Mio I - Der erste Tag ist immer der Schlimmste

Es erwachte.

Die ersten Momente nach dem Aufwachen waren Mio die liebsten. Bevor das Gehirn sich daran erinnerte, wer man sein, wohin man gehen und was man tun sollte.
Das waren die kostbaren Sekunden eines jeden Tages, in denen Es sich ‚am da-sten' fühlte.
Sobald man die Augen aufschlug, konnte man die Welt nicht mehr ausschliessen und gegen diese schien Es immer einen unsichtbaren Wettkampf zu verlieren, wer ‚mehr da' war. Mio schien nie so massiv zu sein, wie Es sollte.

"Schultag", blinkte im Kopf auf. Heute ging die Schule wieder los. Der Geruch von schwelender Holzkohle stieg Es in die Nase.
Mio musste selbst aufstehen. Nur der Wecker hatte Es piepsend geweckt, denn die Eltern waren für ein sehr langes Wochenende verreist und würden erst am Mittwoch zurückkommen.
Beide hatten gezweifelt, ob sie zu Beginn des neuen Schuljahres wegfahren sollten, aber hatten sich schließlich doch dazu durchgerungen, Mio die Sache allein zu überlassen. Immerhin würde Es im Winter sechzehn werden und verhielt sich im Großen und Ganzen unauffällig.

Überhaupt gab es nicht viel Auffälliges an Mio: Da waren die dunklen, fast schulterlangen Haare, die weder besonders dick, noch besonders glänzend waren, auch der Körper war hager und offenbar noch vollauf mit den Veränderungen beschäftigt, die Körper auf dem Weg zum Erwachsen-Sein durchmachen.
Mio zeichnete sich auch nicht durch besondere Größe aus. Weder erging es Es wie Alexander, der zwei Tische weiter vorn, fast direkt vor dem Lehrertisch saß und den man von hinten oft mit einem viel jüngeren Kind verwechselte, weil er so klein war, noch überragte Es die Klassenkameraden, wie Sarah, die am Tisch rechts neben Es saß und gern ihre Hefter bemalte.

Endlich öffnete Mio die Augen und wühlte sich aus der Emoji-Bettwäsche, die ein Geschenk der Oma zum letzten Geburtstag gewesen war.
Es schlurfte ins Badezimmer, schaffte es, sich unter die Dusche zu stellen, ohne einen genaueren Blick in den Spiegel zu werfen und brachte auch das Zähneputzen ohne Zwischenfälle hinter sich.
Dann erst fand Es den Mut, sich genauer im Badezimmerspiegel zu betrachten.

Immerhin, die Haut war heute ganz gut. Keine besonderen Vorkommnisse, ein seltener Glücksfall, besonders am ersten Tag des neuen Schuljahres.
Die Haare nahmen schnell ihren üblichen Mittelscheitel an. Mio hatte am Tag zuvor einige Experimente mit ihnen angestellt, hatte sich in Anbetracht der erzielten Ergebnisse aber dafür entschieden, heute keines davon zu wiederholen.
Die Kleidung war kein Problem, denn sie war bereits gestern vorbereitet worden, damit Es sich heute mit dieser Frage nicht mehr herumschlagen musste. Sie führte regelmäßig dazu, dass Es zu spät kam.
Manchmal verhinderte eine Entscheidung wie diese, oder ein aufblühender Pickel sogar, dass Es das Haus verlassen konnte. Das Internet hatte dazu das passende Meme parat: „Weil heute ein guter Tag ist, um zu Hause zu bleiben und andere urkomische Witze, die du dir selbst erzählst."

Sich selbst Witze zu erzählen, die überhaupt nicht witzig waren, gehörte zu Mios besonderen Talenten. Ein weiteres war Es fast sicheres Gespür für Antworten, die Es geben sollte.

Wurde Mio beispielsweise gefragt, wie es in der Schule so liefe, so konnte Es sich dabei beobachten, genau mit der richtigen Mischung aus Lamentieren und Abwiegeln zu reagieren, die den Frager davon überzeugte, dass Es ein ganz normaler Jugendlicher war. „Naja, Mathe und Englisch, aber die letze Arbeit war okay, Geschichte macht Spaß, das Übliche halt, läuft."

Da niemand da war, der es hätte verbieten können, ließ sich Mio vom De'Longhi Vollautomaten mit Milchaufschäumdüse und Kegelmahlwerk einen Kaffe aufbrühen.
Milch war keine im Haus und nach einem ungeschriebenen Gesetz war ohnehin "schwarz und bitter" die einzig mögliche Art und Weise ihn zu trinken.

