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Anjans Blick glitt langsam an meiner Person hinab. Sein Gesicht war ausdruckslos, als seine Augen an meiner rechten Hand hängen blieben. „Es gab Gerüchte", hörte ich ihn sagen. Meine Nase fing an zu jucken und es zuckte mir in den Fingern sie zu erleichtern. Stattdessen rümpfte ich sie kurz, hoffend dass die Bewegung irgendwas bewirken würde.
„Du bist nachlässig geworden, Anjan", sagte ich ernst und fuhr mir jetzt mit einem Finger meinen Nasenflügel entlang, wobei ich meinen Nagel unauffällig nach unten drückte. Der dadurch ausgeübte Druck ließ mich innerlich aufatmen. Doch wenn bei mir erst einmal etwas zu Jucken angefangen hat, hörte es erst wieder auf, wenn ich es entweder vergaß oder ich mich aufmerksam um die Stelle kümmerte.
Idealerweise passierten diese Momente in den ungünstigsten Situationen.
Wie in der folgende Stille, welche genauso gut auf einen Peitschenhieb hätte folgen können, den ich direkt vor Anjans Füßen hätte knallen lassen. Seine durchdringender Blick war Starr auf einen Punkt hinter mir gerichtet, aber ich bezweifelte nicht, dass er jede meiner Bewegungen registrierte. Ich machte einen Schritt zurück, brachte Abstand zwischen.
„Ich bin seit einem Tag wieder im Land", fuhr ich fort, als die Stille ihren Höhepunkt erreichte. Anjans Hände gruben sich in die Exquisiten Lehnen seines Stuhls. Er war aus kostbarem, dunkel roten Leder, welches sich stark von dem Königsblauen Teppich unter ihm abhob. Beide Farben stießen voneinander ab, wie man es von Kanariengelb und jeder anderen beliebigeren Farbe erwarten würde. Und doch harmonierten der Teppich wunderbar mit den Stühlen, und die Grüne Vase in der Ecke des Raumes mit seinen Kanariengelben aufgemalten Paradiesvögeln, welche mir erst jetzt ins Auge stach. „Wie kommt es, dass der weiße Springer, keine Nachricht davon erhalten hat? Wie kommt es, dass man nichts mehr von ihm hört, weil er sich an Orten wie diesen Verschanzt?"
Die Worte hatten kaum meine Lippen verlassen und ich konnte sehen, wie ich eine Grenze bei ihm überschritten habe. Sein Kiefer mahlte und der Zug um seinen Mund verhärtete sich. Wie dumm von mir, schaltete ich mich innerlich. Niemand hörte gerne eine Predigt, erst recht nicht von einer Person, die man eben noch als unbedeutend angesehen hat, bevor sie dir das Gegenteil erläuterte. Ich schob es auf meine immer noch juckende Nase, die ich kurzfristig vergessen habe, und die Vase, dessen bunte Aufmachung meinen Blick immer wieder magisch anzog. Sie stand da wie ein Leuchtfeuer inmitten einer dunklen und schweren Inneneinrichtung.
Anjan hatte sich inzwischen so weit gefangen, dass ich sehen konnte, wie seine gesamten Züge sich vor mir verschlossen. Sein Blick streifte dezent an mir vorbei zur Tür und ich wusste, dass er sich fragte, wo seine Security blieb.
Ich trat einen weiteren Tritt zurück, nahm sein volles Profil in mich auf, bevor ich, einer simplen Intuition folgend (geleitet von einem erheblichen Druck, die Situation erneut zu meinen Gunsten zu kippen, ohne mir diesen Druck anmerken zu lassen) sagte: „Oder hat dich Gabriel so vernachlässigt, dass du nicht mal mehr weißt was es heißt, diesen Titel zu tragen." Wie ein tödlicher Pfeil, flog und trafen meine Worte ein Ziel mit einer Präzision, die ich nicht hatte kommen sehen. Seine Zügen kamen gänzlich zum Stillstand. Die Lehnen unter seinen Fingern ächzten unter dem plötzlichen heftigen Druck die er auf sie ausübte und welcher seine Knöcheln weiß hervorstechen ließen.
Ich fühlte mich plötzlich wie ein Raubtier, welches eine Antilope ins Auge gefasst hat. Die Heftigkeit seiner Reaktion ... die Intensität und Anspannung dieser Situation war alles andere als geplant gewesen.
Ursprünglich hatte ich mich nur vorstellen und ihn anschließend höflich einladen wollen.
