Thirty-Seven ~ "Checkmate."
W? Die Whites? Verwirrt zog ich die Stirn kraus und nach einem kurzen prüfenden Blick in die Gegend huschte ich zurück ins Haus und schloss die Tür hinter mir mit einem Knall zu.
Ich holte tief Luft und sah im Spiegel über die Kommode, die im Flur direkt neben der Haustür stand - und zuckte zusammen. Mein Gesicht war eingefallen, die Augenringe reichten locker bis nach China und wieder zurück, meine Haare sahen aus, als hätte eine Vogelmutter dort ihr Nest gebaut und die sonst honigbrauen Augen waren glanzlos und seltsam leer.
Kurzgefasst. Ich sah aus, als hätte mich ein Lastwagen nicht nur einmal, sondern mehrere Male hintereinander überrollt.
Was würde Dad sagen? Stolz wäre er schon mal nicht auf seine Nachfolgerin, die sich feige nach einem Tod und Vermissung ihres Schwarms in ihrem Zimmer einsperrt und sich nicht um ihre anderen Kollegen kümmerte.
Was hätte er überhaupt getan? Wäre er zusammengebrochen wie ich? Oder hätte er stattdessen weitergemacht? Hätte er sich von diesem Loch der Reue und Selbstzweifel mitreißen lassen? Oder wäre er dessen Krallen ausgewichen?
Wieder mal erkannte ich, wie schlecht ich meinen Vater kannte. Ich hatte absolut keine Ahnung, was er gemacht, oder nicht gemacht hätte. Aber du bist nicht er, du hättest niemals wie er gehandelt, Bella.
Ich senkte den Kopf und starrte den Zettel in meiner Hand schweigend an. Wie und vor allem was sollte ich machen?
Dylan und Alex waren im Moment die einzigen, die ich hatte. Wollte ich auch sie durch meine Hoffnungslosigkeit und Selbstzweifel verlieren? Alex trauerte bestimmt noch in seinem Zimmer, aus dem er seit Tagen nicht mehr rausgekommen war und Dylan hinterfragte höchstwahrscheinlich seine Existenz, während ich in meinem Zimmer für Tagen versteckt hatte.
Du sollst nicht mehr zurück in die Vergangenheit schauen, Bells. Ein Satz, das meine Mutter mir früher immer wieder gesagt hatte. Ein Satz, dass mir gezeigt hatte, dass ich meine Zukunft nicht für die Vergangenheit ruinieren sollte. Ich konnte die Vergangenheit nicht rückgängig machen, aber die Zukunft hatte ich noch in der Hand.
Was ich alles geben würde, um Mom wieder in die Arme zu schließen und mit ihr über alles zu reden und nach Vorschlägen zu fragen? Nun, das wirst du nie schaffen, wenn du hier weiter verharrst, Schätzchen, flüsterte eine höhnische Stimme in meinem Kopf.
Nein, das würde ich so nie schaffen. Seufzend hob ich den Kopf wieder und starrte mein Spiegelbild mit schräg gelegtem Kopf an. Meine Augen fielen zu und ich atmete einmal tief durch.
Dann nahm ich all meine Kraft zusammen, stieß mich von der Kommode ab und lief zum Flur, wo ich mich neben der Treppe stellte. „DYLAN! ALEX!", brüllte ich laut und zerquetschte das Stück Papier in meiner Hand.
Meine Stimme hörte sich kratzig an und mein Hals fühlte sich unendlich wund vom Tränenvergießen an. Wann hatte ich das letzte Mal bitte geredet?
Dylan kam als Erster die Treppe runter. Er sah nicht besser als ich aus in seinem Pyjama, das aschfahle Gesicht und das verwuschelte Haar. Alex ließ sich Zeit. Erst nach fünf Minuten trottelte er die Treppe runter, die Augen angeschwollen und die Nase rot.
Schweigend deutete ich den beiden mir in den Keller zu folgen. Zu dritt liefen die Treppe runter zu unserem Quartier, wobei ich die irritierten und fragenden Blicke meiner Kollegen ignorierte.
Schweigend lief ich zum Schreibtisch, an dem ich üblich saß und legte den Zettel dort, sorgfältig wieder ausgefaltet. „Was ist das?", krächzte Alex und kniff verwirrt die Augen zusammen. Ich holte tief Lust und sah die beiden direkt an.
