21

Der Weg zum am westlich gelegenen Ende des Palastes war ein erneut ein Weg aus zu vielen Gängen, Abzweigungen und Treppen. Der Architekt muss Labyrinthe wirklich geliebt haben, ansonsten hätte er wohl kaum ein solches erschaffen. Einmal ist selbst Jaswinda falsch abgebogen und wir sind in einem Korridor gelandet, welcher allen Ernstes in einer nackten Wand geendet hat. Jaswinda meinte, dass es davon mehrere gab.

Es ärgerte mich insofern, dass ich niemals alleine hierhin finden würde. Der Salon, in den mich Jaswinda letztendlich führte, war atemberaubend schlicht und gleichzeitg gemütlich. Der Boden war mit Kissen nahezu überflutet. Lange, hauchdünne Vorhängeverschleierten die offenen Durchgänge nach draußen und ein kleiner Kamin sorgte dafür, dass es abends hier drinnen nicht zu kalt wurde. Es war ruhig und abgelegen. Als ich einen kurzen Blick nach draußen riskierte, entschlüpfte mir ein blubbernder Laut. Der kleine Hof gehörte, der Mauer nach zu urteilen, immer noch zum großen Garten, der sich längs der Ost- und Westseite des Palastes zog und von einer kleinen Mauer gezäumt wurde, die mehr nach Zierde aussah.

Hier schien aber seit Ewigkeiten niemand mehr etwas gemacht zu haben. Der Hof war verwildert und überall, sei es aus dem Boden oder der Mauer selbst, wucherte es. Ich musste lächeln und drehte mich zu Jaswinda. "Es ist perfekt unperfekt."
Diese atmete bei meinen Worten erleichtert auf, als hätte sie sich gefürchtet, dass ich diesen Ort nicht mögen würde. Sie erwidertemein Lächeln etwas schüchtern. "Es ist mein Rücckzugsort", gestand sie leise. Meine Augen wurden groß. "Oh, ich wollte nicht-" Jaswindas Hände schossen hoch und sie begann heftig den Kopf zu schütteln. "Ich wollte euch schon letztens hierher mitnehmen, anstatt in den Harem zu gehen. Nur... Ich war mir noch etwas unsicher gewesen."

Unsicherheit hatte sich in ihre Stimme geschlichen, aber ich konnte nur verständlich nicken. "Wenn ich so einen ebenfalls besäße, würde ich ihn auch nicht teilen wollen", erwiderte ich sanft.
Jaswinda zuckte verhalten die rechte Schulter. "Es macht mir nichts aus, es mit Euch zu teilen", murmelte sie, was ich ihr nur halb glaubte. Dieser Raum musste ihre Oase der Ruhe sein. Ein Rückzugsort, an dem sie einfach aufatmen konnte.
Damals, im The Heavens, waren es allein meine persönlichen Vier Wände gewesen, in denen ich hatte richtig aufatmen können, ohne im nächsten Moment zu befürchten, dass einer der Eliteschüler mich "versehentlich" anrempelten oder mir meinen Kopf auf die Tischplatte knallten.

Aber das alles war nicht der Grund, weshalb wir hier waren. So sehr ich ihr auch ausgiebig dafür danken wollte, dass sie mir genug vertraute, um mich hierher mitzunehmen, gab es im Moment Wichtigeres.

Ich ließ mich auf eines der viele Kissen nieder, nahe der offenen Durchgänge und sah auffordernd zu Jaswinda auf. "Du hast was herausgefunden", griff ich unsere Unterhaltung wieder auf und wartete ab, bis sich Jaswinda zu mir setzte, bevor ich weiter sprach. " Es ist nicht mal ein Tag her und das erste, was du mir geben kannst, sind schlechte Nachrichten?" Ich sagte es ohne eine Spur von Anklage oder Wut, viel mehr war da diese Ahnung, dass ich es hätte besser wissen müssen. Was immer sich auch als Es herausstellte.

Und dann... dann begann Jaswinda zu erzählen und Es war so viel schlimmer, als ich die ganze Nacht und den ganzen Weg bis hier hin über gebetet hatte. Es hätte eine Atombombe sein können und ich hätte jedem anwesenden Gott für seine Gnade gedankt. Denn Gabriel war so viel schlimmer als ein ganzes Nuklearwaffenarsenal. "Er ist ein Sadist", hatte Jaswinda angefangen, "einer der übelsten Sorte. Er tötet nicht, niemals, sondern hält seine Opfer am Leben, selbst, wenn sie nur noch als gebrochene und leere Hüllen zurückbleiben. Schon als Kind soll er die Bediensteten seines Hauses terrorisiert, manipuliert und psychisch zerstört haben. Meine...Meine Großtante war seine Kinderfrau gewesen, sie..."

