Forty-One ~ irresistible idiot

Vor zwei Tage geschah es.

Vor zwei Tagen, um solch eine Uhrzeit waren wir in New York und hatten unseren größten Verrat erlebt.

Von einem Freund, dem ich blind mein Leben anvertraut hätte.

An der ganzen Sache störte mich jedoch nur eins. Und zwar nicht, was Ryan und den anderen Whites beschäftigte. Sie dachten drüber nach, ob sie nicht lieber hätten Dylans Leiche mitnehmen sollen.

Aus welchem Grund, wollte ich gar nicht erst wissen.

Nein. Mich beschäftigte, warum er uns überhaupt verraten hatte. Wieso er es seinem Vater nachgetan hatte. Er musste doch einen Grund haben! Und was mich mehr störte - oder eher innerlich zerriss - war die Tatsache, dass ich es nie herausfinden würde.

Ich würde wohl den Hass damals in seinen Augen nie erklären können. Und was es mit seiner Mutter zu tun hatte, die er mit vor Schmerz verzerrter Stimme uns gegenüber erwähnt hatte.

Und das tat am meisten weh.

Ich nahm einen tiefen Atemzug und schloss die Augen, eine Wodkaflasche in den Händen umklammert. Ich wollte mich betrinken. Alles vergessen, was in den letzten Tagen geschehen war. Vergessen, wie sehr sich Alex' Zustand verschlechtert hatte. Vergessen, dass Dylan tot war. Ich wollte alles vergessen, auch wenn nur für einen Moment.

Und doch hatte ich die Flasche Alkohol in meinen Händen nicht einmal geöffnet.

Ich legte den Kopf schräg und senkte leicht den Kopf, um die durchsichtige Flüssigkeit anzublicken. Sie schien mich förmlich anzuflehen, sie auszutrinken. Es klang nach -

Das Aufreißen einer Tür hinter mir unterbrach mein wirres Gedankenschwall. Doch ich blickte nicht auf und starrte die Wodkaflasche in meinen Händen weiterhin stur an, als hinge mein Leben davon ab.

Ich hatte mir außerhalb des Gebäudes, in dem uns die Whites untergebracht hatten, einen Fleck auf der Wiese aufgesucht, wo das Mondlicht am meisten strahlte.

Wobei ich eigentlich gegen Ryans strengste Regel verstoß. Nämlich, dass wir das Gebäude nicht verlassen durften.

Wir galten seit dieser Nacht als gesuchte Mörder und wenn ich mich nicht irrte, wurde ein saftiges Kopfgeld auf uns gesetzt.

Wir versteckten uns seitdem im White Quartier, welches in einer düsteren Stadt an der Grenze der USA in einem alten Gebäude lag. Für Außenstehende wirkte es wie ein verlassenes Geisterhaus. So hatte ich es eingeschätzt, als wir angekommen waren.

Die Fassade von außen war eingefallen und die Fenster eingeschlagen, teilweise mit Holzbrettern verarbeitet. Das Ganze war von eiserenen Gittern umzingelt. Allgemein wirkte die ganze Stadt, in der wir waren, düster und verlassen. Was die anderen abschreckte. Und uns geradezu einlud.

„Du weißt schon, dass du hier nicht sein darfst, oder?", ertönte es hinter mir, doch ich ignorierte es. Knirschende Schritte näherte sich mir von hinten und kamen dicht neben mir zum Stehen, dass ich Jakes Schatten auf der Wiese vor mir erkannte.

Dennoch blieb ich still. Als er sich neben mir niederließ, umklammerten meine Finger die Glasflasche fester, dass meine Knöchel weiß hervortraten. „Ist das Wodka?", fragte er und nahm mir die Flasche ab, um sie zu betrachten.

Mir wurde gleich bewusst, was er dachte, als er mir einen misstrauischen Blick warf und knurrte: „ich habe nicht getrunken." Doch ich war froh, dass er mir die Alkohol Flasche abgenommen hatte. Ich konnte es nicht mehr ertragen, sie länger anzusehen.

„Ich habe ihm vertraut", flüsterte ich plötzlich mit gebrochener Stimme, ohne Jake anzusehen. Und er musste nicht nachfragen, um zu wissen, wen ich meinte.

„Das haben wir alle, Elfe."

Er stieß die Luft aus und seine Augen flatterten müde zu. „Was, wenn es wieder passiert? Wenn wir wieder jemand falschem vertrauen?" Ich traute mich bei dieser Frage nicht einmal, Jake ins Gesicht zu sehen.

Und ich bereute sie, kaum hatte ich sie ausgesprochen.