„Ich ...ich weiß, dass ich in den letzten Tagen wohl die allerschlimmste Anführerin war, die je in dieser Welt existiert hat. Und es tut mir leid. Es tut mir unglaublich leid, dass ich einfach nur an mich gedacht haben, als ich mich eingeschlossen habe. Ihr macht nicht gerade weniger als ich durch und ich merke jetzt, wie egoistisch es von mir war, euch im Stich zu lassen. Ihr beide habt genau wie ich Menschen verloren, die euch sehr bedeuten."
Ich hatte schnell und ohne Pause gesprochen, dass ich erstmal tief Luft holen musste. „Ich weiß nicht, ob es schon spät ist und ich euch verloren habe, aber ich hoffe nicht. Ihr seid und diese Gang sind die Einzige, die ich im Moment habe und ...ich ...", ich zögerte kurz, ehe ich fortfuhr. „Ich will weitermachen. Wenn ihr auch dazu bereit seid."
Erwartungsvoll sah ich die beiden an und knetete nervös meine hinter dem Rücken zusammen. Dylan übernahm als Erster das Wort. „Ich bin dabei. Die Mafia sollte sich wieder erheben." In seiner Stimme schwangen der Mut und die Hoffnung mit, die ich noch nicht ganz besaß.
Der Blonde, der den Blick gesenkt gehalten hatte, hob den Kopf und sah mich schwerschluckend an. „Ich ...ich habe nachgedacht. In den Tagen, in denen wir uns isoliert haben. Ich habe ...so vieles verloren und doch ...mein Gefühl sagt mir, dass wir es schaffen werden. Dass wir diese Bande wieder zum Leben erwecken sollen, bevor sie ganz stirbt. Koste es was wolle. Mira hätte es gewollt. Sie hätte gewollt, dass wir weitermachen und nicht zurückschauen." Entschlossen sah er mich an und ein warmes Lächeln schlich sich auf meine Lippen.
„Gott, ich rede so poetisch, was ist aus mir nur geworden?", fragte er sich kurz danach verwundert und rieb sich kopfschüttelnd die Stirn.
Dieser Satz war, was mir gefehlt hatte. Mit einem erleichterten Lachen fuhr ich mir übers Gesicht. Auch Dylan schmunzelte. „Und wir haben schon unsere erste Aufgabe." Ich wurde schnell wieder ernst und zeigte den beiden die Nachricht, die ich gefunden hatte.
„W? Wer ist W?", fragte der Blonde verwirrt, nachdem er das Blatt überflogen hatte. „Wer wohl. Die Whites natürlich!", gab Dylan finster zurück. Ich pinnte das Stück Papier auf einer freien Pinnwand und stemmte die Hände in die Hüfte.
„Ich glaube, das würden wir montags herausfinden", sagte ich und drehte mich zu den anderen um. „Heißt das, wir erscheinen zu diesem Treffen?", fragte Alex scharf.
„Genau so ist es. Wir haben nichts zu verlieren", zuckte ich mit den Schultern. Möglich, dass das Ganze eine Falle war, doch ich glaubte nicht daran. Die Leos hatten von uns was sie wollen und die Polizisten hatten uns bisher nicht gefunden, wieso sollten sie es ausgerechnet jetzt?
„Wir können zur Sicherheit die Waffen von Jakes Vater nehmen, die in seinem Zimmer liegen", meldete Dylan.
Irritiert sah ich zu ihm rüber. Woher zur Hölle wusste er, dass sich dort Waffen befanden? Der Lockenschopf bemerkte meine Verwirrung und senkte verlegen den Blick. „Ehm ...Jake hat es mir mal erzählt und als Alex und du euch verdrückt hattet, wollte ich mich aus Neugier erkunden ...", gab er kleinlaut zu.
Ich gab ihm keine Schuld. Er tat mir sogar leid, dass er die Tage zuvor allein durchstehen musste. „Ja ...wir könnten sie nehmen ...", meinte ich zögerlich. Ich wusste nicht, ob sie uns nützlich werden könnte, aber für alle Fälle.
„Welcher Tag ist heute eigentlich?", fragte ich, da ich die Orientierung seit Tagen verloren hatte. „Samstag", antwortete Dylan.
„Übermorgen ist schon Montag ...Alex – sieh mal in der Garage nach dem gestohlenen Auto und sieh nach, ob wir die Schusslöcher irgendwie verdecken können. Miras Auto haben wir nicht mehr. Dylan – ich will, dass du alles über den Treffpunkt übers Internet nachguckst. Du bist der beste von uns im Recherchieren", kommandierte ich die beiden und setzte mich selbst an einem Schreibtisch vor einem Rechner.
