Schreibwettbewerb - 1

Nach vorne schauen. Immer nach vorne schauen. Den Abgrund ignorieren. Das habe ich alles gelernt und trainiert. Es gibt nichts, was ich falsch machen könnte.

Mit zitternden Fingern tastete ich mich an der kalten, glitschigen Felswand entlang. Meine Hände waren kalt und ich musste immer wieder durchatmen, um mich zu beruhigen. 

Der Nebel verdeckte mir die Sicht. Er legte sich wie eine große Decke über mich und den Rest der Welt. In meiner Panik meinte ich, unter dieser Decke keine Luft mehr zu bekommen. 

Es ist alles gut, versicherte ich mir. Das hier ist dir nicht fremd. Du hast das oft trainiert. Du kannst klettern. Alles ist gut.

Aber ganz so recht wollte das nicht funktionieren.

Der Weg führte mich immer im Kreis und immer weiter nach oben, wie eine Art Wendeltreppe. Rechts der Abgrund, links die Felswand versuchte ich, den Weg zu erklimmen. Es war eisig kalt und nass, der Boden war so rutschig wie ein eingefrorener See, und alles, was weiter als einen Meter von meinem Gesicht entfernt war, verschwand im Weiß. 

Vorsichtig setzte ich einen Fuß nach dem anderen auf, darauf bedacht, ja nicht auszurutschen. Ich hielt mich so gut es ging an der Felswand fest. 

Plötzlich brach einige Meter unter mir ein Felsen vom Berg ab. Ich konnte es zwar nicht sehen, aber ich konnte es hören, und es hörte sich nicht gut an. Der Felsen schlug noch ein paar Mal am Berg auf, bis der heulende Wind sein Echo forttrug.

Ich bekam Angst. Ich wollte nicht weiterlaufen. Ein Fehler und ich endete wie der Felsen. Und das wollte ich nicht. Ich wollte so jung nicht so enden.

Jetzt reiß dich zusammen!, zischte eine Stimme in meinem Kopf. Es geht hier nicht um dein Leben. Es geht um das Leben Tausender! Und wenn du versagst, haben alle versagt! Willst du das?

Von meinen eigenen Gedanken angestachelt, atmete ich durch. Ich verdrängte die Angst. Entschlossen setzte ich einen Schritt vorwärts. Immer weiter führte mich der Weg. Ich fragte mich, wie weit es noch zur Spitze des Berges sein würde. Wenn mein Zeitgefühl mich nicht trügte, dann war ich schon über eine Stunde unterwegs. 

Ich hätte mich wärmer anziehen müssen. Der Nebel und die Feuchtigkeit durchnässten mich. Mein braunes Kleid und die Felljacke hingen schlaff, feucht und kalt von meinem Körper und der Wind peitschte mir in das nasse Gesicht, als würden tausend Nadeln in diesem stecken.

Meine Haut war genauso blass wie immer, aber meine Fingerkuppeln waren von der Kälte gerötet und schon wund vom Felsen. Meine braunen Stiefel waren nass, sodass ich meine Socken hätte auswringen können. Meine Hose war viel zu dünn.

Aus meiner Umhängetasche kramte ich meine Lederhandschuhe. Sie waren so ziemlich das teuerste, was ich an Kleidung besaß, aber ich konnte diese Kälte nicht weiter ertragen. Schnell streifte ich sie über.

Es ist nicht mehr weit, sagte ich mir. Du schaffst das.

Aber meine Waden machten schlapp, und meine Gedanken schweiften ab. Es war schwer, Luft zu holen, beinahe schon zu schwer, und je weiter nach oben ich ging, desto knapper wurde der Sauerstoff. Meine Lunge füllte sich nur schwer mit dem lebensnotwendigem Gas.

Das alles wäre nie passiert, wenn man uns nicht verraten hätte.

Ich rutschte ein weiteres Mal aus und konnte mich gerade noch so halten. Ich machte schon jetzt schlapp, dabei lag der schwierigste Teil meiner Mission noch vor mir. Ich war noch lange nicht fertig.

Ein weiteres Mal führte mich der Weg im Kreis. Dann sah ich den lange ersehnten, großen Vorsprung.

Mit letzter Kraft beeilte ich mich, dorthin zu steigen, animiert von meinem Ziel, das nun direkt vor meinen Augen lag.

Schnaufend auf dem Vorsprung angekommen, setzte ich mich erschöpft hin, lehnte mich gegen die feuchte Felswand und ließ meinen Kopf gegen sie sinken. Kurz schloss ich meine Augen und beruhigte meinen schnellen Atem. Ich zählte bis sieben. Auf eins atmete ich ein, auf drei atmete ich aus. Das wiederholte ich mehrere Male.

Dann schlug ich meine Augen wieder auf.

Ich öffnete ein weiteres Mal den Knopf meiner Umhängetasche und kramte einen Ring heraus. Er war silbern, mit schwarzen Details und einem geschliffenem Bernstein in der Mitte. Ich überlegte kurz, ob ich meine Handschuhe wieder ausziehen sollte, entschied mich aber dagegen. Es war viel zu kalt. Den Ring streifte ich daher über den rechten Handschuh.

