Kapitel 6
Lisa stand aufgeregt am Schlitten und wippte nervös auf ihren Fußballen herum. Bald würde es losgehen. Alles war fertig gepackt und im ersten Kontinent brach die Nacht an und die Kinder lagen in ihren Betten.
Lisa hüpfte leicht herum, so freute sie sich auf die Reise. Sie würde Australien sehen. Und Neuseeland! Und Japan! Dann Europa, Afrika und wieder die Staaten. Und das alles in einer Nacht. Es war nur schade, dass sie das niemand erzählen konnte und auch alles im Dunkeln erkunden musste. Dennoch freute sie sich.
Nicolas kam auf sie zu und ihr Herz machte einen kleinen Sprung. Er sah einfach toll aus. Der kurze helle Mantel, den er schon bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte, stand ihm ausgezeichnet. Dazu trug er eine Jeans mit Löchern, so dass man die gebräunte Haut seiner Beine sah. Gerade zog er sich im Gehen die Lederhandschuhe an und wirkte etwas nervös.
Sie beobachtete ihn, wie er zu den Rentieren ging und nochmal das Geschirr überprüfte. Mit Comet führte er ein kleines Zwiegespräch und es schien gerade so, als ob das Tier Nicolas Mut zusprechen würde.
Lisa war immer noch der Meinung, dass Nicolas alles bestimmt klasse erledigen würde. Er war einfach dafür gemacht, auch wenn er davon nichts hören wollte. Aber sie hatte gesehen, wie er jeden Schritt routiniert abgearbeitet hatte und auch wenn er es nicht bemerkt hatte, lächelte er nun auch öfters. Einmal hatte sie ihn sogar dabei erwischt, wie er ein Weihnachtslied vor sich hin pfiff.
Er sah zwar nicht aus wie Santa, aber er handelte wie er.
Nicolas tätschelte Comet und den anderen noch einmal auf die Flanke und am dann zu ihr. Als er vor ihr stand, holte er tief Luft, dann reichte er ihr seine Hand.
"Kann es losgehen?"
Sie seufzte leise, was ihn die Stirn runzeln ließ.
"Wir könnten schon anfangen, aber an dir ist wirklich nichts Weihnachtliches.Das müssen wir schleunigst ändern."
Er schnaubte.
"An dir doch auch nicht! Nur der kleine Stechpalmenzweig und der zählt nicht."
Sie kicherte, wenn sie daran dachte, was Emmi ihr anstecken wollte. Sie war nämlich mit einem Mistelzweig angekommen, aber den hatte Lisa kategorisch abgelehnt. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, was passiert war, als Nicolas einen Mistelzweig entdeckt hatte.
Sie holte eine Mütze aus ihrem Mantel heraus und setzte es ungefragt auf Nicolas Kopf.
Er schaute nicht gerade glücklich aus, aber Lisa fand ihn mit der Weihnachtsmannmütze wirklich sehr schön. Der rote Samt und die weiße Borte hob sich von seinem Mantel ab und auch der Bommel sah nicht lächerlich aus. Es passte zu Nicolas. Er sah nun aus wie ein moderner und sexy Weihnachtsmann.
"Ach komm, Nicolas. Das sieht wirklich toll aus. So kann man wenigstens etwas Santa an dir erkennen und ruft nicht gleich die Polizei, weil man denkt, du wärst ein Einbrecher."
Er seufzte, holte dann aber selbst etwas aus seinem Mantel und zog es ihr über den Kopf.
"Na gut. Aber du trägst dafür das!"
Sie befühlte es und lachte lauthals, als sie erkannte, was sie anhatte.
"Die Haube von Mrs Clause?"
Er nickte.
"Meine Mutter würde es nie anziehen, aber dir steht es irgendwie."
Sie hob gespielt ernst den Finger.
"O oh, Santa. Entweder hast du mich gerade als alt bezeichnet, weil mir eine Haube steht oder das war ein unanständiger Antrag, weil jeder mich für deine Frau halten wird."
Er lachte und die Nervosität verschwand endlich.
"Weder das eine, noch das andere, Miss Brown. Das möchte in aller Ernsthaftigkeit festhalten!"
Ein Elf stellte sich vor sie.
