Mio IV - Fallen ist wie Fliegen

Ein Rucksack traf Mio  unsanft an der Schulter, sodass Es sogar ein wenig zurücktaumelte und  gegen das Holz der Eingangstür gedrückt wurde.
Es blieb angelehnt  stehen. Die Schüler strömten trappelnd und plappernd vorbei. Irgendetwas  war mit einer Tür. Es versuchte angestrengt, sich zu erinnern, aber Mio  fühlte sich wieder wie im Nebel.
Es musste länger dort gestanden  haben, als gedacht, aber das war nichts Neues für Mio. Im Nebel verging  die Zeit anders. Die Schulglocke läutete.
Mio fiel auf, dass Es gar nicht wußte, wo Es hinmusste und welches Fach als erstes auf dem Plan stand.

Es erklomm die wenigen Stufen zu den Aushängen und warf einen Blick auf die angehefteten Blätter. Sport. Sonst nichts.
Mio  seufzte. Das war nicht gerade Es Lieblingsfach, besonders wenn Spiele  gefordert waren, bei denen man sich gegenseitig mit einem Ball  abschießen, oder wenn man sich schmerzhaft um irgendwelche Stangen  wuchten musste. Mio fehlte dafür oft die Kraft.

Es ging hinunter zu den  Umkleideräumen, in denen jahrzehntelang Schüler eine Note von sauerem  Schweiß und die Duschen den Geruch von abgestandenem Wasser und  brennendem Laub hinterlassen hatten.
Selbstverständlich fanden sich  die Turnsachen im Rucksack und Es zog sie langsam an. Die anderen  Schüler waren wahrscheinlich schon nach oben gegangen und warteten vor  der Halle.

So war es auch. Nachdem Mio sich fertig umgezogen hatte, schloss Es sich der Klasse zum Unterricht an.
  Ein älterer Lehrer in ballonseidener Trainingskleidung erklärte,  nachdem sich alle auf die Holzbänke an einer Wand der Halle gesetzt  hatten und die Gespräche verstummt waren, dass sie heute mit den Seilen  arbeiten würden. In einer der nächsten Stunden sollte dann eine Note für  eine einstudierte Übung erteilt werden.
Diese Ankündigung hatte allgemeines Gemurre zur Folge, denn wirklich gern übte keiner mit dem Springseil.
Irgendeiner  fragte, ob sie nicht lieber Basketball spielen könnten, was  zustimmendes Geraune von der Bank und ein deutliches Nein aus Richtung  der Ballonseide zur Folge hatte.

Nachdem sie die Seile,  die aus einfachen, zur Mitte hin dicker werdende Baumwollkordeln  bestanden, die schon von mehreren Generationen von Schülern benutzt  worden waren, aus einem der Schränke geholt hatten, begannen die  Aufwärmübungen.
Danach zeigte der Lehrer ihnen ein paar Techniken, die sie üben sollten.
Mios  Körper folgte den Anweisungen mechanisch, während Es Gedanken immer  wieder davonglitten. Zum Schluss durften sie mit den Seilen und ein paar  Bällen und Ringen frei üben, um ihrem Bewegungsdrang Raum zu geben, wie  der Lehrer es formulierte.
Mio knotete gelangweilt einen der  schweren Wurfringe an das eine Ende des Seils und lies ihn dann lustlos  herumschlingern, während Es auf den Matten saß und darauf wartete,  endlich gehen zu dürfen. Es hatte zum wiederholten Mal das drängende  Gefühl, sich an etwas erinnern zu müssen, ohne es zu können.
Während  Mio den Ring hierhin und dorthin zerrte, fiel Es eine andere Gelegenheit  ein, bei der Es an einem ähnlichen Seil gezogen hatte. Damals war Es  ein paar Jahre jünger.
Nur war am anderen Ende der Schnur kein Ring gewesen, sondern eine junge Katze.

Mio war bei den  Großeltern auf dem Dorf zu Besuch gewesen, die am Ende einer kleinen  Siedlung in einem der letzten Häuser lebten.
Es hatte sich immer eine Katze gewünscht, aber die Eltern hatten nie zugestimmt.
Auf  dem Land war eine Katze jedoch weniger ein Problem und nachdem Es  mehrer Monate darum gebettelt hatte, wurde Mio schließlich ein Tier bei  den Großeltern erlaubt.
Diese wollten ohnehin wieder eine Katze haben, denn ihre alte war vor einiger Zeit gestorben.
Die  Neue sollte aber ausdrücklich nicht der Oma gehören, sondern Mio, auch  wenn die Großeltern sie bei sich wohnen lassen würden.
Eines Tages in  den Sommerferien, nahm die Großmutter Es mit zu einem Bauern in der  Nähe, bei dem die Hofkatzen vor kurzem Junge bekommen hatten. Es suchte  sich eine aus, nachdem der Bauer sie mit etwas Milch angelockt hatte und  trug sie in einer großen Kunstledertasche mit zwei kurzen Henkeln nach  Hause.
Die Katze war schneeweiß und wunderschön. Mio hatte sofort gewußt, dass es nur diese sein konnte.
Es  wollte sich nicht mehr von dem Tier lösen und beobachtete es die ganze  Zeit, während die Katze ihr neues Heim erkundete. Damals war Es so  glücklich wie selten gewesen.