Kurz glitt meine linke Hand zu dem Ring, dann erinnerte ich mich, was mein Vater mir gesagt hatte. „Er kann Waffen riechen, Alya. Benutze sie weise."

Meine Hand glitt wieder zurück. Ich stand vorsichtig auf und drehte mich langsam mit dem Rücken zum Abgrund. 

Vor mir war ein riesiges Tor in den Stein gemeißelt. Es war ursprünglich nachtblau gewesen, so viel konnte ich erkennen, aber die Farbe war von Wind und Wetter abgetragen worden. Das einzige, was gut zu erkennen war, waren die goldenen Streifen, die in einer Art Fachwerkmuster auf das Tor gemalt worden waren. Das Tor war zweiflüglig, mit großen, goldenen Handknäufen in Form eines Drachenkopfes, der einen Ring im Maul hielt.

Das Tor war spitz zulaufend und aus Holz. Es sah sehr stabil aus.

Wenn du es nicht schaffst, sind alle verloren, sagte die zischende Stimme in meinem Kopf.

Langsam trat ich auf das Tor zu und streckte meine Hand nach den goldenen Drachenhandknäufen aus. Dann gab ich mir einen Ruck und zog heftig an ihnen.

Das Tor ließ sich sehr leicht und ohne weitere Effekte öffnen. Ich hatte anderes erwartet. Mindestens ein leises Quietschen oder Hinderungen beim Öffnen der Tür, aber nein. Es war schon fast so, als wurde ich erwartet.

Mit pochendem Herzen öffnete ich das Tor weiter. Ein goldener Schimmer strahlte mich aus dem Türspalt heraus an. Schließlich siegte meine Neugier. Ich öffnete das Tor ganz.

Mir fiel die Kinnlade herunter. 

Eine riesige Halle mit Ornamenten, Säulen, Veredelungen und vielem mehr war in den Stein gemeißelt. Sie erschien mir größer als der Berg selber, so riesig war sie. Als ich vortrat, hallte jeder meiner Schritte in ihr wieder. 

Und auf dem Boden... Gold. Massenhaft Gold. Goldbarren, Goldmünzen, Goldketten, Goldkelche, Goldtruhen, alles war aus Gold. Einige Dinge, die nicht ganz zum Ambiente passten, ragten aus den Bergen des wertvollen Metalls hervor, wie ein Holzgestell oder weiter hinten ein Schiffsrumpf. Ich war geblendet von dem Glanz des ganzen Goldes und der Größe der Halle. Aber gleichzeitig fing ich an zu zweifeln. Wie sollte ich den Edelstein denn nur in dieser Halle finden?

Alle hingen von diesem Stein ab. Wenn ich ihn nicht hier und jetzt holte, waren wir verloren. Für immer.

Ich überlegte, ob ich das Tor zumachen oder offenlassen sollte. Ich entschied mich gerade dafür, es offen zu lassen, da kam mir wieder die Worte meines Vaters in den Sinn: „Er darf nicht entkommen. Du musst dafür sorgen, dass er nicht entkommt. Ayla. Merk dir das."

Ich schloss widerwillig das große Tor. Mein einziger Fluchtweg war nun versperrt. Sollte mir nur ein Fehler unterlaufen, würde ich diese Halle nie wieder verlassen.

Diese Halle sah an sich nicht gefährlich aus. Aber sie war es. Man merkte es vielleicht an den geschwärzten Skeletten, die hier und da auf dem Boden lagen, vielleicht merkte man es auch an der bedrohlichen Atmosphäre, die dich niederdrückte, oder man merkte es an den unerklärlichen Echos, die wie aus dem Nichts erschienen.

All das hat mit den anderen Menschen zu tun, die hier ihre Ruhe bei dem Versuch, das Gold und vor allem den Edelstein zu klauen, gefunden haben. Die Halle, so sagt man, war so groß, dass sich die Echos ihrer Todesschreie immer noch in der Halle befinden, und hin und wieder zu hören sind. So erzählten es zumindest die Wanderer, die hin und wieder auf ihren langen Wegen in dem Gasthaus meines Vaters für die Nacht unterkamen.

Jedoch war das nur teilweise der Grund. Der andere Grund lag getarnt zwischen dem Gold auf dem Boden. So getarnt, dass er fast nicht zu sehen war. Aber nur fast.

Denn wenn man genauer hinsah, erkannte man zwischen all dem Gold Schuppen. Gigantische Schuppen, die alle auf einem Haufen zu liegen scheinen. Fährt man mit den Augen die Schuppen entlang, sieht man goldene, rissige lederähnliche Fetzen zwischen dem Gold liegen. Und fährt man diese mit den Augen noch weiter nach oben, sieht man riesige, goldene Stachel. Riesige, goldene Zähne. Riesige, goldene Augenlider.

Und betrachtet man das alles als Gesamtbild, dann sieht man einen riesigen, goldenen, schlafenden Drachen.

Den Drachen.

