6. Neue Freunde?

Sam

"Mein Name ist Félin. Das Mädchen, das dich hergebracht hat, heißt Myriam.", erzählte der Junge drauflos und deutete erst auf sich und dann auf Myriam.
Alle am Tisch sahen mich gebannt an. Ein wenig unwohl, von der ungewollten Aufmerksamkeit, antwortete ich: "Hallo... Ich bin Sam."
"Was für ein merkwürdiger Name, sogar für einen des Alten Volkes.", sprach ein anderer Junge, der ein paar Jahre jünger als ich und Félin sein musste.
Wie sollte ich ihnen erklären, dass ich direkt aus der Alten Welt hierher kam und kein Nachfahre des Alten Volkes war?
Während ich noch überlegte, was ich sagen sollte, fragte mich ein Mädchen schon weiter aus: "Was tust du hier, Sam? Es ist sehr selten, dass einer wie du hierher kommt."
Ich zögerte kurz. Sollte ich das sagen oder war es geheim?
Ich entschied mich, es zu erzählen. Irin hätte es mir sagen müssen, wenn es geheim war!
Ich räusperte mich, bevor ich anfing: "Irin hat mich in eurem Gebiet, weit entfernt von der Grenze, gefunden und mitgenommen."
Ich betete, dass niemand fragte, wie ich dorthin gekommen war. Ich wusste es ja selbst nicht. Die schockierten Gesichter ließen mich schon Schlimmstes ahnen, aber die Aufregung kam aus einer ganz anderen Richtung.
"Du meinst Prinzessin Irin?", fragte Félin ehrfürchtig. Myriam hatte bis jetzt kein Wort gesagt. Sie hatte es gewusst!
"Ja, schätze schon...", meinte ich daraufhin schulterzuckend.
Getuschel brach am gesamten Tisch aus. Hätte ich das etwa nicht sagen sollen?
Soll Irin das doch ausbaden, dachte ich schadenfroh für mich. Ihre Schuld. Sie hätte mich nicht so einfach stehen lassen müssen.
Das Getuschel lenkte alle so sehr ab, dass ein kleiner Hund sich etwas von Félins Teller schnappen konnte.
Schwanzwedelnd lief er davon und auf einen etwa zehnjährigen Jungen zu, der ihn am anderen Ende des Raumes begrüßte.
Félin sah auf seinen Teller und merkte, dass etwas fehlte. Suchend sah er sich im Raum um, bis er den Jungen fand, der triumphierend grinste. Schnell sprang Félin auf und lief auf den Jungen zu, der machte, dass er Land bekam. Lachend rannten sie fast eine Frau um, die ihnen tadelnd hinterherblickte, während der Hund freudig kläffte.
"Ist das normal oder...?", wandte ich mich an die anderen, die dem Spektakel kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatten.
"Das ist nur Félins kleiner Bruder Aren. Die machen sowas andauernd.", meinte Myriam.
Ich nahm die Antwort hin und löffelte stillschweigend meine Suppe, während ich den anderen zuhörte, wie sie über für sie alltägliche Dinge sprachen.
Satt verzog ich mich kurz danach auf mein Zimmer.

