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achtundzwanzig / twenty-eight / vingt-huit.-
Nachdem ich die erste Nacht in meiner neuen Umgebung trotz Jetlag überlebt habe, folgt auch schon der erste Schultag, zu dem ich gezwungenermaßen antreten muss. Anders als momentan in Amerika haben die Schüler hier in Deutschland noch keine Ferien und ich würde laut meines Vaters nichts verpassen, was wichtig sein könnte. Nebenbei bemerkt denke ich nicht, dass hier für mich etwas von Bedeutung sein könnte. Insgeheim denke ich, dass er es unfair gegenüber Gina finden würde, wenn sie zum Unterricht gehen müsste und ich bei ihnen daheim meinen Tag mit rumliegen verbringen würde.
Seufzend stehe ich auf und begebe mich in das Badezimmer, um nicht ganz wie eine Leiche, die frisch von Friedhof kommt, auszusehen. Meine Augenringe sind wieder zurückgekehrt, so wie es sich für einen treuen Begleiter gehört, und meine Gesichtsfarbe ist so ungesund und blass, dass ich neben einer weißen Wand doch glatt untergehen würde.
Ich quäle mich unter eine heiße Dusche und versuche dann, meine Augenringe irgendwie verschwinden zu lassen. Bevor ich aber aus lauter Verzweiflung zum Concealer greife, verlasse ich fluchtartig das Bad. In den anderen Zimmern im Haus waren bereits alle wach, als ich am Aufstehen war, und Emelys hohe Stimme drang zu mir durch. Auch wenn ich die Kleine nicht verstehe und somit keine Unterhaltungen möglich sind, habe ich sie bis jetzt wohl am meisten ins Herz geschlossen.
Ich betrete mein Zimmer und überlege, was ich anziehen soll. Noch nie musste ich der Neue sein und irgendwie macht es mir Angst, der Gedanke, dass ich dort als Fremder auftauchen muss und nicht einmal ansatzweise verstehen kann, was die Leute zu sagen haben.
„Gina!", rufe ich schließlich verzweifelt und höre, wie sie in ihrem Zimmer herumläuft und schließlich meine Tür aufreißt. „Was?", fragt sie erschrocken und sieht sich panisch um.
„Was soll ich anziehen?", frage ich sie hilflos und deute auf meinen Kleiderschrank, der noch spärlich befüllt ist, da ich bis jetzt noch nicht alles aus meinem Koffer verräumt.
Für irgendwas muss eine Stiefschwester nützlich sein.
Verwirrt zieht sie die Augenbrauen zusammen und beginnt zu lachen. „Du bist aber nicht heimlich ein Transexueller, oder?", hinterfragt sie und ich schüttele augenrollend den Kopf.
„Zieh einfach das an, was du normalerweise auch trägst. Es ist eine ganz normale Schule, kein Ort, an dem sich Promis oder irgendwelche Heiligen versammeln und über den Laufsteg laufen. Es sollte auf jeden Fall bequem sein, die Stunden können sich unglaublich in die Länge ziehen, vor allem, wenn man nichts versteht. Glaub mir, ich kenne das, es passiert mir in Französisch ständig", meint sie und ich drehe mich ratlos zu meinem Kleiderschrank um. „Okay, wenn du meinst", murmele ich noch und greife wild nach einer Jeans und einem Pulli. Zögernd befolge ich ihren Rat und entscheide mich dafür.
Ich bin kein anpassungsfähiger Mensch und mit Veränderungen komme ich nur schwer klar. Wie bin ich denn auf diese beschissene Idee gekommen, in ein fremdes Land reisen zu wollen, um dort für kurze Zeit zu wohnen?
Gina verlässt schließlich, immer noch leise kichernd, den Raum und ich kann mich in Ruhe umziehen. Komplett zufrieden bin ich nicht mit meiner äußerlichen Erscheinung, aber für weitere Änderungen blieb mir keine Zeit mehr.
