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zwölf / twelve / douze.-

Mein Atem geht flach und bricht die aufdringliche Stille, während ich auf dem Bett liege und die harten Gesichtszüge Savannahs betrachte.

Sie ist eingeschlafen, bevor sie mir meine weiteren Fragen beantworten konnte und dieses unbeschreibliche Gefühl wächst von Minute zu Minute, in der ich diese kleine, dürre Gestalt auf diesem riesigen Bett liegen sehe und ihr beim Atmen zuhöre. Dieses Gefühl von Leere, Hilflosigkeit, Ratlosigkeit. Die Schläuche der Sonde hängen hinter ihr und die Flüssigkeit tropft gleichmäßig durch. Es ist komisch, dass diese Plastiktüte, gefüllt mit einer ekelhaften Pampe, sie am Leben hält, da sie selbst nicht mehr dazu fähig ist.

Hilflos seufze ich. Wie muss sie wohl ausgesehen haben, bevor sie angefangen hat, jegliches Essen zu vermeiden. Bevor sie angefangen hat, sich selbst zu zerstören, denn das tut sie. In jeder Hinsicht. Fragen über Fragen, die in meinem Kopf schwirren und wahrscheinlich nie beantwortet werden.

Langsam und vorsichtig, um sie nicht zu wecken, krieche ich von ihrem Bett runter und laufe zur Tür. Sie soll mich nicht sehen, wenn sie aufwacht. Es erscheint mir als unpassend, und ich möchte ihr lieber wieder in halbwegs guter Fassung unter die Nase treten. Falls sie mich danach überhaupt noch sehen will.

Geräuschlos sperre ich die Zimmertür auf und trete aus dem Raum. Die Schwestern befinden sich dem Geräuschpegel nach zu urteilen größtenteils im Pausenraum, da die kurze Nachmittagspause ist und ich entnehme daraus, dass die Vorträge der langweiligen Blondine endlich zu Ende sein müssen.

Kurzerhand fasse ich einen Entschluss und gehe in Richtung Hauptbüro, der gleichzeitig auch der Raum ist, in dem sich die Akten und Informationen über die Patienten befinden. Ein großes Schild mit der Aufschrift Betreten nur für Personal erlaubt fällt mir sofort ins Auge und ich kaue nervös auf meiner Unterlippe herum. Genau genommen bin ich eigentlich Personal, nur kein fester Teil davon und auch nur für die nächsten Wochen.

Jedoch erscheint es mir als sinnvoller, ihre Akte durchzulesen, als noch weitere Wochen zu warten und ihr beim Sterben zu zu sehen.

Fest entschlossen drücke ich die Klinge runter und betrete den Raum. Meine Panik und die Nervosität verschwinden, als ich merke, dass er leer ist. Kurz werfe ich noch einen Blick in den Gang und laufe dann rein.

Ein Haufen Regale, größtenteils vollgepackt mit Akten, füllen den gesamten Platz aus und ich sehe mich hilflos um. Verdammte scheiße, wie soll ich hier jemals die Akte von einer einzigen Person finden?

Schnell husche ich hin und her und versuche mich zwischen all den dicken Ordnern zurecht zu finden. Ich frage mich, wie all die Mitarbeiterinnen mit den hunderten von Namen und den riesigen Stapeln von Papier noch klarkommen.

„Es ist nicht besonders clever, die Türe bei einer Durchsuchungsaktion offen zu lassen, du 007", reißt mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Kurz schrecke ich auf und muss sogar einen grässlichen Mädchenschrei unterdrücken, als ich herumwirble und den Jungen mit den Blutergüssen entdecke. Seine Miene ist wie immer, gleichgültig. Wie heißt er denn doch gleich?

„Oh, Scheiße. Das habe ich ganz vergessen", stottere ich und weiß nicht genau, wie ich auf seine plötzliche Anwesenheit reagieren soll. Er seufzt, schließt die Tür hinter sich und kommt auf mich zu.