Irin

Sie hasste das Essen mit ihrer Familie abgrundtief. Die verurteilenden, wütenden Blicke ihres Vaters Iromil und die sorgenden ihrer Mutter Taíra, brachten sie fast um den Verstand.
Arya sah sie nur gehässig an, als wollte sie allen zeigen, dass sie die bessere Tochter von ihnen war.
Irin vermisste die um Jahre zurückliegende Zeit, als sie und ihre kleine Schwester noch unzertrennlich gewesen waren. Schleichend hatte sich das geändert, bis sich die Beiden auf den Tod nicht mehr leiden konnten.
Die Standpauke ihres Vaters hatte sie glücklicherweise schon hinter sich.
Die bedrückende, frostige Stille am Tisch war allesverzehrend. Nur das Aufeinandertreffen von Tellern und Besteck, wagte es, sie zu durchbrechen. Es war kaum auszuhalten.
Es dauerte gefühlte Stunden, bis Irin fertig war. Die Sitte erlaubte es, den Tisch erst zu verlassen, wenn auch der König fertig war. Betont langsam tat er dies. Irin glaubte, ihr Vater wollte sie damit extra bestrafen.
Als auch er endlich fertig war, war Irin die Erste, die wie vom Blitz getroffen aufsprang. Nichts wie weg hier!
Ohne ein Wort zu verlieren, lief sie ein Stockwerk höher, in ihr Zimmer.
Dort schmiss sie sich auf ihr Bett und wollte nichts weiter, als ihrer besten Freundin Myriam alles zu erzählen. Genau genommen war sie Irins einzige Freundin. Sobald alle schliefen, fasste sie ihren Vorsatz, wollte sie zu Myriam.
Wenig später kam ihre Mutter noch in ihr Zimmer. Irin stellte sich schlafend und Taíra hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie war die Einzige in der Familie, die Irin noch vollkommen liebte. Die anderen beiden Mitglieder schienen sie von Tag zu Tag mehr zu verachten.
Als Irin keinen Laut mehr Vernehmen konnte, öffnete sie ihr Fenster und sah nach, ob die Luft auch rein war. Behände kletterte sie die starken Pflanzen hinunter, die sich an der Wand rankten. Sie hatte das schon unzählige Male getan und hätte sogar blind gewusst, wo sie hintreten musste. Ein Glück hatte sie noch die Reiterhose und kein Kleid an. Damit wäre es viel schwieriger und wenn Irin könnte, würde sie jeden Tag in Hosen anstatt in Kleidern herumlaufen. Aber das geziemte sich leider nicht für eine Prinzessin.
Schnurstracks rannte Irin zum Bedienstetengebäude und klopfte an die Tür von Myriams Zimmer. Nicht lange und sie wurde geöffnet. Irin sah noch ein letztes Mal nach, ob auch ja niemand sie gesehen hatte. Ein Schatten huschte in der Dunkelheit am anderen Ende des Korridors vorbei, aber Irin war sicher, sich ihn nur eingebildet zu haben und schlüpfte durch die Tür.
Sofort wurde sie stürmisch umarmt, sodass es ihr fast die Luft aus den Lungen trieb.
"Ich habe dich auch vermisst.", flüsterte sie in Myriams Ohr. Ihre Freundin war gut einen Kopf kleiner als Irin und sie musste sich beugen, um die Umarmung richtig erwidern zu können.
Gemeinsam ließen sie sich auf Myriams Bett fallen. Irin streichelte das dicke Fellknäuel, was darauf lag und prompt fing es an, zu schnurren.
"Erzähl, wie war es draußen?", fragte Myriam aufgeregt. Sie hatte noch nie die Stadt verlassen und fragte das jedesmal.
Bereitwillig erzählte Irin ihr von den Dingen, die sie gesehen hatte und landete schlussendlich auch bei ihrer Begegnung mit Sam.
"Er sieht gut aus für einen des Alten Volkes, findest du nicht?", fragte Myriam sie lächelnd.
Oh ja, das tut er, dachte Irin, behielt es aber für sich und lächelte Myriam nur ebenfalls an.
Sie durfte nicht an ihn denken. Sie würde sowieso einen Alben heiraten müssen und das sicher bald. Sam hatte als einer des Alten Volkes garantiert niemals eine Chance, obwohl er der Einzige war, der Irin bisher jemals interessiert hatte. Das Leben war ungerecht und sie musste sich von Sam fernhalten, bevor sie schlimmstenfalls noch ihr Herz an ihn verlor.
Die restliche Zeit, in der sie noch mit Myriam redete, waren ihre Gedanken getrübt, aber sie ließ es sich mit keiner Faser ihres Seins anmerken.

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