Der Spatz

Heute habe ich einen toten Vogel auf dem Dachboden gefunden.

Ich wollte einige  Sachen, die schon längst nicht mehr nur begannen sich aufzutürmen,  sondern schon mittendrin waren, im sich Stapeln, im sich  Übereinanderlegen und Haufen bilden, nach oben schaffen.
Die schmale  Leiter, deren Konstruktion mir jedes mal auf's Neue Bewunderung abringt,  weil sie sich millimetergenau, ohne anzuecken, aus der Luke ziehen  lässt, um sich dann ganz zu entfalten und exakt einen halben Zentimeter  vor dem Regal auf dem Boden zu stehen zu kommen, war bereits  ausgeklappt.
Mit einer ersten, leichten Kiste, die lauter Dinge  enthielt, die ich zwar nie wieder brauchen würde, von denen ich mich  aber noch nicht gänzlich trennen konnte, stieg ich nach oben.
Ich  bewegte mich langsam und hielt mich sorgfältig mit einer Hand an der  Leiter fest, bis ich meinen Körper durch die Luke geschoben hatte und  den Lichtschalter an einem Balken über meinem Kopf erreichen konnte.
Das  Licht flimmerte auf und die Neonröhre begann leise zu summen. Nachdem  ich vollständig hinaufgestiegen war, fand die kleine Kiste auf der  schmalen linken Seite des Dachbodens einen vorläufigen Platz.
Wie  immer wollte ich zuerst die Lage inspizieren, mich halb wohlig, halb  schaudernd daran erinnern, was ich hier oben gelagert hatte und  nachsehen, ob es augenscheinliche Schäden, wie Wasserflecken gab.
Bis auf ein paar  Spinnweben erkannte ich nichts Neues, wie es an einem solchen Ort auch kaum anders zu erwarten gewesen war.
Mein  letzter Blick über den Fußboden, bevor ich wieder nach unten steigen  würde, um mehr Kisten herauf zu schaffen, blieb an der Kante des  ausrangierten Teppichs, der dort seine letzte Wirkungsstätte gefunden  hatte, hängen.

Genau in deren Mitte lag ein Spatz.

Es war Männchen mit grauem Bauch und braunen, schwarz abgesetzten Flügeln.
Ruhig  lag er da, wie ein Tropfen, der gefallen, aber nicht zerflossen war.  Sein Gefieder schien glatt und intakt, nichts deutete auf eine  Verletzung, der er sich ergeben hatte, oder eine Krankheit hin.
Er war recht groß, vielleicht ein altes Tier, das, wer weiß wann und wer weiß wie, auf den Dachboden geraten war.
Ich  hielt das Fenster ständig geschlossen, seit ich einmal einen größeren  Wasserschaden verantworten musste, weil ich es geöffnet und dann  monatelang vergessen hatte.
Ich betrachtete ihn eine Weile und  beschloss endlich, nach unten zu steigen, um Handschuhe und eine  Mülltüte zu holen und den toten Vogel damit aus dem Haus zu befördern.
Ich  stieg hinunter und ging in die Küche, in der ich zu verschiedenen  Zwecken eierschalenfarbene Einweghandschuhe aufbewahrte und in der sich,  selbstverständlich, auch Mülltüten befanden.
So ausgestattet erklomm ich die Leiter zum Zweiten mal.
Die  Handschuhe wehrten sich wie üblich etwas gegen das Überstreifen, doch  schließlich gelang es und ich schwenkte die Tüte ein paar Mal hin und  her, damit sie sich in der Luft blähte.
Dann hockte ich mich nieder und griff nach dem Spatz. Er fühlte sich weicher an, als ich es erwartet hatte.
Er  war leicht. Unwirklich leicht. Wie konnte etwas, das gelebt hatte, so  leicht sein? Müssten nicht seine Erinnerungen und die Länge der  durchflatterten Tage und Nächte an ihm haften bleiben wie Staubkörner  und sich verdichten und ihn schwerer werden lassen, allmählich, mit  jeder verlebten Stunde?
Ich hob den toten Vogel auf und legte ihn in  meinen Müllbeutel. Diesen drehte ich langsam in der Mitte zu, wie ich es  auch sonst zu tun pflege.
Dann stieg ich wieder nach unten und ging nach draußen.

Mit meiner Fracht  bewegte ich mich in Richtung der Mülltonnen, die ganz hinten im Garten  untergebracht waren, wo ihr Geruch im Sommer niemanden störte.
Unschlüssig stand ich vor ihnen.
Da  ich es nicht über mich brachte, den Spatz seine letzte Reise in einer  Mülltonne antreten zu lassen, ging ich mit ihm zurück zum Schuppen,  holte eine kleine Schaufel und trug ihn dann zur Weißdornhecke, um ihn  zu vergraben.
Ich bohrte und schaufelte eine Loch, von dessen Tiefe ich annahm, daß sie wohl genügen würde.
Dann holte ich den Spatz aus seiner Tüte und legte ihn in ein Nest aus Erde.
Ich  schaufelte den Aushub in das Loch, drückte alles noch ein wenig fest  und entsorgte anschließend die Utensilien in der Mülltonne. Die Schaufel  brachte ich zurück in den Schuppen und schloss die Tür.

Im Frühjahr würde der  Hagedorn als einer der ersten blühen und später würden seine roten  Früchte durch den Garten leuchten und an den Ort erinnern, an dem der  Spatz begraben war.

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