37

„Ich habe einen Schuss gehört", sagte Hades mit einer Stimme, die ich weicher in Erinnerung hatte. Die Schärfe seiner Augen stimmte ebenfalls nicht mit der, in meinen Erinnerungen, meinen widerkehrenden Träumen überein. Das Gelb in ihnen glühte um ein Vielfaches intensiver, wilder. Als hätte man dem Falken die Leine genommen und würde ihn nun in der wilden Natur antreffen, wo jeder sein Überleben gewährleisten musste. „Der britische Premierminister ist Tod", erwiderte ich und versuchte in seinem unbewegten Gesicht zu lesen. War es schmaler geworden? Seine Wangenknochen stachen einem förmlich ins Auge. Seine Haut war ebenfalls dunkler geworden, was ich lediglich anhand der weißen, feinen Linien ausmachen konnte, die sich durch seine rechte Augenbraue zogen. Es waren drei und sie sahen aus wie Krallenspuren.

Welchem Wesen war es gelungen, einem der gefürchtetsten Attentäter eine Narbe zu verpassen. Selbst Ethan hatte Vorsicht vor der weißen Königin gezeigt. Meine Hand bewegte sich von selbst und meine Fingerkuppen strichen sacht über das verunstaltete Gewebe. Hades Lieder flatterten, bevor sie sich schlossen und sein Kopf sich nach vorne neigend meiner Berührung entgegenkam.

Ich wusste nicht woher, aber auf einmal flackerte Amy Patrovs Gesicht vor mir auf. Wir gingen seit der Grundschule in dieselbe Klasse, doch richtig wahrgenommen hatte ich sie erst in der neunten. In dem Jahr hatten wir beide in der Schulbibliothek ausgeholfen. Eine Aufgabe, von der sich der Direktor wohl erhofft hatte, sozial nicht präsente Schüler untereinander zu integrieren.

Amy war nicht unbeliebt gewesen. Sie war einfach einer jener Menschen gewesen, die man selten wahrnahm, weil sie so unscheinbar waren. Hätte der schändliche Ruf meines Vaters mir nicht bereits vom ersten Tag der Middle School einen Vorurteilbehaftetes Image gegeben, wäre meine Schulzeit womöglich ebenso Ruhig und Friedvoll verlaufen wie Amys. Wobei ich natürlich nicht wusste, ob Amy es geschätzt hatte, alleine zu Essen. Immerhin war sie von fliegenden Spaghetti und spritzender, heißen Brühe verschont geblieben.

Was sie jedoch definitiv geschätzt hatte, war ihr Brieffreund gewesen. Einen Menschen, über den sie Stunde um Stunde hatte reden können, auch wenn ich hartnäckig versucht hatte, ihre Stimme auszublenden. Menschen um mich herum geschah meistens dasselbe wie mir und Amy war ein zerbrechliches, kleines Mädchen gewesen, dass ich keinen zweiten Gedanken darauf verschwändet hatte, ob ich mich vielleicht doch mit ihr anfreunden wolle. Nur wenn sie von ihren Briefen gesprochen hatte, schien aus ihr eine gänzlich andere Persönlichkeit zu wachsen. Sie strahlte und sprach mit einer solchen Vertrautheit über jemanden, den sie nur durch seine Worte kannte, dass ich ehrlich versucht war, mehr darüber erfahren zu wollen.

Letztendlich hatte ich sie ignoriert, ihr Gerede von inniger Verbundenheit als Schwachsinn abgetan und sie nach der Middle School nie wiedergesehen.

Es kostete mich nicht viel, um die losen Enden dieser erneut auflebenden Geschichte mit meiner jetzigen Situation zu verknüpfen. Es kostete mich nichts, die Tatsache anzunehmen, dass Hades kniende Statur eine solche vertraute Wärme in mir auslöste, so als hätte er jeden einzelnen Schmerz mit mir durchlebt. Hades war zu einer mentalen Stützte für geworden, da ich nichts und niemanden gehabt hatte, auf den ich mich in dem einsamen Anwesen in England hatte stützen können. Und es konnte mich alles kosten, falls mein Mann jemals davon erfuhr.
Er würde es als Verrat sehen und jede zärtliche Sekunde zwischen uns wäre dahin.
Bist du dir sicher?
Wer konnte das schon? Ethan schien sich mehr und mehr zu einer einzigen Grauzone zu entwickeln, mit der ich nicht umzugehen wusste.

Meine Hand stockte in ihren Bewegungen und ich musste mir zum ersten Mal die Frage stellen...

