Teil I

Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen vom Himmel herab. Da klopfte es plötzlich an der großen, schwarzen Eingangstür aus Ebenholz. Der Besitzer der Bar, der gerade abschließen wollte, trat verwundert an die Tür und öffnete sie. Vor ihm stand, im weißen Schnee, eine wundersame Gestalt, die so schön war, dass er seinen Blick nicht von den schwarzen Haaren und dem roten Lippenstift abwenden konnte. Der junge Mann, der nun in einem langen Mantel vor ihm stand, sah ihn nur hilfesuchend an.
Der Besitzer des Fairytale Castle hatte Mitleid und bat den hübschen Mann in den roten Pumps hinein.

„Die Welt ist wie ein magisches Theater, in der sich Märchen und Realität vermischen! Auf der Bühne des Lebens verschwimmen manchmal die Grenzen zwischen Schein und Sein, Mann und Frau und Wunsch und Wirklichkeit. Lassen Sie sich heute Abend verzaubern von einem verwunschenen Wesen, das Sie in die wunderbare Welt der Fantasie entführt und Sie den Glauben an die Magie wieder spüren lässt! Einen großen Applaus, für unsere wunderschöne Queen: Scarlet Stardust!"

Tosender Applaus begleitete die im Staccato einsetzende Musik und den Auftritt des, durch den Barbesitzer überschwänglich angekündigten, Stars des Abends, der nun in eleganten Wiegeschritt die ganz im Märchenstil geschmückte Hauptbühne betrat. Die Scheinwerfer ließen die Drag Queen mit den langen schwarzen Haaren und der schneeweißen Haut in aller Schönheit erstrahlen, während sie ihr aufwendiges Outfit präsentierte und die scharlachroten Lippen lasziv lächelnd über die Menge schweifen ließ.

Scarlet war ein Showgirl, wunderschön und clever. Sie wusste ihre Reize gezielt einzusetzen und hätte die anwesenden Gäste, zum Großteil Männer, mit Leichtigkeit verführen können, wenn denn mal jemand dabei gewesen wäre, der ihrem Herz würdig wäre.
Doch Scarlet war nicht auf der Suche. Oder anders. Sie wollte gefunden werden. Sie glaubte an die Liebe auf den ersten Blick und dieser ist ihr bisher noch nicht begegnet. So beendete sie ihre pompöse Darbietung von „Never Enough" unter Jubel und mit ein paar Scheinen mehr in der Tasche so elegant, wie sie die Bühne betreten hatte: mit schwingenden Hüften und einem Handkuss für ihre Fans.

Sieben Monate waren vergangen, seit Scarlet Stardust das erste Mal an die Tür des Fairytale Castle, der bekanntesten Gay Bar in Glittering Heights geklopft hatte. Seitdem war sie zu seiner großen Attraktion geworden. Wenn Scarlet auftrat, reichte die Schlange vor dem Castle bis um die nächste Häuserecke.

Gareth Everhart, der Besitzer der Bar, war zurecht stolz auf seine prominente Drag Queen. Er kümmerte sich gut um all seine Angestellten, doch bei Scarlet legte er beinahe schon fast väterliche Gefühle an den Tag. Vielleicht lag es daran, dass Scarlet gerade erst achtzehn und wunderschön war. Zudem hatte die junge Drag Queen mit ihrer liebenswerten Art und ihrem freundlichen Wesen schnell Anschluss gefunden. Alle mochten Scarlet, bis auf die schon etwas in die Jahre gekommene Majestic Mirronette, die ebenfalls in der Tanz Bar angestellt war.

Zuerst hatte die ältere Drag Queen den Neuankömmling nur belächelt. Ein weiteres armes Wesen von der Straße, dass sich den Glanz und den Glamour des Show Business erhoffte. Doch je länger Scarlet im Club arbeitete, desto mehr Besucher kamen, und das fiel auch Majestic auf. Der Dienstagabend wurde zum neuen Samstag, und am Samstag fingen die Leute an, nach Scarlet zu rufen.