Vor dem Haus der Großeltern führte eine schlechte Straße entlang und das Ortsschild war nicht weit entfernt.
Oft  donnerten LKWs oder Autos zu schnell vorbei, weil sie die  Geschwindigkeit noch nicht verringert hatten. Manchmal konnte man des  Quietschen der Aufhängungen hören, wenn einer zu rasant durch eines der  kraterartigen Schlaglöcher fuhr. Mio erinnerte sich, große Angst gehabt  zu haben, der Katze könne etwas zustoßen. Es fürchtete das Ende der  Ferien, wenn Es abreisen müsste und nicht mehr über den neuen Freund  wachen könnte.
Das Gefühl war so stark, dass Es sich manchmal nachts  hinunterschlich, um zu sehen, ob sie auch tatsächlich im Haus und  wohlbehalten war.
Die Erwachsenen taten diese Sorge ab, schließlich  war das Tier ein Freigänger und überhaupt, wenn es passierte, passierte  es eben, so wäre der Lauf der Welt.
Mio konnte nicht hinnehmen, dass  etwas so fundamentales, wie der Tod einer Katze, einfach so geschehen  konnte. Es war sich sicher, dass die Welt anhalten und die Zeit  stillstehen würde, und sie alle gefangen wären im Moment des Verlustes.

Deshalb setzte Mio für  den Rest der Ferien alles daran, der Katze beizubringen, dass sie nur  bis zur Hausecke, aber keinen Tatzenschlag weiter gehen dürfe.
Es belohnte sie mit Leckerlies, wenn sie sitzen blieb und schimpfte, wenn sie näher zur Straße ging.
Einmal  holte Es ein Seil, ganz ähnlich dem Springseil, dass Es in der  Turnstunde benutzte, um daraus eine Leine für die Katze zu basteln.
Mio wollte ihr damit begreiflich machen, auf keinen Fall weiterzugehen, als bis zu dem Punkt, den Es für ungefährlich hielt.
Das  Ende des Urlaubs war bereits in bedrohliche Nähe gerückt und sie hielt  sich noch immer nicht zuverlässig von der Straße fern, lagen doch auf  der anderen Seite die Felder und die Behausungen von allerlei  Kleingetier.
Eine Art Hundeleine wollte Es herstellen, hatte  allerdings kein richtiges Halsband zur Verfügung. Die Erwachsenen würden  soetwas auch nicht bezahlen und deshalb knüpfte Mio schließlich eine  Schlinge an einem Ende des Seils. Es achtete gut darauf, alles fest zu  verknoten, damit sich die Schlinge nicht würde zusammenziehen können,  wenn Es sie der Katze um den Hals legte und diese daran zog.
Das Tier besaß ein gutmütiges Naturell und kannte das kleine Kind, dass sich ständig in seiner Nähe aufhielt, mittlerweile gut.
Sie lief ein wenig herum und Mio folgte ihr, das Seil in der Hand, sodass die Katze Mio führte und nicht anders herum.
Schließlich steuerte sie auf die Hausecke zu und machte keine Anstalten, stehenzubleiben.
Mio  zog sanft an der Leine. Die Katze hielt kurz inne und versuchte dann  erneut ihrem Ziel zuzustreben, das sich offenbar in Richtung der Strasse  befand.
Es hielt die Schnur fest.

Weil Mio ein Kind war  und nichts davon verstand, Knoten zu knüpfen, zog sich die Schlinge  trotz der Sorgfalt, die Es aufgewendet hatte, zu.
Die Katze reagierte darauf, indem sie noch heftiger zog, worauf ihr die Schlinge ins Fell schnitt und sie zu würgen begann.
Ein  Teil von Mio wollte sich schnell niederknien und die Schlinge  entfernen. Ein anderer beobachtete die Bewegungen des Tieres mit weit  aufgerissenen Augen und blieb einfach stehen, das Seil in der Hand, ohne  den Zug zu verringern. Die Katze hustete und würgte, während ihre Augen  schon hervortraten. Als sie schließlich, auf die Vorderpfoten gestützt,  mit offenem Maul hechelnde Geräusche machte, die klangen, als würde man  mit Sandpapier immer wieder kurz über eine Wand kratzen, schrak Mio  hoch und befreite sich aus den Fängen des Teils von Es, der Es bis eben  gefangen gehalten hatte. Diesen Teil verbarg Mio anschließend sorgfältig  in einer entfernten und dunklen Ecke des Kopfes, um ihn nie wieder  anzurühren.
Es befreite die Katze aus der Schlinge, drückte sie an  sich und flüsterte Erklärungen und Trost in ihr weiches, warmes, weißes  Fell. Der Teil, der jetzt hinten in Mios Kopf wohnte, wußte, dass diese  Worte eher Mio selbst galten, als dem Tier.
Es hatte nie gewagt, jemandem davon zu erzählen.