Doch der Anjan aus Hades Berichten und der Anjan vor mir waren so verschieden, dass ich mich von meinem Instinkt habe leiten lassen. Seine Ahnungslosigkeit über alles war offensichtlich. Er hatte meine nicht schwer zu verstehende Andeutung des verlorenen Krieges als Verschwörung abgetan. Obwohl Anjan selbst eher einem Phantom glich, wusste Hades als sein Vorgesetzter Bruchstücke darüber, dass er ein unschlagbares Netzwerk an Informanten besaß (oder man nahm es zumindest an). Nach dem Zerschlagen des Weißen Seite und Hades abtauchen hatte dieser nur wenig von den restlichen Spielern der Weißen Seite herausfinden können, die nicht mit ihm in den Katakomben gewesen waren.
Anjan war einer von den verstreuten Spielern gewesen, die Hades aus den Augen verloren hat oder um die er sich einfach nicht mehr gekümmert hat. Immerhin war es nicht sein offizieller Job die restlichen weißen Schachfiguren zu Überwachen. Nein, dass war offiziell die Aufgabe des Springers. Ein anderer Grund, weshalb Anjan so wichtig war. Ich war noch nicht vertraut genug mit der Konstellation der Schachfiguren und ihren Aufgaben. Hades als Königin war zwar eine gute Informationsquelle, doch um alles zu verstehen benötigte ich die Hauptader des Informationen Flusses. Doch diese Ader schien trockener zu sein, als in meinen schlimmsten Befürchtungen.
Mit einem leisen innerlichen Seufzer nahm ich erneut den Platz ihm gegenüber ein. Ich würde nicht weiter kommen, wenn ich mich auf ein hohes Ross schwingen würde, was mir selbst die Sicht auf die Fakten versperrte. Es war nicht leicht, sich Nicht von Macht blenden zu lassen und trotzdem diese Macht anderen gegenüber auszustrahlen. Und es war weiterhin eine Herausforderung einen kühlen Kopf zu bewahren, wenn mein Flieh und Kampf drang alle Alarmglocken in meinem Gehirn zum schrillen brachte und Voreilige Schlüsse ziehen wollte.
Genau genommen, pochte mein Kopf bereits vor lauter Gedanken und der Anstrengung, die Verbindung zu Anjans Key-Schlüssel aufrecht zu erhalten, um weiterhin das Signal an seine Security zu unterbinden.
Ich überlegte wie ich vorgefahren konnte. Anjan schien gänzlich zur Statue verwandelt. Er hatte sich nicht einmal geregt, als ich mich gesetzt habe. Was mich wiederum neugierig auf seine Beziehung zu Gabriel machte.
„Was hat Gabriel dir angetan um dich so zu verkrüppeln?" Ich hatte diese Welle bestiegen, also würde ich sie in diesem Fall auch zu Ende reiten. War es fair von mir seinen Wunden Punkt offenzulegenden wahrscheinlich ein gutes Liter Alkohol darauf zu kippen. Vermutlich nicht.
Anjans Kopf hob sich lediglich langsam, doch der dramatisch aufbauende Effekt verfehlte sein Ziel nicht. Der Hasse in seinen Augen schoss mein Pfeil geradewegs zurück zu mir. „Wo ist er?", fragte er leise und der Hass vibrierte in jeder einzelnen Silbe nach. Hass und Angst. Es dauerte einen Moment, bis ich registrierte dass er sich nicht gegen mich richtete. Oder zumindest der Löwenanteil davon. Was hatte Gabriel getan, um so einer Person Angst zu machen? Die unbeantwortete Frage hinterließ einen verstörenden Nachgeschmack in mir. Und machte mich wütend. Und ein bisschen verzweifelt.
Ich würde einen voll funktionierenden Anjan brauchen, wenn ich gegen Ethan vorgehen würde. Und seine persönlichen Dämonen dabei einfach ignorieren? Der Junge scheint gebrochen zu sein, flüsterte eine leise Stimme dunkel in mir.
Das Kanariengelb der Vase stach mir ins Auge und ich brachte ein Lächeln zustande.
„In seiner ganz persönlichen Hölle", antwortete ich und hielt den Blickkontakt dabei konsequent aufrecht. Konsequent, da mein Inneres nicht wusste, ob es in diesem Blau versinken, oder sich davor schützen sollte.
Ein Gedanke regte sich in mir. Dinge von großer Schönheit tendierten dazu von großer Last zu sein und von Kummer verfolgt zu werden. Gabriel war ein leidenschaftlicher Sammler von schönen Dingen. „Deine Augen", murmelte ich unbewusst. Anjan zuckte so heftig zurück, dass sein Kopf gegen seine Stuhllehne knallte. Ein fast schon komischer verwirrter Ausdruck huschte über sein Gesicht. Bei meinem eintreten vorhin war mir Anjan wie eine Person vorgekommen, die sich unter Kontrolle hat und die von einer Kühlen Ausstrahlung umgeben war.
