23

Ich beschloss nicht sofort umzukehren und stattdessen einen anderen Punkt von meiner Liste durchzustreichen.
Gabriels, oder inzwischen mein eigenes Abteil, lag lediglich zwei Ebenen höher und bevor ich irgendwas mit ihm anfangen konnte (wie Leute zu empfangen), wollte ich es zuerst selbst inspizieren. Es wäre mehr als peinlich irgendwelche Fallen auszulösen, die Gabriel womöglich installiert hatte, oder versehentlich einen Wein zu servieren, der mit Gift versetzt war (vorausgesetzt Gabriel beherbergte Wein in seinem Abteil).

Außerdem waren Naomi und Anjan zwei Kraftraubende Persönlichkeiten und mein Hunger hatte sich vervielfacht. Und vielleicht wollte ich auch einfach für einen kostbaren Moment unbeobachtet sein, weit weg von Augen die mich verurteilten und Münder die mich schlecht redeten. Nicht, dass ich viel darauf gab.

Im Aufzug drückte ich den Knopf für die höchste Ebene. Es überraschte mich kurz, dass ich nicht nach meinem Key-Schlüssel gefragt wurde, wie im Turm, um meine Identität zu überprüfen. Bis ich mich daran erinnerte, dass Naomi es ebenfalls nicht gebraucht hat. Die Türen schlossen sich mit einem leisen rattern und der Aufzug setzte sich authentisch wackelnd in Bewegung.

Zusätzlich zur Abwesenheit eines Scanners, fiel mir die Abwesenheit von Überwachungskameras auf und ich gab endlich dem Drang nach, meinen Nasenflügel entlang zu reiben. Naomis Anwesenheit hatte mich von vielen Abgelenkt und ich nutzte den Moment, meine Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen. Und mich um meinen Juckreiz zu kümmern. Er linderte sich nicht sofort, doch mit dem leisen Ton des Aufzuges, welcher das erreichen meiner Ebene ankündigte, war er soweit gewichen, dass ich aufatmend aus der Kabine treten konnte.

Dieses mal in fester Erwartung von der erneuten Anwesenheit von Überwachungskameras. Doch wie auf Anjans Ebene und im Aufzug konnte mein Key-Schlüssel nichts spüren. Nicht nur das. Der im dunkel braun gehaltener Flur gab kein einziges Anzeichen von Elektrizität ab. Und kein Anzeichen von irgendeiner Verbindungsmöglichkeit. Mit gerunzelter Stirn hielt ich meine rechte Hand vors Gesicht.

Das Fehlen jedweder Verbindung zum Netz ließ mich fröstelnd zurück. Es fühlte sich wie ein Loch an, eine leere, die mir bis ins Mark ging und kurz glaubte ich wirklich, dass mein Key-Schlüssel sich irgendwie abgestellt hätte.

Ich blinzelte, riss mich mit einem Ruck zurück in Bewegung, weg von der Leere. Mit dem Key-Schlüssel war alles in Ordnung. Das Adergeflecht aus Schaltkreisen unter der weißen Oberfläche gab wie immer ein sanftes, fast unscheinbares Glühen ab. Das kühle Gewicht des Ringes war plötzlich überdeutlich auf meiner Haut, während ich meine Hand langsam wieder sinken ließ.
Ich musste mich in einem Funkloch befinden, beschloss ich. War das beabsichtigt?

Es war eigenartig, dass gerade dieser Teil des Gebäudes nicht in ein Sicherheitsnetz eingepackt war. Gab es dafür einen versteckten Grund? Hätte Hades mir dann nicht davon erzählt? Meine Nase fing erneut an zu jucken. Ich lockerte meinen verkrampften Kiefer und ignorierte das Jucken, da die feine Haut auf meinem Nasenflügel sich noch wund anfühlte. Meine Nägel waren länger geworden und ich vorhin im Aufzug nicht gerade sanft zu mir gewesen. Ich überlegte kurz, Hades anzufunken, musste jedoch feststellen, dass der Key-Schlüssel nicht die geringste Reaktion von sich gab. Der kalte Schauer verstärkte sich.

Der Flur war nicht lang, vielleicht etwas kürzer als der von Anjan, aber dafür befand sich nur eine Einzige Tür hier. Kein Ort an dem sich jemand verstecken könnte. Neben der Tür leuchtete eine Gaslaterne, die einzige Art von Lichtquelle auf dieser Ebene. Nach dem sanften blauen Schein eines Scanners suchte ich vergeblich. Keine Anzeichen von Elektrizität, erinnerte ich mich.
Wie hoch standen die Chancen, angegriffen zu werden? Gering, entschied ich mich und ging auf die Tür zu.

