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Alles scheint zu erwachen. Weiden und Felder. Wälder und Gewässer. Sie spüren die wachsende Energie, die erstarkenden Sonnenstrahlen. Blütenknospen recken sich empor, ihre Kelche öffnen sich und ihr Duft wird hinein in die Weite verströmt. Die Aromen werden jeden aufmuntern. Bald wird die Welt wieder eine kunterbunte Spielwiese sein.

Mittendrin ertönt ein kehliges Brummen. Doch es ist kein schreckhafter Klang – vielmehr ein lang gezogener Seufzer. Der frische Nektar ist auch Artema in die Nase gekrochen, sodass die Braunbärin aufgewacht ist.

Frühling. Die Jahreszeit des Neubeginns und der Hoffnung. Nicht für sie. Nein, nein, nein. Zumindest nicht, was die Hoffnung betrifft. Gegen den Neubeginn kann sie nichts ausrichten. Ob sie will oder nicht, er hat sie in seinen Fängen.

Nach einem weiteren Strecken und Gähnen beschließt sie, sich auf ihren Weg zu machen. Trostlos und traurig – im Gegensatz zum Erblühen um sie herum. Doch noch keimt ein letzter Funke Hoffnung auch in Artema. Sonst würde sie sich wohl kaum auf die Suche nach irgendetwas Vertrautem in der Weite des Ungewissen machen.

Vogelgezwitscher und das Summen von Bienen begleiten sie auf ihrem Pfad. Obwohl es sie in ihrer einstigen Heimat zufrieden stimmen konnte, bewirkt es nun nur, dass sie immer mehr ihren Kopf hängenlässt und ihre Tatzen und Beine mit jedem Schritt mehr Kraft benötigen. Schwerfällig schreitet sie voran.

Als die Sonne den höchsten Punkt des Tages erreicht, lässt sich Artema auf ihren Hintern im Schatten einer Birke plumpsen. Ein Baum, der auch in ihr etwas wecken kann – Sehnsüchte.

»Ein herrlicher Frühlingstag«, wird weit über ihr im melodischen Einklang mit den leichten Böen gefrönt.

Gegen die Sonnenstrahlen blinzelnd schaut Artema hoch hinauf. Schnaufend stellt sie ziemlich rasch fest, wer da in ihre gerade erst begonnene Pause rein flattert.

Ein Adler kommt angeflogen. Erhaben, machtvoll, majestätisch. Das genaue Gegenteil von Artemas Ausstrahlung. Wie sie seufzend selbst zugeben muss.

Die Flügel breit gefächert – Freiheit. Hingegen fühlt sie sich in ihren Gedanken gefangen. Seine Erscheinung strotzt nur so von Stärke und der Verbundenheit zur Sonne. Sonne – ihre Strahlen durchstreifen sein Gefieder sicherlich stetig und versorgen ihn mit wohltuender Wärme. Während ihr Pelz eine Art Abschirmung zu sein scheint; ein Panzer, durch den nichts hindurch dringt und sie frieren lässt.

Zwar überragt Artema körperlich den König der Lüfte, doch innerlich schrumpft sie bei jedem Flügelschlag des Adlers mehr in sich zusammen. Mit dem Kopf lehnt sie sich an dem Baum an und senkt die Lider.

Kurz darauf hört sie das Rascheln der Blätter, als sich der Vogel über ihr auf einem Ast der Birke niederlässt. »Warum so betrübt?«

Artema reagiert nicht. Eigentlich möchte sie nur ihre Ruhe haben und versuchen, einen kleinen friedvollen Augenblick für sich zu gewinnen. Ein Seufzen entkommt ungewollt ihrem Maul.

»Dürftest du nicht ausgeruht sein?« Obwohl die Worte des Adlers in einem freundlichen Ton herüberschwingen, empfindet Artema sie als aufdringlich.

Fragend blickt sie ihn an.

»Winterschlaf oder Winterruhe?«, hilft er ihr auf die Sprünge.

»Den habe ich nicht finden können ...«, entschlüpfen ihr die Worte.

»So, so.« Er reckt den Kopf etwas zu ihr hinunter, sodass er ihr seinen leuchtenden Schnabel entgegenstreckt. Als wolle er, dass sie ihn in ihre Tatze nimmt, um diesen zu schütteln. »Neubeginn in allen Formen, wie?«, plaudert er dann jedoch weiter und richtet sich wieder auf.

»Musst du nicht zum Horst?«, weicht Artema dem Thema aus.

Gerade als sie anfing zu sprechen, ist ein Schwarm Bienen an ihnen vorbei geflogen. Beide verfolgen die gelb-schwarzen, fleißigen Summenden, wie sie sich auf die umliegenden kunterbunten Blüten verteilen.

»Ich heiße nicht Horst«, nimmt der Adler den Faden des Gespräches wieder auf. Artema widmet sich ebenso notgedrungen ihrem Gegenüber. »Arnt mein Name.« Erhaben verbeugt er sich.

»Okay.« Mit der linken Tatze wischt sie die Information in der Luft weg, das ist für sie gerade nicht wichtig. »Was ich fragte«, Artema seufzt, »ob du nicht zu irgendeinem Horst musst.« Dieses Gespräch wird ihr viel zu langwierig.

»Ich kenne keinen Horst.« Arnt bedenkt sie mit einem skeptischen Blick. »Außer du heißt so?« Seine Stimme schwankt zwischen krächzend und papageiend. Hat er sie durchschaut?

»Nein, nein.«

»Sondern?«

»Artema.«

»Schön, dich kennenzulernen, Artema.«

»Hmm.«

Arnt scheint nett zu sein und dennoch möchte Artema nach wie vor lieber alleine sein. Niemand kann verstehen, was sie durchmacht; was ihr durch den Brummschädel summt.

»Warum bist du so betrübt?«, wiederholt er seine Eingangsfrage.

»Wieso interessiert es dich?«

»Warum erzählst du es nicht?«

»Wieso muss ich das?«

»Warum kommst du nicht hier rauf?«

»Wieso«, setzt sie erneut prompt an, weiß jedoch gar nicht, was sie als Gegenfrage noch stellen könnte und lässt es daher. Dann dringen allmählich die Worte von Arnt zu ihr durch.

Irritiert – und bewundernd – schaut sie zu ihm hoch. Er sitzt nicht mehr auf dem Ast, sondern fliegt erneut über ihrem Kopf. Die berühmten Adlerkreise. Groß und weit. »Was?«, ruft sie mit quietschender Stimme zu ihm.

»Ich fragte –«

»Verstanden habe ich deine Worte schon«, unterbricht sie ihn, »aber ich verstehe nicht ... Wie soll ich das denn machen? Ich kann nicht fliegen. Ich bin eine Bärin!«

Ob er schon mal einem Ursus mit Flügeln begegnet ist?, fragt sich Artema, während sie weiter seine Schwingen bestaunt. Der große Körper mit solchem Gefieder muss doch seltsam aussehen. Sie kann sich nicht vorstellen, dass er das ernsthaft meint.

»Das sind nur Ausreden«, erwidert er jedoch in einem unbekümmerten Ton. Als wäre sie lediglich zu blöd, seine Worte zu begreifen.

Und dass sie nicht einmal weiß, was sie dazu sagen soll, macht es für sie nicht angenehmer. Sie ist eine Bärin – das ist ein Fakt. Genauso wie ihre Art nicht zum Fliegen gemacht ist – wenn dann, um auf das Maul oder den Hintern zu fliegen ...

Den saftigen grünen Boden betrachtend versucht sie, dem Sinn seiner Worte zu erhaschen. 

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