Jaswinda schluckte hörbar und ihre Gesicht lief dezent gräulich an. "Die Mädchen aus dem Harem stammen alle aus einem Dorf fünf Meilen westlich von hier. Es war früher Territorium der weißen Seite und es kam nicht selten vor, dass einige besonders fleißige Bewohner von dem Weißen König persönlich ausgesuchte wurden, um gewisse Aufgaben zu erfüllen. Wir sind eine sehr loyale Gemeinschaft, müsst ihr wissen. Meine Großtante war über zehn Jahre die Kinderfrau von Monsieur Gabriel gewesen, sie brachte ihrer Familie ein kleines Vermögen ein. Doch als sie zurückkam... war sie anders. Ich hatte sie vorher nicht kennengelernt, aber meine Mutter und Nana haben Tage, Wochen, ja Monate geweint, gefleht und jeden Arzt in der Umgebung nach Hause gebracht, damit dieser ihr helfen konnte. Nichts brachte etwas. Sie... Sie war zu einer Puppe, einer leeren Hülle ihrer selbst geworden." In ihren dunklen Augen huschte kurz ein Ausdruck von Verzweiflung, als könnte sie sich an die Tage erinnern, in denen sie ihre Mutter und Großmutter hatte zugrunde gehen sehen, ohne zu verstehen, weshalb.

"Was ist mit ihr passiert?", fragte ich leise. Jaswinda blinzelte, erwachte aus den Tiefen der Abgründe, in denen sie kurzzeitig abgetaucht war und schob wieder ihre Panzertüren vor, sodass nur noch ein harter Ausdruck auf ihrem Gesicht und in ihren Augen übrig blieb. "Meine Großtante aß nichts mehr, trank nichts mehr und irgendwann fehlte uns einfach das Geld, ihr weiterhin Infusionen und professionelle Pflege zuteil werden zu lassen. Meine Familie hat es zwar weiterhin versucht, stürzte sich in Schulden, baten den Patron um Hilfe, aber letztendlich reichte es nicht. Sie starb. Und alles, was sie zurückließ, war das hier." Ich wusste nicht wie oder woher, aber plötzlich hielt Jaswinda ein kleines Büchlein in den Händen. Der Ledereinschlag war schon brüchig und ein leicht modriger Geruch stieg mir in die Nase, verriet mir, dass es wohl schon einige Jahre hinter sich hatte und dass es oft benutzt worden war.

"Es ist ihr Tagebuch", flüsterte sie, ihre Stimme tonlos und von jeder Emotion beraubt. Gerade diese Stimme, die gleiche, mit der sie Paul angeredet hatte, ließ mich den Horror darunter sehen. "Du hast es gelesen." Es war keine Frage, dennoch nickte sie. " Ich habe gleich nach Eurem Wunsch meine Schwester kontaktiert und sie gebeten, mir das Tagebuch so schnell wie möglich zuzusenden, falls sie es noch besaß. Es ist also mehr ihr zu verdanken, dass ich euch so schnell berichten konnte." Ihre Augen waren auf das Tagebuch gerichtet, als wäre es die Schrift des Antichristen und nicht etwas die Gefühle und Gedanken ihrer Großtante.

"Er hat sie wegen ihren Augen und ihrem Namen ausgesucht", flüsterte Jaswinda weiter, ihre Stimme nunmehr kaum ein Hauch. Dennoch konnte ich die plötzliche Anspannung und Nervosität in ihr erkennen, als fürchte sie sich besonders vor dem, was ihr noch bevorstand. Sie reichte mir das Tagebuch ohne eine Spur des Zitterns, welches scheinbar den Rest ihres Körpers ergriffen hatte.

Diese Frau hatte Furchtbares durchgestanden, dass sie jetzt solche Angst zu haben schien, ließ mich nicht besonders beruhigt zurück. Die Erkenntnisse über Gabirel hätten mich schockieren, mir den Boden unter Füßen wegziehen müssen. Die Tatsache, dass ein solcher Mensch keine zwei Stockwerke über mir ein Zimmer bewohnte und ein Gast unter meinem Dach war... Doch nichts von alldem geschah. Ich hatte natürlich auf etwas Anderes gehofft, etwas Besseres, irgendetwas, was mich nicht an den Rande der Panik treiben würde. Aber die Welt hatte mich schon vor langer Zeit etwas Anderes gelehrt. Genau wie bei Jaswinda. Und doch zitterte sie. Mit einem letzten, resignierten Liderflattern öffnete ich die erste Seite des Buches. Absoluter Horror breitete sich in mir aus. Es fühlte sich an, als würde jemand mein Herz auf langsame, qualvolle Weise zerquetschen.

"Mein kleine Mia mit den dunklen Augen. Ich werde dich kommen und holen, Mon Ange."

So ging es weiter. Seite für Seite. Zwischendurch hatte jemand mit zitternder Schrift an den Rand geschrieben: "Albträume", "bekomme sie nicht mehr aus meinem Kopf", "Miamiamiamiamia" und am schlimmsten "Der Tod wird kommen und dich holen Mia, weil es das ist, was der junge Herr will."

Der junge Herr. Vor meinen Augen zuckte eine kleine Szene, ein Brunnen und ein Junge, mit blonden Haaren und Grübchen auf jeder Seite. "Mon Ange!" Das Tagebuch fiel mir aus den tauben Fingern und ich hatte das Gefühl, von einem Wagen angefahren zu werden. Wieso kam mir dieses Bild im Kopf nur so bekannt vor? Wieso hatte ich das Gefühl, dass da ein sehr, sehr großes Loch war, wo eigentlich ein längst verlorenes Puzzelteil reingehörte...?

B

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