8. Ein Wochenende in Spandau (Teil 1/2)
POV Max
Wenn das Wörtchen „wenn" nicht wäre. Wenn ich nichts am Wochenende vorgehabt hätte, hätte ich mich sehr gerne mit Dagi am Wochenende getroffen. Aber so ist das nun mal, ich fahre heute zu meinem Vater und besuche ihn. Es ist seit unserem Umzug das erste Mal, dass ich ihn sehe, seitdem immer nur über Chat oder Telefon Kontakt gehabt – wenn überhaupt. Andererseits konnte ich so das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden und meine Freunde wieder treffen. Ich ging kurz nach Hause, legte meinen Rucksack in die Ecke, griff meine gepackte Reisetasche und machte mich auf dem Weg zum Hauptbahnhof. Der Zug war pünktlich und ich bekam einen Sitzplatz. Um die Zeit zu überbrücken, setzte ich mir Kopfhörer auf und hörte Musik. Mit Musik auf den Ohren blickte ich aus dem Fenster und sah die Ortschaften an mir vorbeiziehen. Auf Breaking Benjamin folgte Montréal. Bereits an den ersten Takten erkannte ich den Song „Kino?!". Während ich dem Lied zuhörte, schloss ich leicht die Augen, um ein bisschen zu entspannen. Inmitten des Refrains musste ich an die Situation nach Schulschluss denken. Süß, wie Dagi mich gefragt hat. Und an sich wäre ich offen dafür, irgendetwas am Wochenende zu machen. Es muss ja kein abendfüllendes Programm sein. Aber irgendwie Zeit zu zweit mit ihr verbringen, das wäre es. Moment, sind das gerade echt meine Gedanken? Ich meine, wir kennen uns seit zwei Wochen, aber verbringen die meisten unserer Pausen zusammen. Sie ist klug, hübsch und hat keinen Freund gerade. Aber habe ich bereits romantische Gefühle für sie? So schnell? In meine Gedanken vertieft bemerkte ich gerade so noch, dass wir gerade in Spandau einfuhren. Ich griff meine Tasche und machte mich auf dem Weg, um aus dem Zug auszusteigen. Auf dem Bahnsteig sah ich bereits meinen Vater und ging auf ihn zu. Er lächelte, als er mich sah und wir umarmten uns. „Schön, dich zu sehen, Max.", sagte er. Ich nickte. „Ich freue mich auch, dich zu sehen", entgegnete ich. Wir gingen nebeneinander her zum Auto, sprachen dabei aber kein Wort miteinander. Selbst auf der Fahrt zu seiner neuen Wohnung nach Charlottenburg schwiegen wir uns an. Wenn das so das ganze Wochenende weitergeht, dann weiß ich auch nicht weiter. Mein Vater parkte gerade ein und wir stiegen aus. Er führte mich in ein im Jugendstil erbautes Wohnhaus und lotste mich in einen gläsernen Fahrstuhl. Er drückte auf die Fünf und wir fuhren in die oberste Etage. Oben angelangt stellte ich fest, dass die Wohnung die einzige auf dem Stockwerk war. Mein Vater öffnete die Wohnungstür und ich betrat sein neues Zuhause. Ein leises Pfeifen entwich mir: Ein riesiges Wohnzimmer mit offener Küche, zwei Balkone, gut eingerichtet. Ihm und seiner Neuen schien es wohl gut zu gehen. „Nicht schlecht. Hier wohnst du jetzt mit ihr?", fragte ich ihn. Mein Vater seufzte leise als Antwort. Er klopfte mir auf die Schulter. „Na komm, ich zeig dir das Gästezimmer." Ich folgte ihm in das Zimmer am rechten Ende des Flures und auch hier war ich wieder sehr überrascht: In dem Zimmer war ein Kingsize Bett, zudem eine Kommode mit einem Fernseher obendrauf und dazu noch einen Schreibtisch, mit Aussicht auf Berlins Stadtzentrum. Ich staunte echt nicht schlecht und blieb wie angewurzelt im Türrahmen stehen. „Komm erst mal in Ruhe an, ich mach uns gleich mal ein Kaffee.", hörte ich mein Vater sagen. Ich nickte und löste mich aus der Starre. Meine Tasche schmiss ich aufs Bett, packte das Nötigste aus und machte es mir auf dem Bett gemütlich. Hier würde ich also mindestens ein Wochenende im Monat verbringen. Ehe ich weitere Gedanken fassen konnte, klopfte es an der Tür. „Kaffee ist fertig!", drang die Stimme meines