, welchen sie gerade heftiger als vielleicht notwendig verfluchte.
Ihre Balance zu halten war in ihrem müden Zustand ein Kraftakt.
Jaswinda überlegte sogar kurz, ob sie einfach hinunterrollen sollte, entschied sich jedoch kopfschüttelnd dagegen. Sie war erschöpft, nicht lebensmüde. Nicht, so lange sie noch eine Chance auf Glück besaß. Eine Chance, die sie durch Lady Mia erhalten hatte.
Sie brauchte die doppelte Zeit den Hügel hinunterzusteigen als beim ersten Mal. Aber am Ende stand sie sicher und unverletzt am Anfang des, mit Sandstein Ausgelegten, Weges, welcher zu den Wohnkomplexen führte und sie miteinander verband.
Die Wohnkomplexe waren aus dem gleichen Material wie der Weg. Es gab keine Balkone, dafür aber große (nicht Bodentiefe) Fenster, die meistens offen standen und aus denen ein lautes Stimmengewirr erklang. Jeder Wohnkomplex war fünf Stockwerke hoch, mit jeweils 25 Wohnungen. Zwischen den Wohnkomplexen, es waren elf, waren kleine Wiesen Rechtecke, die zu betreten verboten waren.
Obwohl das äußere etwas anderes versprach, waren die Wohnungen klein. Nur länger Angestellte oder besondere Angestellte bekamen eine der größeren Behausungen, welche in den jeweils obersten Stockwerken lag. Als Mia Lockheart/Denauxs persönliche Angestellte zählte sie eindeutig in diese Kategorie. Doch dieser Status passte nicht zu ihrem Plan, Killian für sich zu gewinnen. Also blieb es bei der Schuhschachtel, in die sie jedoch jetzt mehr als froh war zurückzukehren.
Trotz immer schwereren Liedern und eingeschränkten Sichtfeld nahm Jaswinda die offenen Fenster und das immer lauter werdende Stimmengewirr sehr wohl war. Entgegen des Versuches, diesen Ort so kalt und scheinbar ruhig wie möglich zu gestallten, riefen sich Menschen von Fenster zu Fenster etwas zu, drehten Musik auf und sangen zu einem Lied mit, welches aus irgendeiner der Wohnungen erklang. Es war wie das Erwachen eines kleinen Dorfes, in dem sich jeder verstand. Und genau wie in einem kleinem Dorf, sprachen sich Sachen schnell herum und Neulinge wurden erst einmal nicht gerne gesehen. Zumindest das hatte diese Siedlung mit Jaswindas altem Dorf gemeinsam.
Gähnend zog sie sich den Hauptweg entlang und stieß innerlich einen müden Fluch aus, dass ihr Wohnkomplex das Vorletzte war. Letztendlich werde ich gesehen, dachte sie, was ihrem nutzen diente. Und das bleierne Gefühl war eine kurzfristige Frustration. Der eine Fluch musste also reichen und sie schob jegliche anderen negativen Gedanken von sich. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Stimmen, um sie herum. Sie konnte nicht ausmachen was gesagt wurde, doch das störte sie nicht, Stimmlagen erzählten manchmal genauso viel. Mit mehr Disziplin als sie sich selbst im Moment zugetraut hätte vernahm Jaswinda wie die laute Ausgelassenheit vorbei an Komplex Nummer Vier einer kurzen Stille folgte, als sie daran vorbei lief. Wohingegen Komplex Nummer Eins bis Drei, und Fünf bis Sechs kaum eine Reaktion zeigten. Bei Komplex Nummer Sieben und Acht herrschte lediglich vertrautes Gemurmel, kaum der Rede wert und fast schon nicht present unter der Ausgelassenheit ihrer Nachbarn. Denn Komplex Nummer Neun war nicht nur laut, sondern mussten eine ihre Kaffees mit Heroin aufpushen. Hier wurde gesungen, gelacht, und regelrecht gelebt.