„Lass mich raten, die Akte von Little Miss Drama", sagt er und die Art, wie er es tut, lässt mich mich unwohl fühlen. Zaghaft nicke ich. „Sie sind nach Buchstaben geordnet, wie so gut wie in jedem Krankenhaus. Das sind alles Akten der letzten Jahre, hier stehen alle Informationen über hunderten von Patienten. Savannah Grembourgh", meint er.

Verwirrt sehe ich mich nach irgendwelchen Schildchen um, die mir zeigen, in welchem Regal sich welche Buchstaben befinden. Der Junge neben mir atmet leicht genervt aus und deutet auf das dritte Regal von links. "Logisches Denken, Austin."

Unsicher sehe ich ihn an, fühle mich aber irgendwie von ihm eingeschüchtert, weshalb ich die Schultern straffe und ihn leicht provokant angrinse. „Ich würde ja kontern, aber ich kenne deinen Namen nicht."

Ich gehe zu dem besagten Regal und schaue mir die beschrifteten Ordner an. Ich nehme einen schweren, schwarzen Ordner heraus, auf dem ein großes, weißes 'G' aufgezeichnet worden war.

Hastig blättere ich mich durch die Akten. Tausende von Namen springen mir entgegen und fast automatisch bleibe ich bei ihrem hängen. Savannah G. Ich nehme sie heraus und klappe sie hastig auf, in der Hoffnung, etwas über sie herauszufinden. In diesem aussichtslosen Labyrinth endlich einen Ausweg zu finden.

Jedoch werde ich gänzlich enttäuscht.

Es stehen nicht wirklich für mich relevante Daten auf der ersten Seite, nur persönliche Angaben und der Einlieferungstermin, außerdem noch Allergien und Infos zu den Tabletten, die sie benötigt. Ihr Ankunft hier ist auf den Tag drei Wochen her. Ich blättere um, doch es folgt nichts, außer eine leeres Blatt.

Stirnrunzelnd sehe ich zu dem Jungen, der immer noch mitten im Zimmer steht und mich wortlos anstarrt. „Wieso steht hier nichts?", frage ich ihn verwirrt, doch er lächelt nur.

„Denkst du etwa, sie wüssten mehr als du? Wir wissen alle nichts. Ich glaube nicht einmal, dass sie aus dieser Stadt kommt. Ich habe sie noch nie zuvor irgendwo hier gesehen und ich kenne diese Stadt und ihre Bewohner ziemlich gut. Sie ist einfach aufgetaucht und unlösbar", spricht er meine Gedanken aus. Frustriert seufze ich auf und schließe die Mappe. Die kleine Seifenblase, die gefüllt mit Hoffnung ist und der Wunsch, etwas mehr Infos über sie zu erlangen, platzt und zeigt mir gleichzeitig den Mittelfinger.

„Mein Name ist übrigens Jacob", kommt es noch von ihm, bevor er den Raum verlässt. Okay, Jacob.

Ich folge ihm und verlasse den Raum, laufe jedoch geradewegs in meine Mutter rein, die mich daraufhin misstrauisch anschaut. „Mum, warte kurz. Kannst du mir ein paar Fragen beantworten?", werfe ich ein, bevor sie mir Fragen stellen kann und sie seufzt. „Welche denn? Mach schnell, ich muss noch zu Liah, die aus Zimmer 156."

„Kann ich mit Savannah mal ein wenig  raus oder so?", frage ich und ernte nur einen verwirrten Blick ihrerseits. „Austin, es gibt einen guten Grund dafür, weshalb sie hier auf einer Geschlossenen ist. Du kannst mit ihr nicht einfach so rausspazieren", antwortet Mum mir mit einem strengen Unterton. Ich rolle mit den Augen und nickte, versuche dann schließlich an ihr vorbeizulaufen. Sie mustert mich noch skeptisch, als ich ihr zulächle und Richtung Savannahs Zimmer laufe.

„Tu nichts falsches, ich warne dich", höre ich sie noch rufen, aber ich erspare mir eine Antwort, die womöglich noch eine Diskussion hervorrufen würde.

Aber wer bestimmt, was falsch oder richtig ist?

