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Er sah es in meinem Gesicht, kaum dass ich die Tür zu seinem Zimmer öffnete. Sein Rollstuhl war den bodentiefen Fenstern zugewandt und sein Zimmer wies den gleichen Luxus auf wie alles andere hier. Kein Kerker, keine Ketten.
Trotzdem schien es der einzige Ort zu sein, der keinen Zugang zur Terrasse hatte.
Weil ein Rollstuhlfahrer ja auch an ihren stützenden Säulen hinunter klettern könnte, kicherte mein Unterbewusstsein, welches ich bereits für begraben gehalten hatte.
Ich warf Jaswinda über die Schulter einen letzten, entschuldigenden Blick zu, bevor ich die Tür hinter mir schloss und die junge Frauauf dem Flur zurück ließ. Dann nahm ich einen tiefen Atemzug, meine Stirn an das lackierte Holz der Tür gelehnt.
"Ich bin nicht dein Feind", sagte der Mann hinter mir, der mein Leben für immer verändert hatte.
Ich drehte mich zu ihm um. Die Hände zu Fäusten geballt.
Wellen von Schuldgefühlen und Wut brandeten über mich. Mir war klar, dass wir uns in keiner sicheren Position befunden hatten, in der er mir es hätte sagen können. Aber Situationen konnten leicht geschaffen werden, er hätten versuchen können, mir ein simples Zeichen zu geben, er hätte... er hätte sich nicht so schwer verletzten sollen.
Sein Gesicht wirkte eingesunken und die dunklen Ringe unter seinen Augen schienen in seine Haut tätowiert zu sein.
Sein Haar hatte an Glanz verloren und seine Lippen waren eingerissen.
Ein Mundwinkel hob sich leicht. "Geblendet von meinem Aussehen?"
Ich zuckte zusammen und fühlte mich erwischt. Selbst an der Schwelle des Todes hatte er nicht so schlimm ausgesehen.
Und plötzlich fiel mir auf, dass er seinen Verband gar nicht mehr trug. Sein Gesicht und seine Identität lagen auf einem Silbertablett, für jeden, der durch diese Tür kam.
"Wo ist dein Verband, wenn Ethan dich so sieht und erkennt, wer du bist..." Ich ließ den Satz unvollendet. Nicht einmal der liebe Gott wusste, was Ethan dann mit ihm anstellen würde. Nichts Gutes, so viel stand fest.
Aber anstatt besorgt oder ängstlich zu wirken, breitete sich ein echtes Lächeln auf Gabriels Gesicht aus. Als würden ihn meine Worte ganz besonders freuen. "Du wirst also mit mir kommen", sagte er und ich meinte, einen leisen Singsang in seiner Stimme zu hören. Es hörte sich... unstimmig an.
"Mitkommen?", fragte ich perplex und versuchte nicht weiter auf den Rollstuhl unter ihm zu achten. Er ließ mich vor Frustration kaum atmen.
"Zurück... nach Frankreich. Um diesen schrecklichen Ort hinter uns zu lassen."
Das brach den Damm. Mein Kopf schnellte so schnell hoch, dass mein Nacken laut knackte. Der Schmerz war kurzlebig und dennoch fühlte es sich an, als hätte er sich binnen Sekunden in meinem ganzen Körper ausgebreitet. Der Mann vor mir schien mein Unbehagen gar nicht zu spüren. Er sprühte geradezu vor Eifer. "Ich wollte, dass du selbst erkennst, wer ich bin. Jetzt, da du es hast, können wir zurück nach Hause, wir können von vorne anfangen, wir-"
"Ich bin doch schon zu Hause", rutschte es mir raus, und schlagartig wich jegliche Wärme aus dem Raum.
Was.Zum.Teufel.Hatte.Ich.Da.Gerade.Gesagt?
Gabriel sah mich an, als wäre mir ein drittes Auge gewachsen, als wäre ich eine Monströsität, die vorher noch nicht da gewesen war. Ich schluckte schwer, entsetzt von mir selbst. Ich kannte diesen Ort noch nicht einmal. Alles, was ich bisher gesehen hatte, war in einem Rausch an mir vorbeigezogen.
Plötzlich zogen sich Gabriels Brauen unheilvoll zusammen. "Was dieser Bastard mit dir angestellt! Dich gefoltert? Dir eine Gehirnwäsche verpasst?!"
Schneller als ich gucken konnte, hatte er seinen Rollstuhl vor mir bugsiert und griff fast schon aggressiv nach meinen Händen. "Das ist nicht echt!", zischte er mir beschwörend zu. "Er spielt dir nur etwas vor!" Ich wollte meine Hände von seinen lösen, sein Gesichtsausdruck machte mir Angst.
Bei Gott, ich wusste, dass Ethan nicht perfekt war. Er war einer, oder viel mehr, der schlimmste Mensch, den ich je in meinem Leben kennengelernt hatte (Was das aus mir und meinen Gefühlen für ihn machte, wusste ich nicht), aber immerhin gab er es offen zu. Zumindest seinem Inneren Kreis. Dieser Mann vor mir allerdings... Er sah aus wie ein reiner Engel, ein hohes Geschöpf Gottes- der Ausdruck in seinen Augen allerdings...
"Bitte... Beruhige dich erst mal und dann-"
"SEI STILL!", brüllte er und riss so fest an mir, dass ich nach vorne stolperte. Die Tür hinter uns flog auf und katapultierte uns nach vorne. Gabriel kippte um und ich landete praktisch auf ihm. "My Lady!" Jaswinda kam in den Raum gestürmt und wollte mir helfen, aber kaum als sie in Gabriels Reichweite kam, schubste er sie weg. Er packte brutal nach meinen Haaren und zog mich zu ihm. "Du hast mir zu gehorchen!", zischte er. Sein Verhalten erinnerte mich an eine Schlange aus dem Dschungel.
Im nächsten Moment streichelte er auch schon wieder sanft mein Haar. "Zuhause in Frankreich wird es dir gefallen, Mon Ange." Während er das sagte, überkam mich eine kurze Vertrautheit, aber ich hatte kaum Zeit, mir dieses Gefühls bewusst zu werden, da riss mich Jaswinda schon aus seinen Armen und zerrte mich Richtung Tür.
"LASS SIE LOS", fing Gabriel unmittelbar an zu kreischen. "GIB SIE MIR ZURÜCK!"
Ich war mehr als froh, als die Tür sich hinter uns schloss und sich nun eine Wand zwischen ihm und mir befand. Sein Auftreten ließ Übelkeit in mir aufsteigen. Nach Hades' Erzählungen und unserem kurzen Zusammentreffen hatte ich ihn mir immer von stattlicher Art vorgestellt. Die Person da drin...
Ich griff nach Jaswindas Hand und sah ihr beschwörend in die Augen. "Erzähl niemandem, was du heute gesehen hast."
Jedenfalls bis ich selbst im Klaren bin, wie ich mit dieser Situation überhaupt umgehen sollte.
B
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