11
»Grrr.« Der Laut entkommt Arnt dann doch noch über seinem Schnabel – sogar hörbar. Vielleicht hat Arnt eben gedanklich etwas übertrieben. Vielleicht ist er nicht wortwörtlich begraben. Vielleicht fühlt es sich lediglich für ihn danach an.
Etwas wuschelt über seinen Schädel, sodass das weiße Pulver von ihm herabrieselt und er nach und nach wieder schärfer sehen kann.
»Guck doch nicht so mürrisch, Arnt.« Die Braunbärin lächelt ihn breit an. »Der Winter ist nun in seiner Vollkommenheit da – ist das nicht zauberhaft?«
»Wenn du das–«, setzt Arnt zu seiner Erwiderung an, doch wird er von Artema unterbrochen.
»Jetzt fang nicht wieder damit an!«, ermahnt die Braunbärin ihn mit erhobener Pranke. »Wenn du das meinst«, piepst die herum, als würde er so sprechen. »Haben wir wieder eine mürrische Phase?«
»Wenn ich daran erinnern darf, waren das deine Worte und das ist–«
Schon wieder wird ihm unsanft das Wort abgeschnitten, indem sie ihm erneut ihre Pranke vor den Schnabel hält. Nur ganz dicht davor bremst sie ab. »Diese ollen alten Kamele.«
»Ollen alten Kamellen«, verbessert er sie.
»Wenn du das meinst«, erwidert sie und muss laut anfangen zu lachen.
Arnt flattert einen Ast höher, er kennt ja seine Kumpanin bereits gut genug. Und wie er sich dachte, springt Artema im nächsten Augenblick prustend herum und lässt sich in die dicke Schicht Schnee fallen, die daraufhin herumwirbelt.
»Aber warum denn Kamellen, das macht doch gar kein Sinn!« Artemas Tatze legt sich an ihr Kinn, als würde sie überlegen, aber dann entscheidet sie: »Ach, auch egal« und lässt ihre Tatze wieder sinken. »Erzähl mir lieber, was dich heute so aus der Fassung bringt, anstatt den Winter zu umarmen.«
»Umarmen?« Hat Artema zu lange in der Kälte ausharren müssen; ist ihr Verstand unterkühlt?
»Sinnbildlich, Arnt«, hilft sie ihm auf die Sprünge. »Aber wir können es auch gerne wortwörtlich machen.«
»Danke, ich lehne ab.« Mit seinen Flügeln schüttelt er sich. Arnt kann sich wahrlich besseres vorstellen.
»Ich habe gesehen, dass du ziemlich weit hochgeflogen bist«, wechselt Artema das Thema. »Wie weit kann ich nicht sagen, aber es sah aus, als wärst du tief in den Wolken gewesen.«
»Ich habe nach Antworten gesucht«, antwortet Arnt frei raus.
»Und?«, fragt Artema neugierig nach.
»Nichts.«
»Wie meinst du das?« Sie legt ihren Kopf schief und scheint aus ihm schlau werden zu wollen. Arnt hingegen tippelt ein wenig hin und her auf dem Ast.
»Dort oben habe ich keine Antwort gefunden.«
»Worauf denn?« Ihre Stimme wird höher, ihr Körper passt sich dem an, wodurch sie nun eher vor ihm hockt mit beiden Vorderpranken in der Luft hängend, als würde ein Hund Männchen machen. Ihre Neugierde spitzt sich definitiv zu.
»Ach Artema, im Winter braucht mich niemand. So gerne ich manchmal auch meine Ruhe haben mag, im Winter erdrückt sie mich.«
»Du willst eigentlich immerzu deine Ruhe haben!«, berichtigt sie ihn. »Zumindest behauptest du das gerne«, ergänzt sie dann noch.
Arnt lässt das so stehen. Was soll er auch dagegen sagen? Sie hat im Grunde recht, doch es gehört zu seinem Ruf dazu.