Die Zimmertür erscheint vor mir und ich drücke sie hastig auf. Sie sitzt bereits wach auf ihrem Bett und starrt die Wand an. „Mir ist schlecht", teilt sie geradeaus mit.

„Tja, dass hätte dir schon vor deinen 'sechs Bier' klar sein sollen, dass sowas folgt", antworte ich und äffe dabei ihre Behauptung von vorhin nach. „Halt einfach deine Klappe."

Ich lache auf. „Ganz ruhig, kein Grund kratzbürstig zu werden. Was hältst du davon, wenn wir in die Stadt gehen?", frage ich sie. Ich möchte das unbedingt durchziehen und sie für kurze Zeit hier raus bringen. Vielleicht hilft es ihr, wenn sie mal aus dem Ganzen hier rauskommt.

Entgeistert sieht sie mich an. „Wie willst du das denn bitte anstellen? Einfach rausspazieren, oder was? Vor allem mit dem Ding?", sie deutet angewidert auf ihre Infusionsstange.

„Nichts ist unmöglich. Wir finden schon einen Weg. Los, zieh dich an", befehle ich ihr und sie rollt mit den Augen. „Ich bin angezogen."

Grinsend mustere ich ihre Klamotten. „Weißt du, so wie du aussiehst, könntest du glatt als ein afrikanisches Straßenkind durchgehen."

Sie zeigt mir den Mittelfinger und steht vorsichtig auf. Ein wenig wackelig auf den Beinen, bewegt sie sich auf ihren Schrank zu und öffnet diesen. „Ich bin der Meinung, meine Jogginghose und der Pullover passen hervorragend", behaart sie weiterhin. Ich seufze und nicke schließlich. "Na gut, der Pullover kann mit. Aber zieh dir wenigstens eine normale Hose an. Und eine Jacke."

Frustriert stöhnt sie auf und greift nach einer dunklen Jeans und einer Jacke. Sie hält mir die beiden Sachen augenrollend entgegen, während ich grinsend beide Daumen in die Luft strecke.

"Umdrehen."

Ich befolge ihre Anweisung leicht kichernd und warte, bis sie fertig ist. Mein Blick fällt auf ihre Beine und erst jetzt sieht man wirklich, wie dürr sie eigentlich ist. Schnell wende ich meinen Blick ab.

„Na, dann mal los!", sage ich in einer feierlichen Stimme und laufe zur Tür. Unsicher und fragend sieht sie mich an. „Bist du dir sicher? Die Welt da draußen ist grausam."

„Oh, nicht grausamer als die Welt hier drin. Na komm schon."

Sie trottet mir hinterher und zusammen laufen wir so unauffällig wie möglich zur Haupteingangstür. Ich krame meine Schlüssel hervor, den ich gestern endlich bekommen habe und sehe mich ein letztes Mal im Gang um. Schnell sperre ich sie auf und deute Savannah, vorzugehen. „Beeil dich", raune ich ihr zu und schließe von außen wieder ab. „Falls du es nicht bemerkt haben solltest, ich habe hier einen ziemlich beschissenen Begleiter, der nicht so schnell unterwegs ist", zischt sie und ich lache. „Jaja. Schnell, zum Aufzug."

Ich gehe los zum metallicfarbenen Aufzug und sehe, wie sie mir ratlos folgt. „Ich war hier noch nie. Als ich eingeliefert wurde", sie zögert kurz. „war ich bewusstlos."

Ich beschließe, das so im Raum stehen zu lassen und helfe ihr mit der Stange. „Wohin soll es gehen?", frage ich fröhlich. Eigentlich habe ich keine Ahnung, wieso ich das tue und was ich mir daraus erhoffe. Das einzige, was ich weiß ist, dass ich dieses Blatt beschriften möchte. Dass ich die Geschichte hinter dem Namen herausfinden möchte.

„In den Park im Westen, hinter'm Jonas Pub. Da bin ich früher oft gewesen", antwortet sie mir dann schließlich nach kurzem Zögern und ich drücke lächelnd den Knopf, der für das Erdgeschoss steht.

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