Doch Jake schien nicht wütend auf mich deswegen zu sein. Er umklammerte sanft mein Kinn und drehte meinen Kopf zu ihm, doch auch da sah ich ihm nicht in die Augen. 

Stattdessen beobachtete ich seine Hand, die die Wodkaflasche schnell hinter seinem Rücken verschwinden ließ, als wäre es eine äußerst Interessante Doc.

„Bereust du es denn ihm vertraut zu haben?", fragte er mich forschend.

Ich spannte den Kiefer an und runzelte nachdenklich die Stirn. Bereute ich es denn? 

Nein, tatsächlich nicht. Vielleicht hätte es ein normaler Mensch bereut, doch ich hatte eine Schraube locker.

Wahrscheinlich hatte ich es aber anfangs gemacht. Mittlerweile jedoch nicht mehr. Was ich bereute, war, dass ich mich so sehr auf mich selbst konzentriert hatte, dass ich gar nicht gemerkt hatte, was bei ihm abging.

Wenn ich aufmerksamer wäre, hätte ich ihn eher zum Reden gebracht, dann wäre das alles nicht passiert. Dann wäre er nicht ...tot.

„Was denkst du, Elfe?", hauchte Jake leise und ich stieß ein Seufzen aus. Erst zögerte ich, ihm meine Gedanken preiszugeben, doch nach einer langen Stille, gab ich ihm meine Vorwürfe leise zu.

Doch das erste was er tat, war bestimmt den Kopf zu schütteln. „Witzig, ich habe mir anfangs auch solche Gedanken gemacht", schmunzelte er leicht, doch als ich ihm vernichtende Blicke warf, weil das Thema ernst war, legte sich wieder ein ernster Ausdruck auf seinem Gesicht.

„Bella, glaub mir, ich habe das auch gedacht. Aber denk nach, was wenn Dylan so kaputt war, dass nicht einmal wir ihn helfen könnten? Und was, wenn du ihn darauf angesprochen hättest und er dir nur mehr Lügen aufgetischt hätte? Oder im schlimmsten Fall, dich umgebracht, weil er denkt, du bist hinter seiner Fassade gekommen!"

Doch wir hätten es versuchen sollen, schrie eine Stimme in meinem Kopf stumm. Dennoch fiel mir ein kleiner Stein vom Herzen, denn Jake hatte nicht ganz unrecht.

„Sieh mich an", forderte er plötzlich.

Unwillkürlich sah ich zu ihm hoch und wie jedes Mal, hörte mein Herz für einen Augenblick buchstäblich auf zu schlagen.

Ich erlaubte mir, ihn etwas länger als gewöhnlich zu mustern. Die rötlichen geschwungenen Lippen, die von der Kälte leicht geröteten Wangenknochen, die schmale Nase und die intensiven Augen.

Seine Augen waren eins der Dinge, in denen ich mich als erstes verliebt hatte. Und mir ist mit der Zeit aufgefallen, dass sie einen honigbraunen Stich hatten, das sich immer zeigte, wenn er wütend, oder traurig war. Oder voller Leidenschaft.

Wenn er gut drauf war, oder seine Freunde neckte, funkelten sie wie grüne Diamanten. Und jedes Mal, wenn sie in dieses Intensive Grün leuchteten, hatte ich das Bedürfnis ihn zu küssen. So lange, bis er keine Luft bekommen würde.

Als ihm eine Strähne des zerzausten Haars in die Stirn fiel, zögerte ich nicht, meine Hand danach auszustrecken und sie brav zurück zu den anderen Strähnen zu streicheln. Mit den Fingerkuppen fuhr ich nachdenklich seine ausgeprägten Wangenknochen nach.

„Ich will dich gerade so sehr küssen, aber wenn ich mich dran erinnere, was letztes Mal passiert ist, weiß ich nicht, ob das eine gute Idee ist", hauchte er und ein verspieltes Funkeln flackerte in seinen Augen.

„Was du verdient hast. Du hast mich schließlich verlassen", schnaubte ich und knuffte ihn in die Seite. Er stieß ein Lachen aus und ein angenehmer Schauder lief mir den Rücken runter. Doch schnell wurde mein Gegenüber wieder ernst. „Ich hatte nie dazu die Absicht, Elfe, glaub mir."

„Und trotzdem hast du es gemacht."

Frustriert fuhr er sich übers Gesicht. Die Stimmung von vorhin war in Sekundenschnelle - wie eine Seifenblase von einem Nadel - zerplatzt und eine Stille legte sich über uns. 

„Es tut mir leid, wirklich. Ich ...ich musste nur wissen, ob meine Vermutungen stimmen", erwiderte er und sah mich schwerschluckend an.

