Teil II
„‚The Dwarf'?" Scarlet sah wenig begeistert aus, als sie mit Artemis nach einer langen Fahrt mit dem Taxi schließlich vor einer schäbigen, alten Kneipe in Woodhill Terrasse stand. Der Backstein an der Außenseite war teilweise beschädigt; das Unkraut vor dem Eingang wuchs ihr bis über die, in roten Zwölf-Zentimeter-Pumps steckenden, Knöchel und das Schild mit der Aufschrift des Clubs drohte jeden Moment von seinem Platz über der Tür abzufallen und jemanden zu erschlagen.
„Never, ever", meinte Scarlet und wollte eilig umdrehen, als Artemis sie sanft aufhielt. Mit flehenden Augen sah er sie an.
„Schau es dir wenigstens mal an! Gareth wird dich nicht umsonst gebeten haben, hier mal kräftig aufzuräumen. Er glaubt an dich, und dass du dieser Bar wieder zu neuem Glanz verhelfen kannst. Und ich glaube das auch", fügte er etwas leiser hinzu.
„Warum ich?", fragte Scarlet, als sie hinter Artemis in die dunkle Bar trat. Hier drinnen sah es nicht besser aus als draußen; alles war alt, schmutzig und irgendwie kleiner als im Castle. Sogar den Kopf hatte Scarlet einziehen müssen, als sie durch die Tür getreten war.
„Vielleicht, weil er gesehen hat, was du aus dir gemacht hast?", überlegte Artemis laut.
„Du meinst meine Maskerade?"
Artemis sah die Drag Queen im Halbdunkel des Clubs an. Sie sah nun irgendwie enttäuscht aus, beinahe traurig. „Ich wette, du bist auch wunderschön ohne deine Verkleidung", lächelte der Barkeeper schüchtern. Über Scarlets Lippen huschte ein zauberhaftes Lächeln.
„Wer seid ihr?", fragte eine tiefe Stimme aus dem Dunkel des Raumes. Überrascht drehten sich die beiden um. Ein kleiner Mann stand vor ihnen, fast nur so groß wie ein Kind, und sah sie skeptisch an.
„Scarlet", stellte sich die Schönheit den Mann mit den großen Augen vor und reichte ihm die Hand zur Begrüßung. „Wir sind hier, um zu helfen!"
„Helfen?", lachte der Mann und sein Körper schüttelte sich dabei amüsiert. „Wer ist denn allen ernstes der Meinung, dass diesem Club noch zu helfen sei?"
„Gareth Everhart", meinte Artemis, verwirrt darüber, dass man sie nicht erwartete.
„Gareth!", klang es ungläubig aus dem Schatten zu ihrer linken und ein Mann mit großen Ohren kam auf sie zu. „Der hat sich hier seit Jahren nicht mehr blicken lassen. Nicht seit er Majestic Mirrornette in sein Königreich entführt hat."
„Und wer bist du?", fragte Scarlet freundlich.
Die Mundwinkel des Fremden umspielte ein Lächeln. „Wir sind die ‚Seven Drags' aus dem Dwarf!", sagte er nicht ohne einen gewissen Stolz in der Stimme und nach und nach traten fünf weitere Männer unterschiedlichen Alters, Größe und Herkunft aus den Schatten der Säulen des Clubs.
Scarlet staunte über den wilden Haufen, der sie mal schüchtern, mal aufreizend und auch neugierig anlächelte. „Willkommen Holde Schönheit!", begrüßten sie ihre neue Queen.
„Ich bin Scarlet Stardust und das ist Artemis, unser neuer Barkeeper. Wir werden zusammen dem Club zu neuem Glanz verhelfen!", versprach sie euphorisch und erntete freudestrahlende Blicke. Nur Artemis schien ein wenig überrascht.
„Ich werde der neue Barkeeper?", fragte er erstaunt. Eigentlich hatte er mit Majestic nur vereinbart, Scarlet hier abzusetzen und ihr die Aufgabe zu erklären. Doch den roten Lippen, die ihn nun liebevoll anlächelten, konnte er nicht widerstehen.