Einige Wochen nach dem  Ende der Ferien, als Es längst wieder zu Hause war und die Schule wieder  begonnen hatte, nahm die Mutter Es an einem Nachmittag zur Seite. Die  Großeltern hätten angerufen, Mios Katze sei auf die Straße gelaufen und  überfahren worden.

Es klingelte. Der Ton  riss Es unsanft in diesen Tag zurück. Die Stunde war vorüber und alle  verließen schwatzend und in kleinen Gruppen die Turnhalle. Mio räumte  das Seil und den Ring auf und ging dann auch hinunter, um sich wieder  umzuziehen.
Von den Umkleiden führte ein Weg direkt in den Speisesaal und eine Tür kurz davor nach draußen, auf den Hof.
Im  Saal saßen nur wenige Schüler und es gab keine Schlange vor der  Essensausgabe. Offenbar war es bereits Nachmittag und bald Zeit, nach  Hause zu gehen.
Mio blieb irritiert stehen, gerade als Es die Hand  auf die Klinke der Tür in den Hof gelegt hatte und sich schon  dagegenlehnte, um sie knarrend zu öffnen.
Da war noch eine andere Klinke, um die Es sich Gedanken machen sollte.
Und eine andere Tür.

Ungeduldig drückte Es  gegen das schwere Holz, beinahe bekümmert, weil der Gedanke sich wieder  und wieder nicht zu Ende führen ließ, wo Gedanken doch das Einzige  waren, über das Mio eine gewisse Kontrolle ausüben konnte.
Auf dem  Hof waren einige Kinder, aber weiter hinten, an die große Linde gelehnt,  stand der blonde Junge, den Mio aus den eigenen Kindertagen kannte.
Der  Name des Blonden bereitete ein wenig Mühe, aber während Es sich ihm  näherte, leuchtete er allmählich in Es Kopf auf, wie ein dunkles Zimmer,  in dem man langsam ein Licht immer heller drehte. Thomas. Sein Name war  Thomas. Mio wünschte, der Lichtschalter würde sich immer so leicht  finden lassen.

„Hi." lächelte Thomas Es entgegen. „Schön dich zu sehen. Hast Du's heute schon hinter dir?"
„Ähm.  Ja, ich glaub' schon.", erwiderte Mio und gab das Lächeln zaghaft  zurück, während Es sich eine Strähne hinter das Ohr schob.
„Was hast  du zu Essen dabei? Ich hab' wieder Käse.", erzählte der Junge, ohne  gefragt worden zu sein. „Wollen wir tauschen? Diese ewigen  Wiederholungen können ganz schön nerven, weißt du?" Thoma sah Mio  erwartungsvoll an.
„Klar. Ich guck' mal." Mio kramte in dem Rucksack  herum und zog schließlich eine Tüte mit Marmeladenbroten hervor. „Gehen  die klar?" Es hielt Thomas die Toastscheiben hin.
„Auf jeden!", war die erfreute Antwort.
Sie kauten eine Weile still nebeneinander.
Schließlich nahm der Blonde das Gespräch wieder auf: „Wolltest du mich nicht was wegen der Türen fragen?"
Mio stutzte. Hatte Es die Türen überhaupt erwähnt?
„Ich  weiß nicht genau. Irgendwie...Ich glaube ich hab' versucht rauszugehen,  aber die waren zu.", erinnerte sich Es, noch während die Worte  gesprochen wurden.
Das Gefühl eines Déjà-vus senkte sich über Mio, wie eine Tuch aus Gaze.
Der Andere zuckte mit den Schultern. „Na, es wird abgeschlossen, wenn alle da sind. Dann ist Unterricht."
„Aber das war später. Ich wollte nach Hause und dann ging die Tür nicht auf."
Das  unbestimmte Empfinden, all diese Worte schon einmal gesagt zu haben und  schon einmal hier gestanden zu haben, verstärkte sich.
„Wenn zu ist, ist Unterricht. Du kannst ja eh nicht nach Hause, also wozu offen lassen?", fragte Thomas.
„Es war aber kein Unterricht mehr, verstehst Du?"
„Kann  ich mir nicht vorstellen.", erwiderte der Andere. „Aber wenn es wieder  ist, geh' doch mal zum Hausmeister. Der ist meistens unten im  Heizungsraum. Der hat da einen kleinen Tisch und 'ne Kaffeemaschine."
Der Heizungsraum. Etwas war im Heizungsraum geschehen.
„Du,  ich muss los. Ich mach' das; ich frag' den Hausmeister. Wir sehen uns."  Mio hob zum Abschied die Hand und ließ Thomas unter dem Ginko mit dem  Rest seiner Brote zurück.