"Ich bin verheiratet", sagte ich leise. Hades Augen öffneten sich. "Die Zeit mit ihm hat dich verändert...
du siehst wunderschön aus." Ich schenkte ihm ein schiefes Lächeln. Ohne sagen zu können, ob Hades meine Gefühle überhaupt teilte, lag mir viel daran, dass dieser Mensch mich nicht hasste. "Ethan sorgt für die seinen." Ich zeigte auf das Kleid. Es hätte offensichtlich ein Vermögen gekostet, wie alles andere auch, mit dem ich mich jetzt anscheinend umgab.

Hades stand auf, den Kopf sacht schüttelnd. "Nein Mia, du bist wunderschön." Er fuhr sich durch sein kurzes Haar, trat einen Schritt zurück und wiederholte die Geste. Eine ungewohnte offenlegung seiner Nervosität. Andererseits hatte er seine Haare oft in meiner Gegenwart neu geordnet.

Stehend trafen mich eine weitere Veränderung an ihm, die seine Worte beinahe verschluckte. Er hatte an Statur gewonnen, war kräftiger geworden. Sein Jackett war zurückgeschlagen und ich erkannte die zwei Pistolenholster und die glänzenden Kolben. Er war mit einer Mission hier, so viel stand fest. "Mia?"

"Du kannst ihn nicht töten", flüsterte ich. Mein Braun traf auf sein Gelb, die im Bruchteil einer Sekunde an Schärfe gewannen. "Er hat dich entführt, festgehalten, nenn mir einen Grund, weshalb ich dich nicht retten sollte."

"Bist du deswegen hier?" Ich bezweifelte es und sein Zögern verwandelten meine Zweifel in eine unantastbare Bestimmtheit. "Ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr ich mich... danach gesehnt habe, dich zu sehen, aber was auch immer du hier tust, du wirst ihn nicht umbringen."

*

Die Endgültigkeit in ihrer Stimme war nicht nur nicht zu überhören, sondern unterstrich all das, von dem er sich gefürchtet hatte. Als der Schuss verklungen ist, dachte er, ihm bliebe das Herz stehen.

Doch es ließ sich nicht im mindesten mit dem Gefühl vergleichen, welches die einhergehende Frage in ihm auslöste. "Liebst du ihn?"

Die in Mondschein gebadete Frau, von der er nicht wusste, weshalb er eine solche Vertrautheit verspürte, blinzelte. Und schwieg. Etwas in ihm knackte. Einmal. Zweimal. "Das geht nur mich etwas an." Dreimal. "Mia?" Sie beide zuckten zusammen, als die Stimme wie eine Peitsche durch die Dunkelheit schnellte und hörbar sofortige Aufmerksamkeit verlangte. Er war hier. In seiner unmittelbaren Nähe. "Das war keine Bitte", zog gefragte Person ihn mit ihrer Stimme in erneuten Bann. "Sondern eine Warnung." Er konnte Trauer, aber Bestimmtheit in ihr erkennen. "Ethan Lockehart ist nicht fähig, zu lieben", sagte er mit einer Dringlichkeit, die er so noch nicht verspürt hatte. Er war gar nicht gekommen, um den jungen Lord kalt zu stellen, noch war dafür nicht der richtige Zeitpunkt. Dennoch schien er sie vom Gegenteil überzeugen zu wollen. "Ein Mann, der solches Leid in der Welt verteilt, kann gar nicht lieben!"

Sie zuckte zurück, als hätte er sie geschlagen. Ihm kam ein Gedanke. "Weißt du überhaupt um seine Verbrechen!?" Die darauffolgende Stille war Antwort genug. "Komm mit mir!" Die Aussage war unüberlegt und in der Praxis unmöglich in die Tata umzusetzen, aber er wollte, dass sie ja sagte. Stattdessen trat sie einen Schritt zurück. Fünfmal.

"Mia Lockeheart!", donnerte es durch die Nacht und die darauffolgende Stille sprach nicht von einer noch angenehmen Festivität.

Er trat einen Schritt vor, ungewiss, was er damit bezweckte. Ein sechste und endgültiges Knacken überkam ihn, als sie mit einem Schritt nach hinten antwortete. Weg vom Nordlicht, zurück in die Schatten. "Folge uns Morgen", flüsterte sie nach sichtbaren Zögern und verschwand. Ließ ihn verwirrt darüber zurück, was sie damit meinte und wie er mit dem Schmerz in seinem Inneren vorgehen sollte.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top