Total aufgeregt laufe ich startklar in die Küche, in der mich Marie mit Emely empfängt. „Na, gut geschlafen?", fragt sie mich lächelnd, während sie gerade Emely ihre Frühstückscornflakes serviert.
Ich nicke als Antwort, die sie mir trotz meines gequälten Gesichtsausdrucks abkauft und zufrieden lächelnd beginnt, den Abwasch zu machen.
„Bin ebenfalls fertig", höre ich Gina im Flur rufen und ich stehe ruckartig auf. „Wir können gehen."
„Ich wünsche dir viel Spaß, Austin. Mach etwas draus, es wird bestimmt toll. Ich würde gerne mit dir tauschen, das ist doch so aufregend", muntert mich Marie auf, während ihre Augen einen verträumten Schimmer bekommen. Ich nicke ihr lächelnd zu und verabschiede mich.
Nachdem auch Gina fertig ist, führt sie mich zu der nächstgelegenen S-Bahn Station. „Gibt es bei euch auch S-Bahnen?", fragt sie lächelnd. Amerika scheint sie sehr zu interessieren, sie stellt mir oft und viele Fragen.
Ich lache kurz auf. „Ich bin zwar noch nie mit einer gefahren, aber ich bin mir sicher, dass es welche gibt. Du kannst uns ja mal besuchen. Meine Heimatstadt ist die totale Klischeemetropole", antworte ich und ihre Augen beginnen zu strahlen.
Bevor sie mir eine Antwort auf meinen Vorschlag geben kann, wird die Ankunft der Bahn angekündigt und wir warten darauf, dass wir einsteigen können.
Viele Menschen verlassen die verschiedenen Waggons, die doppelte Menge steigt aber wieder ein. Ich werfe einen Blick auf die komplett besetzten Reihen. Gelangweilte Schüler mit Kopfhörern in den Ohren, ältere Damen mit der Morgenzeitung auf dem Schoß und gestresste Büroarbeiter auf dem Weg zu ihrer Firma machen sich auf den Sitzplätzen breit. In all meinen Lebensjahren musste ich noch nie mit einem so überfüllten Verkehrsmittel fahren.
„Komm mit. Je weiter hinten du bist, desto mehr Sauerstoff hast du für dich selbst", witzelt Gina und ich folge ihr durch die Reihen bis fast zur letzten Sitzreihe kurz vor dem Ende des Waggons.
„Bist du aufgeregt?", fragt sie mich, als die Bahn losfährt und wir unseren Weg zur Schule antreten. „Ja, eigentlich schon", gebe ich ehrlich zu und seufze. „Das wird schon, wir sind schließlich keine Monster."
Lachend lehnen wir uns zurück und warten auf unsere Station. Trotz der langen, vorgegebenen Fahrtzeit kommen wir überraschend schnell an und Gina drängt mich dazu, auszusteigen. Viele der Schüler reißen sich ihre Kopfhörer raus und strömen ebenfalls aus der Bahn.
„Du wirst gar nicht auffallen, unsere Schule ist riesig", bemerkt Gina und ich atme erleichtert auf. Direkt neben den Gleisen beginnt das Schulgelände, in das nun alle Jugendlichen fast panisch rennen. „Wie kommt es, dass es hier nur Leute in unserer Altersklasse gibt?", frage ich verwundert und suche den Schulhof nach Junior Schülern ab. „Das ist bei uns einfach so", antwortet sie schulterzuckend und sieht sich um. „Da vorne ist Natalie. Wir zeigen dir dann kurz alles, was du sehen solltest."
Ich nicke und folge ihr stumm, als sie auf Nat zustürmt und sie umarmt. Unsicher sehe ich mich um. Ich bete innerlich dafür, dass mir keines der peinlichen, klischeehaften Missgeschicke, die einem am ersten Tag unterlaufen können, passieren und hoffe auch, dass kein Lehrer mich dazu auffordern wird, mich vorzustellen.