"Ich störe ja ungern eure Flirterei, aber ihr solltet jetzt wirklich los."
Bevor sie sich rechtfertigen konnten, drehte der kleine Kerl sich um und murmelte etwas, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fiel.
Lisa kicherte leise.
"Meinst du, dein Dad flirtet immer mit deiner Mutter, bevor er los zieht?"
Nicolas nickte ernst.
"Oh ja. Früher hat er sie auch immer mitgenommen, aber da wäre beinahe einmal was schief gegangen, weil sie..." Er verzog das Gesicht. "Ich will daran gar nicht denken! Wirklich nicht, Lisa."
Sie lachte, während er sie auf den Schlitten hob.
"Du meinst, sie hatten Sex? Im Schlitten?"
Er setzte sich neben sie und nahm die Zügel in die Hände.
"Miss Brown, ihre Gedanken sind wirklich schmutzig."
Sie legte die kuschelige Decke über seine und ihre Beine.
"Nana, Santa. Das waren doch deine Gedanken."
Wieder kam ein Hohoho über seine Lippen und verzog sein Gesicht.
"Oh nein! Ich hoffe, das hört irgendwann wieder auf!"
Noch einmal holte er tief Luft, dann rief er jedes einzelne Rentier beim Namen und knallte danach mit den Zügeln. Sie galoppierten los und der Schlitten nahm schnell Fahrt auf. Es war auf einmal unheimlich laut, so dass Lisa sich die Ohren zu hielt. Die Rentiere schnaubten laut und die Elfen hatten sich alle versammelt und feuerten Nicolas lautstark an.
Nicolas konzentrierte sich nur auf den Schlitten, der endlich das richtige Tempo hatte und langsam in die Luft abhob.
Seine Anfeuerungsrufe waren wirklich imposant und Lisa hätte ihm stundenlang zusehen können.
Dann stieg der Schlitten endlich in den Himmel und es wurde auf einmal sehr still. Nur die Glöckchen, die am Geschirr der Rentiere angebracht waren, gaben irgendwelche Geräusche von sich.
Die Anspannung fiel von Nicolas ab und er entspannte sich zum ersten Mal an diesem Tag.
Lächelnd schaute er zu ihr.
"Die erste Hürde haben wir geschafft. Auf nach Ozeanien!"
Den ersten Kontinent hatte Nicolas gut gemeistert. Er war auf den Dächern gelandet, hatte von Lisa das Geschenk entgegen genommen und war in die Wohnung gerutscht.
Ja, er hatte sogar von den Keksen gegessen, aber erst, nachdem Lisa ihn danach gefragt hatte.
Verfluchter Mist. Wenn er von jedem Keks abbeißen und von jedem Glas Milch einen Schluck nehmen würde, dann musste er im neuen Jahr nicht nur einmal in der Woche ins Fitnessstudio.
Aber wenn er Lisas vor Freuden strahlendes Gesicht sah, sobald er wieder bei ihr erschien, war ihm das egal.
Ihr wurde es anscheinend nie langweilig ihm zuzuschauen, wie er verschwand und nach einer Weile wieder auftauchte.
Nun saß er wieder im Schlitten und eilte dem nächsten Ziel entgegen.
"Das ist so aufregend, Nicolas."
Lisa saß neben ihm und freute sich wie ein kleines Kind.
"Ich danke dir, dass ich das heute mit dir erleben darf!"
Sie klatschte vor Freude in die Hände, während er sie anlächelte.
"Es ist immerhin besser, als alleine zu Hause zu sein oder den Dienst der Kollegen zu übernehmen!"
Sie seufzte und lehnte sich zurück.
"Mir war klar, dass du das Thema irgendwann ansprichst."
Er hob eine Augenbraue.
"Ach ja?"
Auf einmal konnte Nicolas sehen, wie sie innerlich schrumpfte und wieder die Frau wurde, die man gerne übersah.
"Du willst wissen, warum ich an Weihnachten alleine bin. Warum ich jeden Dienst übernehme, obwohl ich weiß, dass einige Kollegen mich nur ausnutzen. Warum ich dennoch meine Wohnung schmücke, obwohl ich gar nicht zu Hause bin."
Er zuckte mit den Schultern.