Trotz der Abwesenheit eines augenscheinlichen Scanners, tastete ich dennoch den Rahmen der Tür entlang, auf der Suche nach einem versteckten Mechanismus. Durch das abtasten und den Schein der Gaslaterne fiel mir auf, wie schlicht die Tür gehalten war. Das Holz war noch nicht einmal richtig poliert worden und fühlte sich rau unter meinen Fingerkuppen an. Das entsprach nicht im geringsten Gabriels Stil. Jedenfalls nicht, was ich von ihm kennen gelernt habe.

Wie altmodisch, dachte ich etwas belustigt, das dumpfe Gefühl abschüttelnd, welches immer in einer scharfen Verspannung in meinen Schultern resultierte. Es war eine Mischung aus Sorge und dunklem Sarkasmus, der ein gewisses Eigenleben zu haben schien.

Ich fand keinen Mechanismus, dafür aber eine Klinke und ein Schlüsselloch direkt darunter. Als ich die Klinke probeweise runter drückte, schwang die Tür problemlos auf. Mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen, drückte ich sie weiter auf, sie war erstaunlich leicht, und trat in den kleinen, von einem Vorhang abgegrenzten Vorraum. Anstatt eines dunkel roten samtes, wie bei Anjan, war dieser in einem hellen beige gehalten. Und statt die Sicht auf den Raum dahinter zu verbergen, war dieser Vorhang zur Seite gezogen worden und gab einen unverschleierten Blick auf das Abteil Preis.

Ich musste zugeben, dass der Anblick mich kurz beruhigte. Es war alles von Gabriels Persönlichkeit in einem Ort vereint. Ein weißer Marmorboden, durchzogen von goldenen Adern, auf dem schwere Möbel aus vergoldeten Gestellen platz fanden. Der Raum war mindestens doppelt so groß wie Anjans und ich hätte mir gewiss die Zeit heraus genommen, die Glasschränke an den Wänden genauer zu betrachten, die mit allerlei Zeugs gefüllt zu sein schienen. Oder mich in einen der beigen Sessel geschmissen, die zu einer kleinen Sitzgruppe gehörten, zu der noch eine breite und lange chaise longue gehörte. Oder aber an das Fernglas getreten, welches vor einem der Panoramafenster aufgestellt worden war, mit direktem Blick auf die Kantine. Die Ausrichtung erschien mir zu genau und vielleicht hatte Gabriel ja jemanden spezifisch im Auge behalten wollen.

Doch meine Neugier und Erleichterung wurden Schlagartig gedämpft durch die Anwesenheit einer Person an der langen Tafel, die entlang des Zweiten Panoramafensters aufgestellt worden war. Es gab insgesamt drei. Vor dem letzten war die Sitzgruppe, die erste diente als Ausguck für das Fernglas.

"Professor Martins." Die Stimme, welche die Stille durchschnitt, war kalt und humorlos. Mein Gehirn registrierte etwas zu spät, dass sie mir gehörte. "Mademoiselle Denaux, ich hoffe sie hatten ein angenehmes Gespräch mit ihrem Springer." Er weiß es, schoss es mir schneidend durch den Kopf.

Ich zog, ohne mich umzudrehen, die Tür hinter  mir zu. Jetzt umzudrehen war unmöglich.
"Sie scheinen darüber besser Bescheid zu wissen, als ich", sagte ich.
"Mir wurde lediglich mitgeteilt, dass sie mit Naomi diesen Ort betreten haben." Und er hatte seine eigenen Schlüsse gezogen. Das hieß aber dennoch, dass er bestens über Naomies und Anjans Beziehung Bescheid wusste. Etwas, worüber ich mir den Kopf zerbrach, seit Hades und ich darauf gestoßen waren.

Professor Martins hatte die Nerven, den Stempel einer French Press runterzudrücken. Mit seinen verschnörkelten Goldenen Ornamenten zweifelte ich nicht, dass sie ebenfalls zu dem Interieur dieses Abteils gehörte. Während meine Nerven sich zum zerreißen anspannten, darüber, dass er sich hier wie zu Hause fühlte, griff Professor Martins zusätzlich nach einem der Kekse, die fein drapiert auf einem turquoise blauen Servier Teller lagen.

Dank Hades konnte ich einiges über die Gebräuche an diesem Ort sagen. Und einer davon erklärte diesen Ort als Tabu für jeden, der nicht ausdrücklich vom Besitzer eingeladen worden war. Die Abteile dienten als privater Rückzugsort für solche, die selbst in einer  Schule für reiche noch auffielen.

