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Es war Krieg.
Anders ließ es sich nicht beschreiben.
Menschen starben, wo man nur hinsah, Kinder wurden zu Waisen und Straßenkämpfe gehörten auf einmal zum Alltag. Die Flucht aus den Katakomben und der anschließende Weg, bis hier hin, war zu belastend, zu schwer, um ihn zu schildern oder um ihn auf irgendeine Art und Weise noch einmal zu durchleben.
Nur so viel sei gesagt, dass er das Leid, welches er hatte beobachten und mitdurchleben müssen, für immer in ihm tragen würde.
Er hatte davor Menschen ohne mit der Wimper zu zucken getötet, jetzt zitterte seine Hand alleine bei dem Gedanken, dass diese Menschen Familie, Ziele oder Träume gehabt haben könnten. Nein, gehabt hatten. Denn sie hatten gelebt. Und das Leben war so kostbar, da es ihnen nur einmal geschenkt wurde. Er schloss die Augen und verbannte mit drei Tiefen, gleichmäßigen Atemzügen die Schreie, die sich in sein Gehirn gebrannt hatten. Zusammen mit dem Bildern, die ihn in seinen Träumen begleiteten.
Er hatte für die Familie Denaux gelebt, hatte für Gabriel gelebt, aber jetzt, da er sah, was Ethan Lockheart mit der Welt da draußen getan hatte, fragte er sich, inwiefern sich seine Taten, mit denen von Gabriel unterschieden. Egal wie er es auch drehte und wendete, Gabrieles Aufträge, seine Befehle und seine Anweisungen...
Die Antwort lag klar auf der Hand. Gar nicht. Nein, Gabriel war womöglich sogar schlimmer, denn Ethan schien in dem ganzen Chaos dennoch nach einem Ziel zu streben. WAS war Gabrieles Ziel gewesen? Was waren seine Gründe gewesen, die Menschen um ihn herum, allen voran sein eigenes Personal, zu terrorisieren.
Früher hatte ihn all das nicht gekümmert, da er es früher nie am eigenen Leib hatte erfahren müssen. Er hatte immer am goldenen Ende der Fahnenstange gestanden. Jetzt jedoch, hatte er das Gefühl, jede Sekunde zu ertrinken.
Es folgten weitere drei tiefe Atemzüge. Das hier war wohl der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um auf dem trockenen zu ertrinken und seinem Feind somit einen klaren Vorteil zu verschaffen. Es hatte ihn Wochen der Observierung, Informationsbeschaffung und Blutvergießen gekostet, um auf das Lockheart Anwesen zu kommen. Sein letztes Opfer, ein "unbedeutender" (ein realtiver Begriff, da er außerhalb dieses Saals ein wirklich mächtiger und reiche Mann war) Geschäfftsmann, hatte nicht gewusst, wie ihm geschah, als er ihm die Kehle aufgeschlitzt und in seine Rolle geschlüpft war. Mit keiner wirklich großen Entourage im Gepäck war es ihm ein leichtes gewesen, mit ein klein wenig Überzeugung, den wenigen Bediensteten von Karl Mueller klar zu machen, den Mund zu halten und lediglich ihre Rollen zu spielen. Er war dem Leid der Welt zwar deutlich näher gekommen und sah seine Taten zwar in einem neuen Licht, aber er hatte immer noch ein Versprechen einzulösen und einen Job zu erledigen. Einen letzten Job, bevor er entschied, ob er Gabriel Denaux noch weiter folgen wollte.
Im Grunde wusste er die Antwort bereits, aber die Hoffnungslosigkeit, die sich nach dieser Antwort wie eine dunkle, schwarze Decke über alles legte und nur noch die Frage nach dem "Danach" hervorhob, war kaum auszuhalten. Wer würde Ethan aufhalten?
Er richtete Fliege seines weißen Smokings (bedauernswerterweise war es die einzige passable Kleidung in Muellers Koffer gewesen) und ließ seinen Blick unauffällig durch den Raum schweifen. Die Gästeliste war wirklich beeindruckend , die anwesenden Persönlichkeiten für jeden Außenstehenden Einschüchternd. Einer der Gründe, weshalb er darauf bestanden hatte, dass Alice und Jacob, zwei Erscheinungen, welche er auf den Mienenfeldern nördlich der Slowakei aufgegabelt und von denen er Anfangs nicht geglaubt hatte, irgendwann seine Mitstreiter nennen zu können, verboten hatte, sich diesem Ort auch nur zu nähern. Es stand zu viel auf dem Spiel, als dass sie sich einen Fehler erlauben konnten. Anfangs hatte er geglaubt, dass sie nur ein Hinderniss für ihn wären, mit der Zeit hatte sich aber herausgestellt, dass Alice eine hervorragende Schützin und Jacob ein unmenschlich guter Menschenkenner war. Sie hatten ihm weitergeholfen, was auch die Veranlassung war, dass er das Geschwisterpaar bis hier hin mitgenommen hatte. Sie waren zwar lediglich ein, zwei Jahre jünger, aber immer noch Zivilisten.
Seine Falkenaugen fanden die Tür, durch die der tyrannische Lord vorhin verschwunden war. Seit dem stand der Raum unter hochspannung. Blicke wurden getauscht, während die Musik das alles lächerlich fröhlich untermalte. Eine einzige Farce. Er selbst hatte sich in Schatten gehüllt. Es wurde langsam Zeit, dass er mit seiner Suche begann. Gabriel konnte nicht weit sein, Ethan würde ihn in seiner Nähe haben wollen, nur waren die Sicherheitsvorkehrungen an diesem Ort kein Witz. Das einzige Fenster war ein kleiner Spielraum von dreiundvierzig Sekunden, wo ein Wachpostenwechsel an dem zweiten offenen Durchgang, welcher zum Garten führte, stattfand. Ein toter Winkel für die Kameras und unbeobachtet für exakt dreiundvierzig Sekunden von jeglichen anderen Wachposten. Die Fassade war zwar glatt, doch er hatte einen kleinen Enterhaken um seine Taille, unter der Smokingweste, verstecken können und es hatte bisher noch keine Fassade gegeben, an der er nicht hochgekommen wäre. Ohne die wachsamen Augen des Lords, von denen er das Gefühl hatte, sie würden alles sehen können, würde es ein Kinderspiel werden. Er sah auf seine Uhr. Noch zwanzwig Sekunden.
Er schob sich unauffällig an seine gewünschte Position heran, war nur noch wenige Schritte entfernt, ohne, dass ihm jemand beachtung schenken würde, als die großen Türen erneut aufgingen und zwei Figuren eintraten. Ethan und an seiner Seite... an seiner Seite....
Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er die Gestalt des Mädchen in sich aufnahm, welches zu nun definitiv nicht mehr als Mädchen bezeichnet werden konnte. Eine junge Frau, welche alle Blicke augenblicklich auf sich zog und sich augenscheinlich nicht im mindesten darum scherte, im Sturm der Aufmerksamkeit der mächtigsten Männer und Frauen dieser Welt zu stehen.
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