Vaters dumpf durch die Tür. „Komme!", antwortete ich, schwang mich vom Bett runter und machte mich auf dem Weg zur Küche, wo mich bereits der wohlige Geruch heißen Kaffees erwartete. Mein Vater saß an einer Ecke des Tisches, die andere Tasse war so positioniert worden, dass ich am Kopf des Tisches saß. Wortlos setzte ich mich an den Platz und nippte vorsichtig an der Tasse. „Wie geht es dir?", fragte mein Vater. „Ganz gut soweit. Habe mich eingelebt, Leute kennengelernt und es ist gar nicht so übel, wie ich es angenommen habe." Er nickte und nahm ebenfalls einen Schluck Kaffee. Wir beide sagten nichts, bis er das Schweigen brach: „Es tut mir leid, Max." Ich schnaubte leicht durch die Nase. Ist das alles, was er zu sagen hatte? „Ist okay, Paps, ich komm schon klar. Einfach mal 300 Kilometer wegziehen, seine ganzen Freunde hinter sich lassen, neu anfangen. Ein normaler Mittwochnachmittag.", erwiderte ich. Mein Vater atmete hörbar durch. „Hör mal, du hast alles Recht der Welt, wütend zu sein.", konterte er, was in mir nur noch mehr bewegte. Wie kann er da in aller Ruhe sitzen, seinen Kaffee schlürfen und mit Kalendersprüchen mir erzählen, wie sehr es ihm leidtut? Ich zuckte mit den Achseln. „Warum sollte ich wütend sein? Ist doch alles gut, nach der Klassenfahrt seines Lebens nach Hause zu kommen, keine fünf Minuten durch die Tür zu sein um dann zu hören, dass ihr euch trennt.", fuhr ich fort. Meine Hände zitterten, in mir kochte es und die Wut kroch immer mehr den Hals hoch. „Max..", fing er erneut an, doch ich schnitt ihm das Wort ab. „Nein, weißt du was? Scheiß drauf. Irgendwelche Kalendersprüche helfen da auch nicht weiter. Du hast unsere Familie zerstört und versuchst gerade es so zu erklären, dass es ein Ausrutscher war. Und jetzt machst du auf dicke Hose, prahlst rum mit deiner Bude, zeigst wie gut es dir geht, aber meldest dich kaum? Ich habe die ersten Wochen ohne dich geschafft und werde den Rest der Zeit auch ohne dich schaffen!", schrie ich. Mein Vater saß immer noch regungslos da. Ich musste schlucken. Das musste gerade alles raus. Ich stand vom Tisch auf und setzte mich auf die Couch im Wohnzimmer und sah wieder zu ihm rüber. Sein Kopf sank mit dem Blick nach unten. Er stand ebenfalls auf und drehte sich zum Fenster. „Meinst du, ich weiß nicht, was das in dir ausgelöst hat? Dass ich nicht weiß, dass ich euch verletzt habe? Das weiß ich alles, glaub mir. Aber lass mich eins erklären: Deine Mutter und ich – wir hatten schon länger unsere Probleme. Und wir haben uns zusammengerissen, solange wie es ging. Um dich zu schützen. Und das ging auch gut. Bis.." „Bis SIE kam. Und du mit ihr eine Affäre begonnen hast.", grätschte ich rein. Er drehte sich um und sah mich überrascht an. „So war es nicht. Ich habe sie kennengelernt, als sie vor einem Jahr zu uns in die Firma kam. Wir haben uns auf Anhieb verstanden und haben nicht nur am Arbeitsplatz miteinander Zeit verbracht, sondern auch mit den Kollegen nach Feierabend. Wir verstanden uns immer mehr und vertrauten uns auch sehr, was deiner Mutter überhaupt nicht gefiel...", sagte er, doch ein verächtliches Schnauben unterbrach seine Rede. „Ja genau, und Mama ist die böse, die Leier kenn' ich doch schon...", erwiderte ich, was meinen Vater noch mehr anstachelte. „Max, wenn du mich ausreden lassen würdest, würdest du es verstehen! Du gibst mir keine Gelegenheit dazu!", brüllte er mich an. Ich musste schlucken, mit der Reaktion hatte ich nicht gerechnet. „Darf ich weitererzählen?", fragte er und ich nickte nur stumm. „In dieser Zeit haben deine Mutter und ich uns immer mehr distanziert, während sie und ich uns immer mehr angenähert haben. Aber ich wollte und konnte nicht zwei Beziehungen gleichzeitig