»Ich habe mir ja schon länger gedacht, dass in dir auch ein anderer Anteil steckt, der nicht nur für sich allein sein will. Und weißt du was?«
Arnt schaut sie beinahe bedröppelt an, denn das waren nicht seine Gedanken. Er braucht lediglich eine Aufgabe, jawohl!
»Das ist doch vollkommen in Ordnung!«, beantwortet die Bärin ihre eben gestellte Frage, die wohl eher rhetorisch gemeint war.
»Wenn ...« Den Rest verkneift er sich.
Artema schmunzelt und spricht dann weiter. »Wir müssen nicht immer hoch hinauf fliegen – oder klettern –, irgendeine andere Perspektive einnehmen. Nicht immer Arnt, sagte ich. Hör auf, mit den Augen zu rollen.«
Bei der Ermahnung klingt Artema beinahe mütterlich, doch jetzt bemerkt Arnt noch eine andere Veränderung an seiner Gefährtin. Ihre Stimme ist langsamer und bedächtiger als sonst.
»Manchmal ist auch Nichtstun gut. Ob du es glauben magst oder nicht. Abwarten kann ebenso hilfreich sein wie Beschäftigung. Es kommt ja immer darauf an, in was für einer Situation wir stecken; was uns möglich ist und, und, und. Die Emotionen abklingen zu lassen, anstatt gleich zu handeln – was denkst du, was das sein kann?«
»Gut?«, äußert sich Arnt ironisch, was Artema gekonnt ignoriert und dennoch applaudiert.
»Richtig. Ich sehe, wir machen Fortschritte«, sagt sie und geht damit nun doch auf seine Ironie ein.
»Kannst du bitte–« Arnts laute Worte werden erneut von Artema unterbrochen. Besser gesagt lässt er sich aufhalten durch ihre hochgehaltene Pranke. »Was soll das denn?«, schreit er nun noch lauter, als schon eben.
Ob Arnt eher wütend auf sich ist? Gut möglich. Ob er weiß warum? Eher weniger.
»Hast du schon mal was von ›In der Ruhe liegt die Kraft‹ gehört?«
Ein schnaubenähnliches Geräusch erfolgt aus seinem Schnabel. »Machst du nun einen auf Eisbärin mit deiner esoterischen Phase?«
»Warum denn nicht wenigstens Koalabär?«
Arnt verstummt – ob wegen seines emotionalen Zustands oder aufgrund ihrer Frage? Alles ist möglich oder auch noch was ganz anderes. Wer vermag schon beurteilen zu können, was alles in dem Kopf des Adlers – dem König der Lüfte – vorgeht?
Schweigen hüllt die beiden ein und gleich zu Beginn ist zu spüren, dass es sich um eine Stille handelt, die nur darauf wartet, zu gegebener Zeit durchbrochen zu werden. Artema scheint eisern auszuharren und möchte ja nicht den ersten Schritt machen.
Zu gegebener Zeit scheint eine passende Zeitangabe, denn Arnt lässt einiges an Zeit verstreichen, bis er die unsichtbare Hürde überwinden kann. Er schüttelt die heruntergefallenen Eiskristalle von seinem Gefieder ab, legt sich die Federn akkurat neu an und öffnet seinen Schnabel, um seine gut vorgedachten Worte aussprechen zu können.
»Koalabären sind ja schon noch mal kleiner«, nuschelt er vor sich daher und klingt viel bröckliger, als er wollte.
»Stimmt. Ein gutes Argument.« Artema scheint der Schnee nichts auszumachen – genauso wenig wie seine Stimmfarbe.
»Also?« Er ergibt sich.
»Was meinst du?«, hakt Artema nach, als wüsste sie nicht, wovon er spricht.
»Wie sieht dein Experiment für mich aus? Ich bin sicher, du hast schon eine Idee.«
Ihre Augen beginnen zu funkeln. »Es ist nicht gerade ein Experiment, aber ja, eine Idee habe ich natürlich.«
»Also?«
»Abwarten und Tee trinken«, erläutert sie strahlend.
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