Der Gedanke war so erdrücken, dass ich beinahe auf dem Absatz umgekehrt und gegangen wäre. Mit dieser Formulierung, und sei sie nur in meinem Kopf, hatte ich mich praktisch selbst in die Klassen Hierarchie eingeordnet. Dabei war ich nur aus einem Grund hier. Ein Grund, der mich zwangsläufig in das Klassensystem steckte, oder?

Leise, aber tief durchatmend merkte ich, wie meine Gedanken zu laut und zu viel wurden. Und trotz meines unauffälligen Versuches, meine Atemübungen leise zu absolvieren, sah auch Martins jetzt von seinem Keks auf und durchbohrte mich mit seinen Blicken. „Wollen sie sich nicht setzen?", fragte er in einem überzeugenden Anteilnehmenden Ton. War das die Revanche für unser Gespräch von heute morgen? Was sollte es sonst sein, murmelte eine leise Stimme in mir.

Mit kühlem Blick wandte ich mich von ihm ab und trat an das Fenster mit dem Fernglas.

Ich sah hinab, auf die Menge von Schülern. Erneut überwältigte mich die Aussicht. Von hier oben konnte man genau erkennen, wer zu wem gehörte, wer wen kannte, und ich meinte sogar erkennen zu können wer wen bestach. Jedenfalls streiften die Blicke vieler nicht zu einem Tisch dazugehöriger Personen einmal zu oft aneinander. Das Fernglas musste einen noch viel genaueren Blick ermöglichen, dachte ich.

Es war nicht die Einteilung, die man von einer Amerikanischen High School erwartete. Was sich unter mir abspielte war ein kleines Schlachtfeld. Meine Muskeln begannen sich zu entspannen und mein Kopf klärte sich. Es war das gleiche Prinzip wie bei einer Balance Übung. Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren fokussierte man sich auf einen einzigen Punkt und hielt in dort, bis man nicht mehr das Gefühl hatte, bei dem kleinsten Atemzug umzukippen.

„Sie haben Mut, Professor Doktor Martin. Sie haben wirklich Mut", sagte ich, sobald der Strom in meinem Kopf sich angefangen hatte zu beruhigen.
Der Professor hinter mir begann zu lächeln, was ich durch die leichte Spiegelung im Fenster erkannte. „Mut?", fragte er, sichtlich amüsiert über die Aussage einer Anfang zwanzig Jährigen. Ich sah weiter aus dem Fenster, fing mit dem neu gewonnen Fokus gezielt Ereignisse aus meinen Erinnerungen zu ziehen, die mir bewiesen, dass ich bereits in überforderteren Lagen gewesen bin und ich es auch dort geschafft habe, einen kühlen Kopf zu bekommen.

Die Visualisierungen und Bestätigung meines eigenen Könnens halfen mir, weiter runter zu kommen und mich von seiner Anwesenheit nicht einschüchtern zu lassen. Er hatte mir gegenüber einen Vorteil. Seine Anwesenheit hier war nicht nur überraschen, sondern auch vollkommen unerwartet gewesen. Ein Psychologischer Schachzug, da sie in mir die Fragen hervorriefen, zu wie viel mehr in der Lage er sein könnte, wenn er bereits zu einem der privatesten Orte des weißen Königs Zutritt hatte.

„Mademoiselle Denaux, mögen sie ihre Aussage vielleicht genauer erläutern", durchbrach Martins die Stille. Seine Stimme dieses Mal in einem Lerhrertypischen Tonfall. Dieser Mann zog es vor, mich nicht ernst zu nehmen.
Was mich zu einer endgültigen Entscheidung kommen ließ.

Ich streckte das Schweigen erneut aus, ließ mir bewusst Zeit dabei, das Geschehen in der Mensa weiter zu beobachten. Natürlich brauchte es keinen Mut, aus einem Büro zu gehen, sich nicht unten an den Lehrertisch zu setzten und stattdessen eine andere Abzweigung zu nehmen, die zu dem abgegrenzten Bereich führte, die er selbst oder einer seiner Vorgänger errichtet haben. Es brauchte auch keinen Mut an Captain Lincols Leuten vorbeizugehen und den VIP Raum zu durchqueren. Es brauchte vielleicht ein bisschen Mut an den zweiten Set Türsteher vorbeizukommen, doch mit dem richtigen Key-Schlüssel sollte das kein großes Problem darstellen.

Was also an Martins Verhalten war mutig?
Ich musste keine Gedankenlesen können um zu wissen, dass der Professor sich wahrscheinlich genau das fragte. Neben ein paar ernsthaften Verwünschungen gegen meine Existenz.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top