eingehen, dafür habe ich zu dem Zeitpunkt deine Mutter noch zu sehr geliebt. Währenddessen ist das Unvermeidliche passiert: Sie und ich haben uns geküsst. Es war auf dem Sommerfest unserer Firma, sie und ich haben uns für eine ruhige Unterhaltung zurückgezogen und in einem Moment geschah es einfach. Es fing ganz zaghaft an, doch am Ende war es schon ein bisschen mehr als nur ein Kuss. Mir war die ganze Angelegenheit unangenehm, ich konnte das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Also bin ich zu deiner Mutter gegangen und habe ihr gestanden, was passiert ist. Und ja, natürlich hat es sie sehr verletzt. Das führte zu einem großen Streit, wir haben uns die ganze Zeit angeschrien, Dinge vorgeworfen, die längst vergessen und vergeben waren. Das Ende vom Lied: Wir haben uns nach dem Streit getrennt, ich bin ausgezogen und ihr beide seid weggezogen." Mein Vater atmete laut hörbar aus. „Ich erwarte nicht, dass du mich verstehst. Ich weiß, dass ich euch viel Kummer bereitet habe, am allermeisten dir. Und das tut mir leid. Ich will dich um Entschuldigung bitten und hoffe, dass du eines Tages mir verzeihen kannst.", beendete er seine Rede. Ich senkte leicht den Kopf. Mir war nie das Ausmaß der ganzen Geschichte bekannt, aber was passiert ist, ist nicht rückgängig zu machen. Trotzdem merkte ich, dass mein Vater nicht die Absicht hatte, uns zu verletzen, es war so gesehen nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. „Ich werde meine Zeit brauchen, das alles zu verarbeiten. Aber ich danke dir für deine Ehrlichkeit, Papa.", antwortete ich leise. Mein Blick richtete sich wieder auf ihn und sah ihn ein wenig lächeln. Ich erhob mich vom Sofa und schritt auf ihn zu. Zögerlich stand ich vor ihm. Wir sahen uns beide kurz an und fingen aus dem Nichts zu lachen an. Im Überschwang der Gefühle fielen wir uns in die Arme und er drückte mich sehr feste an sich, so fest wie schon lang nicht mehr. Nach der sehr langen Umarmung setzten wir uns wieder an den Tisch. „Darf ich dich was fragen?", ergriff ich das Wort. Mein Vater nickte: „Nur zu." „Naja...also warum wohnt sie nicht hier? Meine Frage vorhin hast du nicht beantwortet." Mein Vater schmunzelte leicht und wog den Kopf hin und her. „Berechtigte Frage. Sie wohnt noch in ihrer eigenen Wohnung, geplant ist aber, dass sie zum Ende des Jahres zu mir zieht.", antwortete er. Ich lächelte und nickte zur Bestätigung. Ich war gerade dabei, aufzustehen und meine Kaffeetasse aus dem Wohnzimmer zu holen, als mein Vater mich ansprach: „Ich will dich auch noch was fragen, Max." Ich machte kehrt und setzte mich wieder hin. „Ja?", fragte ich. Mein Vater ballte die Hände zusammen und stützte seinen Kopf ab. Das machte er immer, wenn er einen wichtigen Vorschlag machen wollte. „Wenn du schon hier bist... ich weiß ja nicht, was deine Pläne sind, darüber haben wir ja auch noch nicht gesprochen. Aber hättest du Lust, sie vielleicht kennenzulernen?", sagte er. Ich sah mich kurz um. „Natürlich kann ich verstehen, wenn du nicht willst, war ja auch nur so eine Idee.", sprach mein Vater weiter. Ich lächelte und zuckte leicht mit den Achseln. „Klar, also ich würde mich freuen, meine Stiefmutter kennenzulernen.", antwortete ich mit einem Augenzwinkern. Mein Vater lachte. „Ich glaube, sie mag es lieber, wenn du sie mit ‚Jessica' ansprichst, aber das freut mich zu hören. Wollen wir dann morgen zusammen frühstücken gehen?" Ich nickte zur Bestätigung und räumte meine Tasse weg. Auf dem Weg in „mein" Zimmer drehte ich mich noch kurz um. „Papa?", sagte ich. Mein Vater drehte sich um. „Ich bin froh, dass ich hier bin. Du hast es schön hier.", antwortete ich. Er lächelte. „Ich bin auch froh, dass du hier bist, mein Junge.", erwiderte er.