Sein verwirrter Ausdruck rief in mir die Frage hervor, wann er sich das Letzte mal mit seinen eigenen Emotionen konfrontiert gesehen hat.
So weit ich erkennen konnte, waren seine Augen intakt. Doch seiner Reaktion nach und Gabriels Charakter zu urteilen, musste er etwas für ihn und Anjan bedeutend Gleichwertiges genommen haben.
„In ihnen ist sehr leicht zu lesen", vollendete ich scheinbar meinen Satz, als hätte ich nicht darauf angespielt, dass Gabriel womöglich seine Auge hatte stehlen wollen. Obendrein war es eine Lüge, man konnte sich nicht ansatzweise lange genug auf sie konzentrieren und wurde viel mehr regelrecht von ihnen verschlungen. „Gabriel... ist er hier?" Anjans Blick zuckte zu meinem Ring und verweilte dort wie in einer Art Trance. Ich zog meine Hand vom Tisch und legte meine gefalteten Hände auf meinen Schoß ab.
„Nein."
Anjans Blick zuckte nach oben. Jedes Anzeichen von Schwäche verschwunden.
„Wo ist er?", fragte er mit einer Stimme, die es gewohnt war, Antworten zu bekommen. Sie passte zu der schweren luxuriösen Inneneinrichtung dieses Ortes. Ausgenommen der Vase, die ich nicht ganz einordnen konnte, je länger ich sie in meinem Sichtfeld wahrnahm.
Naomi am Boden gab ein leises Stöhnen von sich. Sie kam schneller wieder zu sich, als ich ihr zugetraut hätte. Ich erhob mich. Das alles hatte eine viel düstere Note genommen, als erwartet. Mit einem letzten Blick auf das Gewirr der Cafeteria unter uns, schob ich den Stuhl höflich zurück an den Tisch und zog in der gleichen Bewegung einen Umschlag aus dem Bund meiner Hose. Weshalb ich ihn dort versteckt hatte, wusste ich nicht. Doch da ich den Bruchteil einer Sekunde hinter dem Stuhl genutzt hatte, um ihn hervorzuziehen, musste es für Anjan so aussehen, als wäre er aus dem nichts gekommen.
Ich legte den Umschlag in die Mitte des Tisches. Er würde lediglich den Arm ausstrecken müssen um nach ihm zu greifen. Anjan beäugte ihn, als wäre er eine giftige Schlange. Oder vielleicht eine giftige Spinne? Ich konnte nicht sagen, wovor sich Anjan am meisten Ekelte, um diesen düsteren Schatten in seinen Augen zu erzeugen. Am Ende war es gar Gabriel. Doch anstatt nach ihm zu fragen, wiederholte er seine Frage durch gepresste Zähne hindurch.
Ich musste innerlich lächeln. „Das wirst du erfahren, wenn du kommst." Ich deutete auf den Umschlag und drehte mich ohne ein weiteres Wort um. Seine Antwort nicht abwartend, ging ich, über Naomi hinweg steigend, zurück zum Vorhang und schob die eine Seite komplett auf. Einerseits, weil das Material sich dekadent und voll und himmlisch in meiner Hand anfühlte. Andererseits weil mir die unterschwellige Metapher darin gefiel, den Vorhang einfach offen zu lassen (zumindest eine Seite) um so das Gefühl abzuschütteln, dass Anjan sich augenscheinlich von seiner Außenwelt abgeschottet hat. Und so zugänglicher für mich war.
Der Gedanke war zugegen düster, doch ich war in Fahrt. Trotz der düsteren Note hatte ich nicht das Gefühl, dass dieses Gespräch umsonst gewesen war. Und selbst wenn ich es in den Sand gesetzt haben sollte... „Anjan", sagte ich, mit einer Hand auf der Klinke, „Ich kann keinen Springer gebrauchen, der seine Arbeit nicht richtig machen kann."
Dieses Mal wartete ich kurz, gespannt, ob er etwas sagen würde. Doch als nichts kam, öffnete ich die Tür und trat hinaus.
Du weißt noch nicht einmal, ob er dein Springer sein möchte, flüsterte eine leise, gemeine Stimme in meinem Hinterkopf. Ein leiser Funken Unsicherheit, den ich mit dem Absatz meines Fußes zertrat.
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