„Wie soll ich den Club wieder aufbauen, wenn ich dich als Barkeeper nicht an meiner Seite habe?", fragte sie und Artemis Herz begann freudig zu hüpfen, hatte er doch schon seit dem ersten Tag ein Auge auf die Schönheit geworfen. Wie konnte er sie jetzt allein mit dieser schier unmöglichen Aufgabe lassen?
„Glitter, du bist immer noch einen halben Takt zu spät! Der Count ist auf acht, nicht halb neun! Und Powder, du singt immer noch „me" statt „free". Es ist nur Lipsyn, aber ich sehe den Unterschied", zwinkerte Scarlet, als sie ihre neuen Kollegen auf der Bühne koordinierte.
„Und Lipstick", sagte sie lächelnd und berührte die schüchternste der Queens am Arm. „Du siehst bezaubernd aus, heute!" Lipstick kicherte zufrieden.
„Rouge, Heely, Shorty, wir müssen euch noch die Haare machen. Heute Abend müsst ihr strahlen!", sagte sie, und erntete nickende Blicke.
„Und was ist mit mir?", fragte der siebte der Drags. Scarlet nahm den jungen Mann, der noch nicht umgezogen war, beiseite und sprach leise auf ihn ein. „Bist du denn bereit für heute Abend, Ben?"
Der blonde Junge nickte entschlossen. „Okay, für dich finden wir auch noch eine Aufgabe, Süßer!", schmunzelte Scarlet. „Vielleicht möchtest du mit mir die Gäste bedienen?"
„Ich würde lieber tanzen", gab er zu.
„Vielleicht kann er dir aus dem Apfel helfen?", schlug Artemis vor, der die Generalprobe interessiert verfolgt hatte.
„Eine schöne Idee", fand Scarlet und auch Ben schien zufrieden.
Es war nun sieben Monate her, seitdem Starlet die Führung des „Dwarf Club" übernommen hatte. In der Zeit hatte sich viel getan und nichts an dem nun schicken Etablissement erinnerte noch an die schäbige Absteige, die sie einst gewesen war. Scarlet hatte mit der Hilfe ihrer neuen Freunde eine Menge bewegt. Sie hatten aufgeräumt und repariert, hatten die Bühne und die Bar auf Vordermann gebracht und sich ein neues Theme, sowie einen Namen für den Club überlegt.
Heute war der Tag der Neueröffnung und das „Big Apple Seven" erwartete einige prominente Gäste für ihre große Show. Die Seven Dwarfs hatten viel unter der Anleitung ihrer neuen Königin geübt und waren aufgeregt wie kleine Kinder, als sie endlich die Generalprobe hinter sich gebracht hatten und sich Backstage fertig machen mussten.
„Es wird bestimmt großartig werden, Sca!", flüsterte Artemis und legte eine Hand auf die blasse Schulter neben sich. „Ich hoffe, dass Gareth zufrieden mit uns sein wird", gab Scarlet zu bedenken.
„Wie könnte er nicht? Was du aus dem Club gemacht hast, ist der Wahnsinn! Ich für meinen Teil bin sehr stolz auf dich...", sagte er sanft.
„Ach Arti, ohne dich hätten wir das nicht geschafft!", sagte die Schwarzhaarige und platzierte zum Dank für seine Hilfe einen leichten Kuss auf die Wange des Barkeepers. Der errötete leicht und zog sich dann hinter die Bar zurück, um sich auf den baldigen Start des Abends vorzubereiten.
Richard Kingsley war der älteste Sohn einer der einflussreichsten Familien in Glittering Heights und Erbe des Diamanten-Imperiums, dass seine Familie mit der Ausbeutung der kleinen Leute aufgebaut hatte. Heute war er mit seinen sogenannten Freunden unterwegs, um sich den Abend mal wieder mit etwas Unterhaltung zu vertreiben.