Was Komplex Nummer Zehn umso erschreckender herausstechen ließ. Der Kontrast war so groß, dass Jaswinda beinahe stehen geblieben wäre, um sich den optisch Identischen Wohnkomplex genauer anzusehen. Natürlich waren die Geräusche der vorherigen Komplexe noch zu hören, aber, seit ihrer Kindheit schon, hatte Jaswinda ein ausgesprochen gute Gehör. Sie war in der Lage Geräuschekulissen voneinander zu trennen oder einfach auszublenden. Sie selbst glaubte, dass das etwas angeborenes und antrainiertes zugleich war, da sie schon sehr jung hatte lernen müssen, wie wertvoll es doch war, zu hören wenn sich jemand an einen Anschlich. Die wenigen Sekunden die man dadurch gewinnen konnte, konnten oft lebensverändernd sein. Oder einem einfach nur ein paar Wunden und ein paar blaue Flecken weniger bescheren.
Über die Jahre hinweg hatte sich diese Fertigkeit ausgebaut, so dass es nun ein leichtes war, abzüglich der Müdigkeit, die absolute Stille wahrzunehmen, die Komplex Zehn ausstrahlte. Das war ihr weder gestern, noch heute morgen aufgefallen. Dabei hatte sie besonders auf Komplex Zehn geachtet. Nach den Unterlagen, die Lady Mia ihr ausgehändigt hatte, lebte Killian in diesem Komplex.
Ohne in ihrem Schritt weiter innezuhalten oder sonst eine verdächtige Bewegung zu machen, ging Jaswinda an Komplex Zehn vorbei und bog in den kleinen Weg ein, der zu Komplex Elf führte. Mit zittrigen Knien, die vor Erleichterung nachzugeben drohten, betrat sie den offene gestalteten Eingang. Sie hatte drei Versuche gebracht, ihren neuen Keyschlüssel an den Scanner zu halten.
Links und Rechts im Eingangsbereich befanden sich jeweils zwei Türen, welche zu den Wohnungen des Erdgeschosses führten. Es gab einen kleinen Aufzug, der sich direkt gegenüber der Eingangstür befand. Links und rechts von ihm führte eine Treppe nach oben, beziehungsweise nach unten in den Keller.
Zu erschöpft die Treppen zu nehmen, war Jaswinda dankbar für die Gelegenheit den Aufzug benutzen zu dürfen. Nur um ihn defekt vorzufinden. Egal wie oft sie auf den Knopf drückte, nichts rührte sich.
Sie erwägte kurz sich auf den Boden zu legen und einfach hier und dort einzuschlafen, bevor sie die Zähne zusammen biss und sich die Treppen hinaufzog.
Ihre kleine Kammer befand sich im Zweiten Stock, doch bereits nach dem ersten ging ihr wortwörtlich die Puste aus. Sie musste sich kurz hinsetzen und zu Atem kommen. War das wirklich nur auf die Müdigkeit zurückzuführen? Den Gedanken verscheuchend stand sie schwerfällig auf und ging weiter. Zwischen dem ersten und zweiten Stock verschwamm ihr kurz die Sicht, aber es war nur Schweiß, der ihr in die Augen gelaufen war. Sie betastete kurz ihre Stirn um sicher zu gehen, dass sie kein Fieber hatte.
Im zweiten Stock tastete sie sich ohne Verschnaufpause rechts die Wand entlang. Sie war karg weiß, was sie nach all den Farben und Eindrücken in ihrem Leben auf einer tieferen Ebene beim ersten Augenkontakt verstört zurückgelassen hat. Jetzt hielt sie sich an dieser starken Emotion fest, um von der anderen, eher körperlichen Emotion/Reaktion abzulenken. Das Gehirn konnte sich nur auf eine Emotion auf einmal fokussieren, nicht jedoch auf zwei (oder mehr als zwei). Jede Emotion dauert etwa 90 Sekunden an, doch je intensiver man an etwas dachte, desto mehr häuften sich die 90 Sekunden ebenjener vom Gedanken begleiteter Emotion an.
Das Weiß ist zu sauber. Das Weiß ist scheußlich, klinisch, kalt. Blut wäre auf diesem Weiß überdeutlich zu sehen. Weiß stand für Reinheit, was an diesem Ort ließ sich mit Rein in Verbindung bringen?!
Schnaubend und keuchend gelang es Jaswinda schließlich, ihre Wohnungstür zu erreichen, aufzuschließen, und sich auf die erste erreichbare Oberfläche zu schmeißen.