Am Abend bestellten wir Pizza und schauten uns zusammen „Kong: Skull Island" an. Nach dem Film ging ich ins Bett und schaute noch kurz auf mein Handy. Ich hatte ein paar Nachrichten aus irgendwelchen Gruppenchats, aber auch eine Nachricht von Dagi.
Dagi
zuletzt online um 22:48
Hey :) Hoffe, du bist gut angekommen. Genieß die Zeit bei deinem Dad und
meld dich zwischendrin mal 😊 17:11
Mein Herz schlug etwas schneller, nachdem ich die Nachricht gelesen hatte. Ich musste lächeln. Irgendwie schön, dass es jemanden gibt, der an mich denkt. Moment, was dachte ich da? Stehe ich auf sie? Sind wir einfach nur gute Freunde, die sich blind vertrauen? Ich verstehe nichts mehr. Bevor ich es vergessen konnte, beschloss ich, Dagi zu antworten.
Dagi
zuletzt online um 22:48
Hey :) Hoffe, du bist gut angekommen. Genieß die Zeit bei deinem Dad und
meld dich zwischendrin mal 😊 17:11
Hi :) Sorry, dass ich erst so spät antworte, war ein sehr ereignisreicher
Tag heute 😅 Wie war dein Tag so? 23:17
Ich legte gerade mein Handy weg, als der Bildschirm kurz leuchtete und es kurz vibrierte. Dagi hatte geantwortet.
Dagi
zuletzt online um 23:19
Hey :) Hoffe, du bist gut angekommen. Genieß die Zeit bei deinem Dad und
meld dich zwischendrin mal 😊 17:11
Hi :) Sorry, dass ich erst so spät antworte, war ein sehr ereignisreicher
Tag heute 😅 Wie war dein Tag so? 23:17
Ereignisreich also? Das klingt spannend ☺ Mein Tag war nicht so spektakulär,
ein bisschen Hausaufgaben gemacht und war vorhin noch bei Bianca 23:18
Bin gerade zu Hause angekommen, ich werde mich jetzt aber nur noch
abschminken und ins Bett fallen. Du machst vermutlich noch Berlin unsicher 😂
Ich drück dich, schlaf gut, träum was schönes 🥰 23:19
Ja, das kann man so sagen, war sehr aufschlussreich. Mich zieht es
aber auch ins Bett, war ein langer Tag 😴 Schlaf du auch gut, drücke
dich zurück 🤗 23:20
Diese kurze Unterhaltung hat mich ein wenig glücklich gemacht. Mit einem Lächeln machte ich den Flugmodus an und legte mich schlafen. Ich bin sehr gespannt, was morgen passieren wird, da ich nicht nur die neue Partnerin meines Vaters kennenlerne, sondern auch meine Jungs wieder treffe. Mit einem wohligen Gefühl schloss ich meine Augen und schlief nahezu sofort ein.
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Heute mal ein XXL-Kapitel, hier sind die Pferde mit mir durchgegangen :D Ich fand es aber auch mal gut, ein etwas längeres Kapitel zu schreiben, um mal die genaueren Hintergründe von Max' Umzug zu beleuchten.
Ich hoffe aber trotzdem, dass euch ein längeres Kapitel wie dieses gefällt. Lasst es mich mit einem Upvote wissen und wir hören uns nächsten Donnerstag, mit dem zweiten Teil des Wochenendes, wieder. Fühlt euch gedrückt, eure Julia Melania
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