„Du hattest Dylan also seit lange in Verdacht?", fragte ich skeptisch. Jake zögerte mit seiner Antwort. Etwas zu lange.

„Nein, ich dachte es ist Mira."

Statt wütend auf ihn zu sein, dass er dachte, Alex' alte unschuldige Oma könnte eine Verräterin sein, sah ich ihn nur verwirrt an und fragte leicht ungläubig: „Mira?"

Wobei ich mir so gut wie möglich meinen Schmerz nicht anmerken ließ. Alex' Omas Tod war noch nicht lange her und das gebrannte Loch in meinem Herz war immer noch gefühlt mit Schmerz.

Stille.

„Ja, aber dann ist sie ...gestorben und es war, als hätte mir jemand die Augen geöffnet", sagte er schließlich leise. „Ich hatte mich wie ein verzweifelter an diese Vermutung gehalten, weil ich keinen von euch verdächtigen wollte."

Er schüttelte über sich selbst verbittert den Kopf, als wäre die Lösung die ganze Zeit vor seinen Augen, nur hat sie sie zu spät bemerkt.

Was nicht ganz falsch war. Jedoch war es nicht nur er, sondern auch Alex und ich. Wir waren nur zu blind, um es zu sehen. Zu merken, dass etwas mit Dylan nicht gestimmt hatte.

„Ich habe mich dann sofort auf die Suche nach Beweisen gemacht. Ich wollte nicht wahrhaben, dass mein bester Freund so grausam war, uns zu verraten", er schluckte schwer, „ich bin zu Miras Ferienhaus gefahren, wo Alex erwähnt hatte, dort vieles über die Schach Bande gefunden zu haben."

Neugierig lauschte ich seinen Worten, der Blick klebte wie hypnotisiert auf seine Lippen. Er wiederum fokussierte meine Hände, um mir nicht in die Augen zu sehen. „Ehrlich gesagt, wusste ich selbst nicht, was ich tat. Ich wusste nicht einmal, was ich machen sollte, wenn Dylan wirklich der Verräter wäre. Ich bin wie ein Irrer durch die ganze Stadt mit einem geklauten Auto gebraust."

„Wieso hast du mich nicht mitgenommen?"

Sanft lächelte er auf meine Hände und schüttelte den Kopf. „Ich wollte weder dich noch Alex in eine Sache hineinziehen, von der ich nicht wusste, ob sie überhaupt stimmte. Das war wie gesagt nur eine Vermutung."

Und eine richtige offensichtlich.

Er nahm einen tiefen Atemzug, ehe er mit seiner Erzählung fortfuhr: „ich habe den Ordner über Dylans Familie gefunden und drin geblättert. Und da stand schwarz auf weiß, dass Chloé Young – Dylans Mutter – nach einem Überfall im Koma lag. Und heute tot ist."

Meine Augen rissen sich auf. Hatte Dylan nicht immer erzählt, sie läge wegen Krebs im Krankenhaus? Jake hob endlich den Kopf und blickte mich wissend an, als wüsste er, was ich gerade dachte. „Ich saß lange dort, das Buch vor mir aufgeschlagen und habe über Dylan weiter nachgedacht. In welche Sache er auch gelogen haben könnte."

Ich griff nach seiner Hand und drückte sie fest. Ich würde ihm gerne sagen, wie gefährlich seine Aktion war. Und bescheuert. Doch hätte er es nicht herausgefunden, wären wir entweder von der Polizei geschnappt worden, oder Dylan hätte uns alle einhändig umgebracht.

Deshalb zeigte ich ihm nur mit Gesten, dass ich ihm nicht mehr böse war. „Dann ist auf einmal jemand ins Haus eingebrochen. Ich konnte von Alex' Zimmer hören, wie die Haustür laut aufgerissen wurde und bin in den Flur geströmt. Ich dachte, es sei Dylan und wollte mich umbringen. Oder die Polizei. Weder noch. Es war nur ein Junge", erzählte er, den Blick weiter auf mich gerichtet.

„Kay?", wisperte ich fragend und sah mit großen Augen zu ihm hoch. Ich wusste noch, wie sich in dieser Nacht Kay mit Jake zusammengetan hatte und seinem Anführer die Situation erklären wollte. Und dass wir ihnen nichts Böses wollten und alles nur ein Missverständnis war.

„Ja, Kay", bejahte Jake. „Wir haben uns ...wie soll ich sagen? Auf eine etwas komische Art kennengelernt." 

Verwirrt blickte ich ihm in die Augen. „Wir wollten uns gegenseitig umbringen", erklärte er daraufhin trocken.

Okay, das ist ...ein interessantes Kennenlernen. 