An diesem ersten, ungewöhnlich kühlen Tag des neuen Schuljahres, gelang es Mio, trotz, oder vielleicht doch besser wegen, der Abwesenheit der Eltern das Haus rechtzeitig zu verlassen.
Die Fahrt zur Schule verlief weitestgehend ereignislos, auch wenn die vollständige Abwesenheit von anderen Menschen, außer dem Fahrer und in Folge dessen der Mangel an Geschehnissen an einem Morgen unter der Woche, bereits eine Art Ereignis war.
Selbst auf dem Weg zwischen der Haltestelle und der Schule traf Mio niemanden, in der Luft hing der Geruch eines dieser modischen Holzkohleöfen, die sich einige Menschen zur Zeit einbauen ließen.
Nicht einmal vor dem Tor lungerte jemand herum. War es doch später als gedacht? Es beschleunigte seine Schritte ein wenig und betrat das Gebäude.

Die schwere Holztür mit dem gläsernen Einsatz im oberen Drittel knarrte und erzeugte einen leisen Knall, als sie wieder ins Schloss zurückglitt, obwohl sie von einer unsichtbaren Kraft gebremst wurde.
Der Flur war voller Schüler. Es war also noch nicht zu spät, sonst wären alle in den Klassenzimmern gewesen.
Der rauschende Lärm des Gewusels ergoss sich durch das steinerne Gebäude und wurde durch gelegentliches Schlagen der in die Jahre gekommenen Holztüren zu den Zimmern ergänzt.

Mio versuchte, ein bekanntes Gesicht in der Menge auszumachen, aber Es konnte keines entdecken. Überhaupt, war keiner der Schüler bekannt.
Der Teil von Es, der sich fast immer im Hintergrund hielt, der, der auch immer wußte, welche Antwort gerade gefordert wurde, schien sich unbehaglich zu fühlen, als wäre etwas nicht, wie es sein sollte. Was das war, schien in greifbarer Nähe zu liegen, zog sich aber immer zurück, wenn man versuchte, sich drauf zu konzentrieren.
Der Rest von Mio glitt durch die Welt des Schulhauses wie er das auch an allen anderen Tagen, soweit die Erinnerung zurückreichte, getan hatte.

Als Es gerade die steinerne Treppe zum zweiten Stock hinter sich gebracht hatte, winkte jemand, kurz bevor der Flur durch eine Glastür nach rechts zu einer langen Reihe von Klassenzimmern abbog.
Mio meinte vage den Jungen zu kennen. Er war kleiner und jünger als die meisten, hatte blondes, kurzes Haar und ein offenes Gesicht.

„Hey, schön dich zu sehen! Man, das ist ja eine Ewigkeit her." Er zog das E von „Ewigkeit" etwas in die Länge.
„Ja, ähm. Klar. Hi.", brachte Mio hervor. Es gab eine Erinnerung zu diesem Jungen, Es musste sie nur finden.
„Du hast keine Ahnung, wer ich bin, stimmt's?", lachte der Andere. „Wir haben uns fast jeden Tag gesehen, ey! Auf dem Spielplatz im Park. Weißt du's jetzt?"
Mio erinnert sich nur an einen Park und an einen Spielplatz. Das war tatsächlich ewig her, damals war ein rotes Laufrad noch das größte Glück gewesen.
Dort hatte ein blonder Junge, etwa in Mios Alter oft im Sandkasten Löcher gegraben. Es hatte mitgeholfen und sie hatten versucht, bis auf den Grund zu kommen, waren immer weiter in ihren selbstgegrabenen Löchern verschwunden, bis sie sich schon längst durch den Sand hindurch, in braune Erde gebuddelt hatten. Eines Tages hatte sich eines der Löcher sogar mit Wasser gefüllt und Mio hatte eine unbestimmte Angst vor dem Ertrinken gefühlt.
„Das Wasser?", fragt Es.
Irgendetwas war irritierend an dieser Unterhaltung, aber wie manchmal beim Versuch Nahaufnahmen mit dem Smartphone zu machen, ließ sich diese Irritation nicht scharf stellen.
„Genau!" Bevor der Junge noch etwas hinzufügen konnte, klingelte es.
„Wir seh'n uns, bis später! Der erste Tag ist immer der Schlimmste.", sprudelte der Andere noch hervor, während er schon in der Menge in Richtung seines Unterrichts verschwand.
„Ja, cool, dass du jetzt auch hier bist. Ich helf' dir beim Einleben, wenn Du willst.", rief Mio dem Kinderfreund hinterher.
Der drehte sich noch einmal halb um und sah Es direkt an, während er von der Woge der Schüler weitergedrängt wurde.
„Wieso einleben? Du bist doch neu hier!"
Dann wurde der Junge die Treppe hinuntergespült und verschwand aus Mios Blickfeld.

Ein Geruch nach brennenden Holzpellets zog auf. Offenbar begann irgendwo noch jemand zu heizen.

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