Er hatte von der Eröffnung dieses neuen Clubs in der Zeitung gelesen und war gespannt darauf, was ihm geboten werden würde. Allzu hohe Erwartungen hatte der Sohn aus reichem Hause allerdings nicht.
Die Stimmung im Club war ausgelassen und tatsächlich musste Richard zugeben, dass die Darbietung der Drags recht unterhaltsam war. Nichts Außergewöhnliches, doch ein durchaus angenehmer Zeitvertreib. Ein Freund, der ebenfalls aus gutem Hause kam, fragte gerade, ob sie noch weiterziehen wollen, als das Licht und die Musik plötzlich einen anderen Ton annahmen und ein riesiger roter Apfel von der Decke auf die Bühne schwebte. Richard gab seinem Bekannten mit dem Wink seiner Hand zu verstehen, dass er sich dieses Schauspiel noch ansehen wolle, bevor sie gehen konnten.
Fasziniert beobachtete Richard, wie im Takt mit der Musik eine wahre Schönheit aus dem Apfel stieg und so wunderbar performte, dass er den Blick nicht von ihren roten Lippen ablenken konnte und er ihre dunklen Augen unter den dichten Wimpern auch nach ihrem Abgang von der Bühne nicht vergessen konnte. „Wer war das?", fragte er verzaubert. „Das war Scarlet Stardust!"
Irgendetwas war anders. Majestic Mirronette vermochte nicht zu sagen, was dazu geführt hatte, dass ihre Vorstellung nun schon den dritten Abend in Folge spärlich besetzt gewesen war. Nach dem Weggang von Scarlet - und leider auch vom Verräter Artemis - war sie die letzten Monate wieder zum Star des Castle avanciert.
Gareth hatte sie nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub erzählt, dass Scarlet und der Barkeeper freiwillig gegangen wären, weil ihnen das Castle keinen Spaß mehr gemacht hätte. Jegliche Konversation, die aus Scarlets Richtung an Gareth erfolgt war, hatte sie abfangen lassen und nicht weitergeleitet. So auch die Einladung, die ihr nun, mit einiger Verspätung, auf den Schminktisch gelegt wurde.
„Was ist das?", fragte sie den Boten, der nur mit den Schultern zuckte und sich dann eilig von dannen machte. Neugierig riss die alternde Queen den Brief auf und begann ihn zu lesen. Mit jedem Wort verfinsterte sich ihr Blick. Dann fragte sie mit Grimm in der Stimme: „Alexa, was ist das ‚ Big Apple Seven'?"
„Okay, hier ist ein Ergebnis aus den Nachrichten. Aus dem Daily Mirror:
An diesem Samstag eröffnete in der Woodhill Terrasse der neue Club „Big Apple Seven" unter der Leitung von Star Drag Queen Scarlet Stardust. Der ehemalige Schandfleck des Barbesitzers Gareth Everhart, erstrahlt nun in neuem Glanz und ist DAS neue Theater der Stadt.
Bereits am zweiten Abend wurde der Einlass in den Club auf Besucher mit Gästeliste-Status reduziert.
Der heimliche Star des schicken Etablissements ist die Verantwortliche des Clubs selbst. Ihre Darbietung von „Never Enough", die einigen Gäste aus dem „Fairytale Castle" noch bekannt sein dürfte, war ein Spektakel für die Sinne.
Ob der Barbesitzer die Show weiterhin auf dem Samstag belassen möchte, ist nicht bekannt. Es wird bereits spekuliert, dass die Show im Castle wegen kannibalisierender Effekte auf einen anderen Tag verschoben werden könnte. Ein Insider sagte uns, dass..."
„Awwww!" Voller Wut krachte die Hand von Majestic in den Spiegel vor ihr und ein Splitter, der aus der partiell zerstörten Fläche herausgebrochen war, schnitt in ihren Finger, aus dem drei rote Tropfen Blut auf ein schneeweißes Häufchen Puder vor der verschämten Königin fielen.
Sie war der Star dieser Stadt!
Sie und keine Andere.
So ersann sie abermals einen Plan, um das Flittchen loszuwerden. Doch diesmal, für immer...
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