Über dem Weg hing der Geruch von brennender Holzkohle.
Das Ziel war vom Hof aus schnell erreicht.
Hinter  der Tür des frisch renovierten Raumes stand ein Schreibtisch, auf dem  der Hausmeister offenbar seinen Papierkram zu erledigen pflegte. Davor  wartete ein Mädchen, das Mio vage bekannt vorkam.
„Oh, hi! Da bist du ja wieder.", strahlte sie Es entgegen.
Das Gefühl des Déjà-vus war jetzt so stark, dass Mio die Welt an sich vorbeigleiten sah, als würde Es fliegen.
„Ich...hi.", brachte Es hervor.
„Ich bin Vada, weißt du noch? Ist nicht schlimm, wenn nicht. Später wird dir sowas gleich wieder einfallen."
Die neuen Neonröhren gaben ein leises Summen von sich.
„Ich  wollte...", Mio versuchte sich zu erinnern, warum Es hier war, „...ich  wollte einen Schlüssel. Für die Türen. Die Eingangstüren."
Vada mustere Es neugierig. „Warum? Du bist doch schon drin."
„Wie meinst Du das?", frage Mio. Es Verwirrung begann sich mit einer unbestimmten Unruhe zu mischen.
In diesem Moment kam der Hausmeister aus der Dunkelheit zwischen den Kesseln hervorgewatschelt.
„Ah,  Vada.", sagte er, „Hier ist dein Schlüssel. Bring ihn aber wieder  zurück. Ich will ihn nicht irgendwo auf einem Gang finden müssen, hörst  du?"
„Danke, Herr Polchinsky." erwiderte Vada und wandte sich wieder  Mio zu. Das Gefühl zu fliegen hatte sich mit dem Erscheinen des  Hausmeisters jäh verwandelt und glich nun mehr einem, das man im freien  Fall haben mochte. Schwindel überkam Es.
„Du siehst blass aus. Geht's  dir gut?" Ihre Stimme klang besorgt. „Vielleicht solltest Du mal zum  Vertrauenslehrer gehen, dort kannst du dich auch hinlegen."
Mio  atmete tief ein und aus. Es durfte nicht anfangen zu hyperventilieren.  Das konnte zur Ohnmacht führen, hatte Es irgendwo irgendwann gelesen.
„Weißt  Du, Fallen fühlt sich manchmal wirklich wie Fliegen an." Vada sah  verträumt in eine Ferne, die nur sie wahrnehmen konnte und lächelte ein  seltsam ungefähres Lächeln.
„Was?", fragte Mio scharf.
„Bis später.", verabschiedete sich das Mädchen, als hätte es Mios Frage nicht gehört.
Im Gehen drehte sie sich noch einmal um. „Manchmal auch wie Schwimmen. Frag' mal Thomas!"
Sie schenkte Mio noch einen langen Blick, verschwand aber durch die Tür, bevor Es noch etwas erwidern konnte.
Der  Hausmeister sah ihr ebenfalls nach, dann wandte er sich an Mio:  „Versuchen wir es heute nochmal. Was willst Du?" Das klang weder  besonders freundlich, noch ausgesprochen barsch.
„Ich, ähm...",  murmelte Es und versuchte sich zu sammeln. Die einzige Neonlampe  flimmerte und gegen das Licht der Tür konnte man das Tanzen von  Staubpartikeln beobachten.
„Die Türen.", brachte Es schließlich  hervor. „Ich brauche einen Schlüssel für die Eingangstüren, sonst komme  ich nicht nach Draußen."
Der Hausmeister musterte Es durch die Gläser  seiner Goldrandbrille und schien irgendetwas in seinem Mund hin und her  zu schieben, wodurch sein Schnauzbart in Bewegung geriet.
„Kann ich dir nicht geben. Den hattest Du schon und warst schon draußen. Versuch's mal am anderen Ausgang."

Bei diesen Worten versank Mio wieder in Dunkelheit.

(Ende des Fragments)

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