„Geht klar, Captain!", grinste Alex und joggte aus dem Raum, während Dylan sich auf einem Stuhl niederließ.
Zufrieden fuhr ich den Computer vor mir hoch. Let's go, baby.
~
Hier waren wir wieder. In New York, wo alles angefangen hatte.
Nach zwei Tagen Arbeit und weitere schlaflosen Nächte befanden wir uns auf der Betontreppe vor dem Smallpox Memorial Hospital, auf einer großen Insel im East River in New York City zwischen den Stadtteilen Manhattan und Queens.
Alex stand zu meiner Rechten in einem dunkelblauen Rollkragen Pullover und vor Brust verschränkten Armen. Mir entging nicht, wie er seine eisblauen Augen unruhig schweifen ließ.
Dylan, der rechts neben mir auf den Stufen der breiten Treppe saß, wirkte dagegen ganz gelassen, was mich leicht irritierte. Eine Beretta 92 steckte in seiner hinteren Hosentasche.
Ich war mehr als froh, dass er sich bereitstellte, die Pistole zu tragen. Auch wenn sie mich hätte sicher fühlen sollen, verursachte mir die Tatsache, dass wir eine Pistole bei uns hatten, eine Gänsehaut.
Doch die ultimative Frage war: hatten wir Angst, dass uns die Polizei hier fand? Auf jeden Fall. Hier nachts war zwar keine Menschenseele zu sehen, doch die Offenheit des Platzes ließ mich leicht angreifbar und ungeschützt fühlen.
War ich immer noch sicher, dass wir die Whites treffen würden? Ganz ehrlich? Meine Sicherheit vor zwei Tagen hatte ich längst verloren. Unruhig holte ich das Smartphone aus der Hosentasche und schaltete das Display an. 19:08 Uhr.
Als wir vor zehn Minuten aufgetaucht waren, dachte ich wir waren zu früh, doch momentan wusste ich nicht, ob wir zu früh oder zu spät waren. Was meine Nervosität und Panik nicht gerade verringerte.
Seufzend drehte ich den Kopf und mein Blick schweifte über die dicht bewachsenen Ruinen des alten Krankenhauses vor uns, das von Gittern umzingelt war.
Laut dem Internet diente dieses Gebäude im 19. Jahrhundert als Quarantäne Zentrum für Pockenkranke. Es wurde später auch für andere Zwecke benutzt, doch 1950 wurde es geschlossen und seitdem verfällt es.
Ich mochte den Platz auf den ersten Blick. Es war ruhig und wirkte geheimnisvoll. „Bella", zischte Alex ganz leise, dass nur ich es hören konnte. Ich löste meinen Blick von den Ruinen und merkte erst jetzt, dass wir von einer Gruppe eingekreist wurden.
Alle hatten sich Kapuzen übergezogen, dass ich keinen der Gesichter erkennen konnte. Ich atmete tief durch, zählt bis drei und drückt den Rücken durch, um einen kalten Blick bemüht.
„Königin, Springer, Turm", sprach eine tiefe Stimme und ein junger Mann trat raus. Er zog sich die Kapuze runter und zwei kalte graue Augen starrten mich an.
Der Junge war nicht entweder so alt wie ich oder ein wenig älter. Sein dunkelblondes dichtes Haar war perfekt nach hinten gestylt und auf seinem gebräunten Gesicht zeichneten sich mehrere Muttermale und Sommersprossen ab.
„White", erwiderte ich ebenfalls kühl. „Was gibt es Dringendes, was Ihr mit uns besprechen wollt, Königin? Wir haben klargemacht, dass wir von keiner toxischen Frau, die uns umbringen will, angeführt werden wollen", höhnte er und sah mich hasserfüllt an.
Ich tauschte mit Alex einen verwunderten Blick. Wie bitte?! Wer wollte wen hier umbringen? Und überhaupt, SIE hatten uns eine Nachricht geschickt, nicht wir ihnen.
„Fasele hier nicht rum, IHR seid doch diejenigen, die uns sprechen wollen", gab ich bissig zurück und starrte ihn ebenso kalt an.
Der Junge starrte mich verständnislos an, doch bevor er auf meine Aussage eingehen konnte, ertönte eine raue Stimme über unseren Köpfen.
Die Stimme des Jungen, der mein Herz stahl.
„Schachmatt. Das Spiel ist aus, Dylan."
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