Mein Herz klopfte so laut, dass man schon leise Echos hörte. Aber das war meine Mission. Ich durfte jetzt nicht aufgeben. Ich musste an diesen Edelstein ran.

Laute Geräusche vermeidend schritt ich voran. Ich trat vorsichtig auf das Gold. Die Münzen klimperten unter meinen nassen Schuhen. Sofort haschte mein Blick zu dem Drachen. Er schlief immer noch. Ich atmete beruhigt aus. Ich setzte einen Fuß vor den anderen. Manchmal trat ich auf Goldtruhen, ein andermal auf Holzbretter, die hier zwischen dem Gold herumlagen, um Lärm zu vermeiden. Das letzte, was ich wollte, war, dass der Drache aufwacht und ich wie alle anderen vor mir mit einem Todesschrei in dieser Halle ende.

Langsam aber sicher kam ich dem Drachen näher. Ich wusste immer noch nicht recht, wo ich nach dem Edelstein suchen sollte. Er war bernsteinfarben, wie meine Augen, und zwischen dem ganzen Gold nicht zu erkennen. Egal. Ich wollte erst einmal eine möglichst hohe Position erreichen, um einen Überblick über die Halle zu bekommen.

Die Holzplatte, auf der ich stand, führte mich wie eine Rampe nach oben. Ich folgte ihrem Weg, meine Absätze klackerten leise. Etwa eineinhalb Meter unter mir war der Schiffsrumpf, den ich schon vom Tor aus gesehen hatte. Ich sprang, landete so leise wie eine Feder auf dem Boden und rollte mich ab. Dann stand ich wieder auf und strich mir die goldbraunen, gewellten Haare aus den Augen.

Ich stand nun genau vor dem Drachen. 

Mein Atem ging wieder schneller. Ich war wie erstarrt bei seinem näherem Anblick. Er war einfach gigantisch, größer als jeder andere Drache, den ich je in meinem Leben gesehen hatte. Ich wagte es nicht, mir vorzustellen, wie groß er wäre, wenn er sich aufsetzen würde.
Ich war immer noch auf der Suche nach dem Edelstein. Wo war er nur?

Meine Augen huschten hin- und her, suchten die Goldberge ab – doch sie fanden nichts. Ich blickte zu Boden, kurz davor, aufzugeben.

Bis mir urplötzlich ein Gedanke kam.

Natürlich hatte niemand den Edelstein bisher gefunden. Er würde niemals einfach nur in der Halle herumliegen. Er war bewacht. Ganz sicherlich. Bewacht von dem Drachen.

Die einzige Möglichkeit, an den Edelstein heranzukommen, war also...

Jetzt verstand ich, wieso so viele gescheitert waren. Mit großen Augen und kreidebleichem Gesicht starrte ich den Drachen an.

"Das Leben Tausender hängt von dir ab, Ayla", zischelte die Stimme in meinem Kopf. „Er kann Waffen riechen, Ayla", mischte sich die Stimme meines Vaters ein. Die Stimmen wiederholten ihre Worte immer und immer wieder und vermischten sich zu einem Stimmengewirr, aus dem ich nur noch meinen Namen heraushören konnte. Ayla.

Ich schloss die Augen. Sterben würde ich irgendwann sowieso. Die Frage war, wofür.
Meine linke Hand glitt zu dem Ring an meiner Rechten. Ich umfasste den Ring mit den Verzierungen und dem Bernstein in der Mitte. Dann gab ich mir einen Ruck und drehte ihn. Es machte klick und wie aus dem Nichts wurde aus dem Ring ein großes, silbernes, zweischneidiges Schwert mit glänzender Klinge und Verzierungen. Ich hielt es mit zitternden Händen. Ich wartete zwei Sekunden.

Plötzlich bewegten sich die Nüstern des Drachen. Sie zogen die Luft ein und stießen sie wieder aus, es klang unscheinbar bedrohlich. Er kann Waffen riechen.

Dann fuhr das Ungeheuer die riesigen Klauen aus. Die Schuppen bewegten sich, die ledrigen, rissigen Flügel spannten sich auf und der Drache erhob sich aus seinem Schlaf. Er hob seine riesigen Augenlider und zum Vorschien kamen stechende, rote Augen, die mich ununterbrochen anstarrten. Er stellte sich auf seine beiden Beine. Und tatsächlich – unter ihm lag der glänzende, faustgroße Edelstein. Sein funkelndes, übernatürliches Licht fiel mir deutlich ins Auge.

Der Drache starrte mich an. Dann stieß er ein heftiges, lautes Brüllen aus, dass so laut in der Halle wiederhallte, dass ich dem Drang widerstehen musste, mein Schwert fallen zu lassen und mir die Ohren zuzuhalten. Mein Herz raste, ich wollte kaum noch stehen, und doch hob ich das Schwert und sah dem Drachen in die Augen.

Ein letzter Kampf. Entweder ich verließ ihn als Gewinner, oder ich endete als Verlierer.

Ich war bereit.



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Entstanden aus dem Schreibwettbewerb von bookloving_ruby.

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