Ungewollt hoben sich meine Mundwinkel vergnügt. „Grins nicht so, er hat mich beinah aufgeschlitzt", warf er ein, konnte aber selbst ein winziges amüsiertes Lächeln nicht abringen. Was jedoch nicht lange sein hübsches Gesicht schmückte, ehe es durch einen ernsten Ausdruck ersetzt wurde.

„Kay hatte Drogen im Haus für Ryan versteckt, weil sie dachten, das Haus sei verlassen. Aber der Wettkampf um Leben und Tod hat erst angefangen, als er herausfand, dass ich zu dir, Dylan und Alex gehöre."

Sofort musterte ich ihn besorgt nach Anzeichen von Verletzungen. Fuhr mit meinen Blicken seine nackten Arme entlang, sein Gesicht. „Keiner wurde ernsthaft verletzt", beruhigte er mich schmunzelnd. Doch als er sich kurz bewegte, gab sein Shirt einen Schnitt in seinem Oberarm neben seinem Tattoo frei.

„Aha", machte ich jedoch nur, als ich mir versicherte, dass es kein Schnitt war, um den man sich große Sorgen machen musste. „Wir haben uns jedenfalls angebrüllt, bis Kay rausgerutscht ist, dass wir angeblich versuchen, ihn und die anderen umzubringen. Ich wiederum habe ihm dasselbe vorgeworfen und schlussendlich haben wir uns ausgesprochen."

Gedankenverloren drehte er mein Handrücken um und fing an auf meine Handfläche Kreise zu malen. „Dafür, wie wenig passiert ist, warst du ziemlich lange weg", merkte ich an, bissiger als beabsichtigt.

„Wenn du ausklammerst, dass ich zwei Tage gebraucht habe, um nach Miras Haus zu kommen, weil meine zitternden Hände unfähig waren gescheit zu fahren und drei weitere Tage, vor Kays Auftauchen, in denen ich mir alle Informationen aufgesammelt hatte, die nötig waren und weitere -"

Stöhnend presste ich mir die Hände auf die Ohren und nickte ungeduldig, um ihm zu zeigen, dass ich verstanden hatte. „Du hast gefragt", zuckte er unschuldig mit den Schultern, was ich mit einem Zungenstrecken quittierte.

„Darf ich dich jetzt küssen?", fragte er schamlos und sein Blick heftete sich wieder an meine Lippen.

„Was, wenn ich nein sage?", erwiderte ich amüsiert, stützte die Hände auf seine Oberschenkel und sah ihm verspielt in die Augen.

„Wirst du nicht, dafür bin ich zu unwiderstehlich", gab er nur mit gespielter Empörung zurück. Lachend schüttelte ich den Kopf, ehe ich den geringen Abstand zwischen unseren Mündern überbrückte und meine Lippen mit seiner verschloss.

Dieser Kuss war nicht wie der erste. Nicht so störmisch, nicht verzweifelt. Mehr erforschend. Als er meine Hüften umfasste, um mich auf seinem Schoss zu ziehen, riss ich die Augen auf und stieß ein überraschtes Quicken aus, das jedoch von seinem Mund verschluckt wurde.

Meine Hände wandern zu seinem Hinterkopf, wo sich meine Nägel in seine Haare krallten. Es könnte jeden Moment jemand kommen und uns entdecken, doch ich konnte im Moment keinen klaren Gedanken fassen. Und ich wollte es auch nicht.

Jakes Lippen hatte das, was ich vorhin von dem Wodka wollte. Eine gutgelungene Ablenkung. Und wenn ich ehrlich war, schmeckte der Kuss weit aus angenehmer als Alkohol. Doch es war nicht nur Jakes Mundwerk, das mich ablenken konnte. Es war Jake selbst. In seiner Nähe war es so, als würde man mein Hirn in eine Bratpfanne rösten, bis ich für nichts mehr, außer für ihn in meinem Kopf Platz hatte.

Wir lösten uns erst voneinander, als wir kaum noch Luft bekamen. Atemlos legte ich Jake die Hand um die geröteten Wangen und lächelte. „Ich dachte, du wolltest mich nicht küssen", raunte er schmunzelnd.

„Vielleicht – aber nur vielleicht – habe ich eine kleine Schwäche für unwiderstehliche Idioten."

Wir sahen uns weiterhin albern lächelnd an, als sich eine Stimme hinter uns räusperte. Wir fuhren nicht auseinander, sondern drehten nur überrascht die Köpfe in die Richtung, aus der das Geräusch kam.

Ryan stand mit einem angewiderten Blick an die Haustür gelehnt und sah zu uns runter. „Ich glaube, ich werde eure verliebten Blicke zehn Jahre lang in meinem Albtraum haben. Danke."

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