Bericht einer Insasse

Es war ein schlechter Tag. Die Gedanken kreisten nur noch um meine Familie. Der Traum mit meiner Mutter hatte alles nur noch einmal verstärkt. Noch war den anderen nichts aufgefallen. Ich ging in der Masse unter. Unser Zeltlager hatte sich zu einer Zeltstadt entwickelt. Wie Krebszellen in einem Organ breiteten sich die Zelte auf dem Platz im Wald aus. Zwischenzeitlich hatten sogar einige Baracken aus Planen gestanden, da uns zu wenige Zelte geliefert worden waren. Viele Lagerhäftlinge waren zu uns gestoßen. Was sie erzählten verstärkte meine Sorgen weiter. Ich hatte einen Freund –falls man das so nennen konnte– gefunden, der mir ab und zu etwas berichtete. „Ich sage dir, es war schrecklich. Am Anfang wurden wir alle zusammen in einem Raum gehalten. Das war noch erträglich. Wir durften wie normale Menschen leben, auch wenn sich alles in dem einen Raum abspielte. Es wurden Diskussionsrunden veranstaltet, mit der Absicht uns gegeneinander aufzuspielen. Als wir uns gemeinsam aufgelehnt haben, wurde die Einzelhaft eingeführt. Ich saß 24 Stunden alleine in meiner Einzelzelle, jeden Tag. Schlafen konnte ich meistens nicht. Wegen der Medikamente. Keine Ahnung, was die uns da gegeben haben. Irgendwas, was hyperaktiv und aggressiv macht. In regelmäßigen Abständen kamen durch eine Klappe in der Wand Tabletten in die Zelle. Es gab auch kein richtiges Essen mehr. Alle Nährstoffe wurden uns über Tabletten verabreicht, sogar das Wasser. Und diese verdammten Pillen sahen alle gleich aus. Essen und Drogen waren nicht zu unterscheiden. Deshalb habe ich alles geschluckt. Es gab auch kein Badezimmer, nur einen Abfluss im Boden. Einmal die Woche wurde automatisch mit Wasser durch die Zelle gespült. Und zwar an dem Tag, an dem andere Häftlinge in die Zelle gelassen wurden. Dann gab es Streitereien und Kämpfe. Mit politischen Diskussionen und Kritik hatte das nichts mehr zu tun. Die Medikamente machten uns gewalttätig." Er sah verzweifelt aus. Ich auch. Das Ernährungsprogramm für unser Land wurde also in Kritikerlagern getestet. Den Rest kannte ich schon. Nur in einer anderen Version. Die einzig verfügbaren Medien –abgesehen vom Feldkurier hatten Aufnahmen aus Lagern ausgestrahlt. Von den Kämpfen. Mit der Aufschrift „So sind Kritiker." Es machte mich wütend. Und hilflos. Die Tatsache, dass mein Vater dort arbeiten könnte, drehte mir den Magen noch weiter um. Wenn er überhaupt noch lebte. Er hätte bis einiger Zeit noch als Soldat oder DV arbeiten können. Das war nicht ganz ausgeschlossen, wenn auch unwahrscheinlich. Ich kannte sein Alter nicht genau. Als ich noch mit dem Störsender unterwegs gewesen war, hatte ich DVs abgeschossen ohne ihnen ins Gesicht zu sehen. Erinnerungen an Familie hatte dieses Gerät auch unterdrückt. Ein schrecklicher Gedanke kam mir: Hatte ich eigenhändig meinen lang verlorenen Vater umgebracht?

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