Zur Hölle mit all dem! Es war nicht das erste Mal, dass sie Schlafentzug hatte, früh hatte aufstehen müssen oder gar Nächte durchgemacht hatte. Diese Müdigkeit war lächerlich.
Und doch hätte sie an Ort und Stelle sofort einschlafen mögen. Es brauchte nur einen Einzigen Wimpernschlag, ein einziges Mal die Augen zu schließen, und sei es auch nur für eine Sekunde.
Letztendlich war es das Bild von Lady Mia, welches wie ein blendendes Licht vor ihren geöffneten Augen aufblitzte, welches sie dazu zwang, aufzustehen, an ihre kleine Küchenzeile zu treten, und den noch vollen Wasserkocher anzuschalten. Aus dem Schrank über dem Spülbecken holte sie eine eine altmodische French Press und die Dose mit dem dazugehörigen gemahlenen Kaffeebohnen. Sie schraubte den Deckel ab und tat genüsslich einen tiefen Atemzug. Der erdige, leicht bittere Geruch war zeitweise wie Sauerstoff für Jaswinda, die trotz der Mengen an Koffein, welche sie über die Jahre zu sich genommen hat, trotzdem noch nicht immun gegen dessen Wirkung war.
Ein Umstand für den sie außerordentlich dankbar war. Obwohl Kaffeebohnen frisch gemahlen ihr bestes Aroma entfalteten, gab sie sich mit dem zufrieden, was ihr gegeben war.
Ein leises Klicken schwenkte Jaswindas Aufmerksamkeit zu dem Wasserkocher. Während sie im Kopf von 30 hinab zu zählen begann, kippte sie zwei Esslöffel des Kaffeepulvers in die Kanne und goss dann nach genau 30 Sekunden das heiße Wasser hinzu. Somit sollte es hoffentlich die perfekte Temperatur von 204 grad Fahrenheit haben.
Anschließend rührte sie noch einmal mit dem Löffel alles um, bevor sie den Deckel aufsetzte und den Hebel langsam herunterdrückte.
Das Machen des Kaffees, insbesondere mit der Benutzung einer French press, war etwas, was sie bereits ihr Leben lang getan hat. Das hieß, dass stimmte nicht ganz. Sie hatte bereits viele unterschiedliche Kaffee Zubereitungsarten kennengelernt und meistern müssen, doch diese war ihr die liebste.
Ihre Hand stockte kurz in ihrer Bewegung eine Tasse zu reinigen, die sie benutzen wollte. Sie hatte sich nie aktiv damit beschäftigt, was sie wirklich gerne tat, und was nicht. Ob es an erster Stelle so etwas überhaupt gab.
Nach geschätzten vier Minuten, oder so lange, wie sie es hatte aushalten können, goss Jaswinda sich geübt eine Tasse ein. Trotz der Schwere in ihrem Arm zitterte diese nicht und es ging kein Spritzer daneben. Ein Spritzer war in ihren meisten Anstellungsorten einer körperlichen Bestrafung oder dem Tod gleichgekommen. Schon komisch, wofür einem der Tod bevor stehen könnte. Ein Spritzer, und sei es auch auf ein sündhaft teures Kleid, war dennoch nur ein Spritzer. Wo war die Logik dieses gegen ein Menschenleben aufzuwiegen.
Lady Mia hatte ihr einst von einem Ereignis erzählt, aus irgendeinem in Land Europa. Dort soll ein Militär Pilot die Wahl gehabt haben, ein Flugzeug mit unschuldigen Passagieren abzuschießen, welches ansonsten auf ein Stadium runtergegangen wäre, welches die Zehnfache Menge an Menschen getötet oder verletzt hätte. Das Flugzeug war gekapert gewesen von einem Mann, welcher die Inhalte seiner Religion völlig falsch interpretiert und ausgelebt hat. Der Pilot hat das Flugzeug abgeschossen, hat unzählige Leben gerettet und wurde vor das höchste Gericht gestellt, weil er Menschenleben gegen Menschenleben abgewogen hatte.