„Und? Wie findest du es?", fragt Natalie aufgeregt, nachdem sie mir einen Semmel mit irgendeiner Wurst, die sie Leberkäs nennt, in die Hand gedrückt hat. Der seltsame Name hat mir anfangs etwas Angst gemacht, nachdem Gina mir die eigentliche Bedeutung übersetzt hat, und kurz hatte ich meine Zweifel, aber es schmeckte tatsächlich akzeptabel.
Unsicher sehe ich sie an. „Es schmeckt ganz okay", gebe ich zu und beiße noch ein weiteres Mal von diesem komischen Ding in meiner Hand ab.
„Oh Gott, sind das Essiggurken drin?", frage ich angewidert, nachdem ich auf etwas, das verdächtig danach schmeckt, gebissen habe und klappe die zwei Semmelhälften auseinander. Gina und Natalie, die ihre Semmel einfach verschlingen, nicken nur. Mit spitzen Fingern greife ich nach den Gurkenstreifen und werfe sie achtlos auf den Boden.
„Ich hasse Essiggurken. Sie sind so ekelhaft labbrig und erinnern mich an den faltigen Hintern einer Oma", erkläre ich es den Mädchen, die mich verwirrt ansehen.
„Danke, dass du mir den Appetit versaust, man", meint Gina und packt ihre Brotzeit wieder in die Bäckertüte. „Hier gibt es übrigens freies WLAN", informiert mich Natalie lachend. „Ich verwette meinen kleinen Finger darauf, dass Gina dir bis jetzt noch nicht das Passwort für ihr WLAN daheim rausgerückt hat. Ich bin seit Jahren mit ihr befreundet, verbrauche aber immer noch jedes Mal mein gesamtes Datenvolumen, wenn ich bei ihr bin. Man kann das doch fast nicht als Freundschaft durchgehen lassen", lacht Natalie und Gina antwortet ihr damit, dass sie ihr ihren Mittelfinger ins Gesicht hält. Die Geste erinnert mich zu sehr an Savannah und ich krame mein Handy heraus, um das WLAN der Bäckerei abzuzapfen. „Ich kenne das dämliche Passwort doch selbst nicht. Ich glaube, wir haben nicht mal eines. Es ist einfach da, das WLAN", verteidigt sich Gina und lacht.
Nach einem Tag ohne Internet sind ein paar Nachrichten an mich zusammengekommen, selbst Adrianna hatte mir gestern geantwortet. Nur die Person schrieb mir nicht, von der ich am meisten eine Nachricht wollte.
Ich klicke auf den Chat mit Savannah und schreibe ihr eine kurze Nachricht, welches nur ein 'wie geht es dir?' beinhaltet.
„Wie hat dir der erste Tag denn gefallen?", reißt mich Gina aus meinen Gedanken und ich sende schnell sie Message ab, bevor ich ihr antworte. „Es war ganz schön, mal eine neue Schule zu sehen. Es ist etwas gewöhnungsbedürftig und irgendwie auch klein, alle sind auf einem Haufen, aber ich habe es mir schlimmer vorgestellt", sage ich nachdenklich. „Na siehst du", zufrieden widmet sie sich dann ihrem eigenen Handy.
Nervös warte ich auf eine Antwort und hoffe, dass eine kommt, noch während ich die Internetverbindung habe. Die Häkchen färben sich blau und mein Herz macht einen kleinen Freudensprung. Kurz muss ich mich zusammenreißen, keinen Freudenschrei loszulassen, als ich sehe, dass sie eine Antwort abtippt.
'Alles gut, läuft super hier.'
Alles in mir lockert sich ein wenig auf, ich atme erleichtert aus. Und dann lege ich das Handy, ohne weiter nachzufragen oder zu hinterfragen, weg und freue mich darüber, dass zurzeit alles sehr gut läuft.
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