Eines Tages, als Majestic mal wieder in Vorbereitung auf ihre Show vor ihrem Schminkspiegel saß und jemand von draußen nicht ihren, sondern den Scarlets rief, hatte sie genug.
Während sie in ihren Spiegel blickte, fragte sie ihre beste Freundin um Rat: „Alexa, wer ist die Schönste im ganzen Land?"
„Du bist die schönste im ganzen Land, sagt das Spieglein an der Wand", antwortete, dass Amazon Echo Gerät.
„Alexa, warum rufen sie dann nicht meinen Namen?"
„Das weiß ich leider nicht", war die wenig zufriedenstellende Antwort des technischen Gerätes.

Mürrisch verzog die alternde Königin das Gesicht. Dann überprüfte Majestic ihre aufwendige Turmfrisur und tuschte ihre langen Fake Wimpern tiefschwarz. Sie musste etwas tun. Sie war der Star! Niemand sollte ihr den Rang ablaufen. Schon gar nicht so ein dahergelaufenes Flittchen!

Sollte sie doch dahingehen, wo der Pfeffer wächst. Oder besser, dorthin, wo sie selbst einmal angefangen hatte. In dieser kleinen, schäbigen Kneipe, der alten Absteige mit ihren ranzigen Fußböden, die vor verschütteten Bier nur so trieften und dessen Vorhänge von Motten zerfressen und von einer dicken Staubschicht bedeckt waren, weil niemand, der noch ganz bei Trost war, dort hinging, um ein paar alte Männer in Frauenkleidern tanzen zu sehen.

Denn ihre ehemaligen Kolleginnen waren nicht wie sie. Nein, Majestic war eine Künstlerin mit dem Pinsel, eine Akrobatin auf der Bühne, ein Dita von Teese im Schaumglas...
Und sie war nicht auf den Kopf gefallen. Sie wusste schon, wie die die Konkurrentin vorerst loswerden konnte. Wie gut, dass sie im Fairytale Castle einen engen Vertrauten hatte.

Artemis stand hinter dem Tresen und trocknete ein bereits sauberes Glas, während er fasziniert der neuesten Entdeckung von Gareth Everhart bei ihrer magischen Vorführung zusah. Scarlet war nicht nur eine Augenweide, sie hatte auch diesen unschuldig sinnlichen Ausdruck in den Augen, die ihm sofort den Kopf mit den weißen Locken darauf verdreht hatten. Für sie hatte er sogar seine sonst so begehrte Samstagsschicht mit Dave getauscht, nur, um jeden Dienstag in den Genuss ihrer Show zu kommen. Ein zunehmend guter Deal, wenn man bedachte, dass der Dienstag inzwischen fast mehr Umsatz brachte als der Samstag.

Noch immer auf die Bühne starrend, hatte Artemis gar nicht mitbekommen, wie ein älterer Mann plötzlich an seinem Tresen kam und erkannte ihn erst, als er sich provokant in sein Gesichtsfeld geschoben hatte.
„Hallo mein Bester, magst du mir einen Drink spendieren?" Der Mann mit den schwarzen Haaren und den großen blauen Augen sah den Barkeeper unter tiefschwarzen Fake Wimpern hindurch an. Es dauerte eine Sekunde, bis Artemis schaltete und einen Drink für den Gast zauberte.

„Ich wusste gar nicht, dass du heute hier sein würdest, Majestic", gab der Lockenkopf zu und stellte einen Kräuterschnaps auf den Tresen.
„Ich bin heute nicht als Künstler hier, nur als Steven", hauchte der Mann und stürzte den Schnaps in einem Zug hinunter. „Ich soll ein wenig nach dem Rechten sehen, wo Gareth doch im wohlverdienten Urlaub ist."

„Fühlt sich bestimmt gut an, dass er dir die Verantwortung übertragen hat, oder?", schätzte Artemis und sah mit Bedauern, dass Scarlet nun ihre Show beendet hatte und wieder hinter die Bühne verschwand. Gleich würde es einen Ansturm auf seine Bar geben.

„Bevor hier gleich die Hütte brennt, habe ich einen Auftrag für dich, mein Jägermeister", feixte Steven und Artemis horchte auf. „Noch einen Schnaps für dich", riet er und war mit der Hand bereits bei der Flasche. Doch Steven schüttelte den Kopf. „Ich habe einen Job, von Gareth für dich. Sehr vertraulich. Geheim, sozusagen."
Während sich Steven halb über die Bar beugte, flüsterte er in Artemis Ohr: „Komm nach deiner Schicht hinter die Bühne, da werde ich es dir erklären."

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