Wenn also schon Mensch gegen Menschen nicht abgewogen werden konnten, wie sollte dann ein Mensch gegen einen Kaffeespritzer abgewogen werden. Jaswinda erwischte sich dabei, wie sie schon eine ganze Weile in ihre Kaffeetasse gestarrt haben musste, der Dampf hatte ihr Gesicht erhitzt, in dem Versuch, den Boden der Tasse auszumachen. Natürlich war das unmöglich, die Dichte und Farbe des Kaffees war zu dunkel.
Sie hob die Tasse an und trank einen Schluck, er war heiß, verbannte ihr jedoch nicht die Zunge. Das Koffein war wie ein Schlag gegen ihr Gehirn, wie wenn man eine alte Jukebox, welche hackte, mit einem Tritt erneut zum laufen brachte. Sie trank noch einen Schluck, leerte dabei die Hälfte der Tasse, bevor sie sich traute einen Schritt zu machen, ohne fürchten zu müssen, umzukippen.
Sie nahm Tasse und Kanne und stellte beides auf den winzigen Tisch ab, welcher neben der Küchenzeile stand und als Esstisch, sowie Schreibtisch diente. Das schmale, jedoch große Fenster spendete mit der aufgehenden Sonne genügend Licht, um die Lampe ausgeschaltet zu lassen.
Bevor sie sich an die Verfassung des Berichtes setzte, holte sie aus dem bereits wachsenden Papierstapel das gerackert Dokument heraus, welches Lady Mia ihr mitgegeben hat.
Sie fing an darin zu Blättern, besah sich die wichtigsten Passagen und ging sicher, dass die abgesicherten Informationen in ihrem Kopf mit den wirklichen übereinstimmten.
Killian O'Connor
Wohnsitz Komplex Zehn the Heavens
23 Jahre alt
Mutter Tod
- Kein Kontakt zum Vater oder zum Bruder (Alistair, aufgestiegen zu Ethan Lockhearts „rechten Hand", falls er überhaupt so etwas besaß)
- Killian verabscheut Alkohol, Drogen und jegliche Art von Gewalt, wenn sie nicht unbedingt sein muss;
- Killian hat einen engeren Kreis, dem er ausschließlich vertraut
- Angst vor Heuschrecken und Gottesanbeterinnen
Der Informations Abgleich ging für Zehn bedruckte Seiten weiter, und am Ende rauchte Jaswindas Kopf nicht nur, sondern sie hatte auch die gesamte Kanne an Kaffee geleert. Doch sie konnte sich nun immerhin sicher sein, dass sie jedes wichtige Informationsteil richtig abgespeichert hatte.
Sie stand mit dem Dokument in der Hand auf, ging zum Spülbecken. Sie drückte den Stöpsel ins Becken und drehte das heiße Wasser auf. Während das Wasser ins Becken strömte legte sie das Dokument ins Becken, wobei es sich in kürzester Zeit mit Wasser vollzog. Sie wartete bis das Becken fast bis zum Rand voll war, dann drehte sie das Wasser ab und setzte sich erneut an den Tisch. Das Wasser würde das Papier mitnichten versetzen, doch gut genug aufgeweicht ließ es sich leicht in seine einzelnen Fasern zerteilen und zu einem Nassen Haufen an etwas degradieren.
Am Tisch holte sie Papier und Stift heraus und begann ihren Bericht an Lady Mia. Als eine Bewegung von draußen ihre Aufmerksamkeit erregte. Ihr Fenster war genau auf Komplex Zehn ausgerichtet (natürlich kein Zufall), und gerade bogen zwei Figuren in den kleinen Weg ein, welcher zur Haustür führte. Beide waren klar weiblich, hatten die Köpfe zusammengesteckt und trugen jeweils eine Umhängetasche über der Schulter, welche an eine Laptoptasche erinnerte. Sie waren bereits an der Haustür angekommen, eine der beiden hielt bereits ihr Handgelenk gegen den Scanner, als die andere plötzlich hochsah. Jaswindas automatische Reaktion war sich zu ducken, doch die Person hob bereits die Hand und winkte.