"Nun, ich weiß, dass deine Eltern früh gestorben sind. Aber warum weiß ich nicht."
Sie lachte leise.
"Viele halten mich für verrückt, wenn ich ihnen den wahren Grund nenne."
Wieder zuckte er mit den Schultern.
"Mein Dad ist Santa Clause. Das hast du mir erst auch nicht geglaubt."
Sie lachte, aber es klang nicht so fröhlich wie am Anfang ihrer Reise. Dann seufzte sie leise.
"Mein Vater starb bei einem Arbeitsunfall. Wir waren nie reich, aber wir waren glücklich. Und mein Dad tat alles, damit es gerade mir an nichts fehlte. Er war ein Fischer und meine Mutter verpackte Waren in Regale, wenn ich in der Schule war. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich mich manchmal früher auf den Weg in die Schule machte, nur damit ich Dad sehen konnte, der gerade mit dem Schlepper am Hafen ankam. Ich konnte an seinem Gesicht ansehen, ob wir ein üppiges Mittagessen bekamen oder ob es nur Sandwiches gab. Aber wie ich schon gesagt habe, waren wir glücklich. Eines Morgens kam der Schlepper nicht mehr zurück in den Hafen. Meine Mutter lief eine Woche lang jeden Tag zum Hafen, um auf Dad zuwarten. Sie war sich so sicher, dass die Crew den Sturm überlebt hatte, der in dieser Nacht das Meer aufwühlte. Doch Dad kam nicht wieder. Nach einer Woche fand man die Wrackteile und die ersten Leichen. Dad fanden sie drei Wochen später. Wir durften uns nicht von ihm verabschieden, weil sein Leichnam schrecklich ausgesehen hatte. Mum lebte noch einen Monat, wenn man das Leben nennen konnte. Sie trauerte so sehr und ich weiß, dass sie am gebrochenen Herzen gestorben ist."
Sie schniefte leise und Nicolas nahm ihre Hand in seine.
"Ihre Liebe zu Dad war so groß, dass nicht einmal ich sie aus der Trauer holen konnte. Sie hatte immer wieder gesagt, dass es nur ihn für sie gab. Weihnachten war bei uns immer etwas Besonderes und deswegen schmücke ich die Wohnung, so wie es die beiden auch immer getan hätten."
Er sah aus den Augenwinkeln, dass sie sich mit dem Mantel die Tränen aus dem Gesicht wischte.
"Da ich ganz alleine auf der Welt war, nahm mich erst eine Nachbarin bei sich auf. Es hat mir dort gefallen, aber sie war eine alte Frau und die Behörden hielten es für nicht angemessen, dass ich bei ihr lebte. Also schickten sie mich von Pflegefamilie zu Pflegefamilie."
Er nickte.
"Mit einer davon hast du noch Kontakt."
Endlich lächelte sie wieder, auch wenn es noch sehr traurig aussah.
"Ja. Die Millers. Es war die letzte Familie, zu der ich gebracht wurde. Ich war schon beinahe achtzehn, aber sie behielten mich dennoch für weitere drei Jahre, bis ich meine Ausbildung beendet hatte. Ich verdanke ihnen sehr viel und zahle ihnen das Schulgeld zurück."
Nicolas schluckte hart.
Deswegen übernahm sie die unmöglichsten Dienste. Es gab mehr Geld und sie konnte mehr bezahlen.
"Haben sie es denn je von dir verlangt?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Nein. Ich tue es dennoch. Und den Dienst nehme ich an, weil ich dann nicht zu ihnen muss."
Er sah zu ihr.
"Du kannst sie nicht leiden?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Das ist es nicht. Ich mag sie alle, aber ich komme mir wie ein Fremdkörper vor. Verstehst du das? Das berühmte fünfte Rad am Wagen. Deswegen vermeide ich es, an solchen Feiertagen bei ihnen zu sein."
Er verstand es wirklich, auch wenn es ihm noch nie so gegangen war. Sanft hob er ihr Kinn an.
"Dieses Jahr bist du aber kein Fremdkörper. Und du bist nicht allein."
Er schnalzte mit der Zunge und trieb die Rentiere an.
"Jetzt werden wir mal so richtig Spaß haben, damit du alles Traurige vergisst."
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