Mehr noch, sie ging den Weg zurück, und lief einer zweiten, gebückteren Person entgegen. Erst fragte Jaswinda sich, was die verrenkte Haltung sollte, doch auf den zweiten Blick erkannte sie, dass die Frau sich den Rücken hielt. Und das ihr Haar Stein grau war. Die junge Frau nahm die alte in die Arme, die alte Frau sagte etwas, woraufhin die Junge den Kopf zurückwarf und lachte. Jaswinda konnte natürlich nicht exakt ihre Gesichtszüge einfangen, sie fragte sich jedoch, ob die beiden auf eine Art verwandt waren, um so vertraut miteinander auszusehen. Und ob so eine Großmutter mit ihrer Enkelin umgehen würde.
Sie konnte sich nicht erinnern je mit ihrer Großmutter gelacht zu haben. Gleich nachdem ihre Großmutter aus Frankreich zurückgekehrt war, da musste sie etwa sechs gewesen sein, hatte ihre Psyche bereits irreparable Schäden davongetragen. Da war lediglich ein Loch, dort wo ihr Herz hätte sein sollen. Einmal hatte sie versucht Jaswinda unter Wasser zu drücken, während sie Jaswinda „Le Diable!" zugeschrien hatte.
Plötzlich drehte sich die alte Frau um und streckte den Arm aus, zeigte mit dem ausgestreckten Finger direkt auf ihr Fenster. Ohne es zu bemerken war Jaswinda näher an dieses getreten, die Hand leicht auf das Glas abstützend. Der zweite Stock war nicht besonders hoch und die Kompelxe lagen nicht besonders weit voneinander entfernt. Die junge Frau folgte dem ausgestreckten Arm ihres älteren Konterparts. Die alte Frau lächelte und winkte. Etwas perplex sah Jaswinda hinter sich, als hätte sich dort aus dem Nichts eine Person materialisiert, die nicht sie war. Bevor sie sich wieder, etwas beschämt, dem Fenster zuwandte und halb die Hand hob, immer noch unsicher, ob wirklich sie gemeint war.
Woraufhin beide Frauen laut zu lachen anfingen.
Mit geröteten Wangen beobachtete sie die Szene. Sollte sie sich beleidigt fühlen? Nein, danach fühlte es sich nicht an. Die Haltung der Frauen war locker, ihre Lachen viel zu unschuldig. Es war ihre eigene Reaktion, die sie ärgerte und die sie wünschen ließ, sie könnte ihren Ärger auf etwas anderes abzielen.
Sie hob die Hand zu einem halben winken, mit einem, diesmal perfekt gesetzten, schüchternen, aber aufgeschlossen wirkenden Lächeln. Nachdem der Anflug an Scham verflogen war, konnte sich Jaswinda denken, wer die alte Frau war. Die Richtung aus der sie gekommen ist war Komplex Elf und ihrem Komplex lebte lediglich eine alte Frau, dessen Schicht sie übernommen hatte.
Wie zu einem Gebet, oder zum Dank, presste die Alte Dame unten jetzt die Handflächen aneinander und streckte sie in Jaswindas Richtung. Immer noch in ihrer Rolle, streckte Jaswinda beide Daumen hoch, winkte noch einmal, bevor sie sich anwandte.
Damit hatte die alte Dame selbst einen Teil von Jaswindas Arbeit abgenommen, und zwar auf Umwegen ihr mitzuteilen, dass sie ihre Arbeit übernommen hatte, ohne diese Nachricht auf Jaswinda zurückzuführen. Eine selbstlose Tat war meistens ein erster guter Eindruck. Noch war sie nicht bereit die alte Dame näher kennen zulernen, aber dass diese es direkt mit einer aus Komplex Zehn geteilt hat, hatte einen weiteren Teil ihrer Arbeit abgenommen. Und zwar irgendeine Verbindung zu Komplex Zehn aufzubauen.
Sie setzte sich zurück an den Tisch um ihren Bericht zu beenden. Das war zu viel Glück auf einmal. Und Jaswinda hatte kein Glück.
Ihre Augen blieben an dem von ihr eben geschrieben Wort hängen: Gift. Ein Stoff, den sie von Lady Mia erbat. Vielleicht hatte sie einmal in ihrem Leben Glück erfahren, als Lady Mia sie zu sich genommen hatte, statt umzubringen oder sich selbst zu überlassen. Doch zwei Mal in einem solch kurzen Zeitraum war undenkbar.
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