Marrakech
Selbstverständlich weiß ich, dass man den Namen dieser Stadt auf viele verschiedene Arten schreiben kann. Mir gefällt die Französische Schreibweise mit dem Graphem 'ch' zum Phonem [∫]. Aber das ist eigentlich bloß Lehrer-Geplapper. Weit wichtiger ist ein anderer Zusammenhang zur mannigfaltigen Schreibweise: Die Stadt hat ebenso viele Gesichter, was die Sache nun spannend macht.
Von den Außenquartieren habe ich kaum etwas gesehen. Wir sind zweimal durchgefahren. Abgesehen von der Farbe der Gebäude könnte man sich in einer beliebigen Stadt irgendwo in ähnlichem Klima auf der Welt wiederfinden. Moderne Städte gleichen sich in vielen Belangen. Interessanterweise befindet sich der Flugplatz direkt neben der Stadt; lange Anfahrtswege entfallen somit, aber der Fluglärm ist dadurch omnipräsent - was durch den Lärm der Millionen von China-Motorrollern nicht weiter auffällt.
Marrakech ist laut. Aber es ist auch lebendig, und das relativiert die Lautstärke aus meiner Sicht gewaltig. Nie hatte ich das Gefühl von zürcherischem Stress; nie mailändische Kopfschmerzen oder die erdrückende Los-Angeles-Angst. Da war überall Leben. Vor meiner Reise nach Marokko wurde ich von zwei Marokkanerinnen gewarnt. Ich solle mich in Marrakech nicht auf die Gassen wagen. Ich werde von bettelnden Kindern und Straßenhändlern bedrängt, dass ich mich kaum wehren könne. Das löste eine leise Furcht vor dieser Stadt aus; ich hatte einen mulmigen Respekt.
Jetzt, wo ich die Stadt gefühlt und gesehen habe, weiß ich: Da ist Liebe. Die Stadt tickt ganz bestimmt anders als die meisten Städte, die ich weltweit schon erlebt habt - und die Liste ist lang. Wenn ich mich aber, so wie ich es immer mache, auf sie einlasse und versuche, mich so zu verhalten, wie die Menschen um mich herum, dann erscheint ihr ganz besonderer Charme.
Beginnen wir bei der Übernachtung. Selbstverständlich gibt es auch in Marrakech die luxuriösen und internationalen Hotelkomplexe. Doch abgesehen von einigen kunstvollen Zierbögen und Mosaikeinlagen, sehen die dann doch aus wie anderswo. Ich empfehle daher ein Riad. Riad bedeutet "Altstadtwohnung". In den vergangenen zehn Jahren gab es einen regelrechten Run auf die Riads in Marrakech. Viele Promis angelten sich eines davon; reiche Menschen aus aller Welt taten es ihnen nach. Unzählige Riads wurden zu kleinen und kleinsten Hotels oder B&Bs ausgebaut. Recherchieren lohnt sich.
Ein Riad kann in der Regel nicht mit einem Auto erreicht werden. Parkmöglichkeiten gibt es am Rand der Altstadt. Wem das Gepäck zu schwer ist, der kann einen Lieferdienst per Handkarren in Anspruch nehmen. Das ermöglicht dann bereits die ersten Kontakte zu Einheimischen. Ich folge dem Mann mit dem Karren, biege links ein, dann rechts, nochmals rechts, wieder rechts, dann links - die Gassen werden so eng, dass der Handkarren gerade mal durchgeht. Sackgasse vor einem Gitter. Eine Klingel in der Wand. Mein Träger verabschiedet sich. Ein freundlicher Mann erscheint am Tor und lässt mich ein.
Im Riad empfängt mich eine andere Welt. Charme pur! Enge Treppen, Mosaiksteine, ein Innenhof, der Tageslicht bis auf Grundlevel fluten lässt, Nischen mit Teetischen. Mein Zimmer hat eine oben abgerundete Doppeltür mit einem einfachen Vorhängeschloss. Doch auch im Zimmer, das klein und gemütlich ist, überwältigt mich der Charme. Es wirkt neu renoviert; wahrscheinlich nach dem Erdbeben. Alles ist authentisch und wunderbar gestaltet, ich fühle mich zuhause. Auf dem Dach ist die Frühstücksterrasse, welche einen unvergesslichen Ausblick über die Dächer Marrakechs öffnet.
Wenn wir nun einen Rundgang durch die Medina machen, dann lasse ich den Souk aus, denn da waren wir schon. Ebenfalls weglassen kann ich das "Maison de la Photographie" und den Flughafen (der, wie aufmerksame Leser*innen bemerken, nicht in der Medina liegt). Bewegen wir uns also auf den Platz bei der Hauptpost, Jamaa El Fna. Er ist der Platz des Marktes, der Ess-Stände und der Gaukler. Jeden Abend werden unzählige Foodtrucks (ohne Motor!), mobile Restaurants und Marktstände aufgebaut, die tagsüber alle wieder verschwinden müssen.
Neben den bunten und lauten Ständen finden die Gaukler, Schlangenbeschwörer, Musiker und Tänzer ihre Bühne. Wem danach ist, der kann sich mit Henna kunstvoll verzieren lassen oder ein Porträt erwerben. Man singt, man klatscht, man staunt und lacht. Jeden Abend. Eigentlich müsste man sich nicht um einen Tisch zum Abendessen bemühen, denn hier auf dem Platz findet man alles, was man will und braucht.
Selbstverständlich kann man aber auch essen gehen. Es gibt sehr viele richtig gute Restaurants in Marrakech. Alle haben sie eines gemeinsam: zum Essen gibt es keinen Alkohol. Wer sich ein Bier, einen Drink oder ein Glas Wein genehmigen will, muss eine der speziellen, legalen Lokalitäten besuchen, wo Alkohol ausgeschenkt werden darf. Das sind dann meist Roof-Top Bars oder Clubs. Die Aussicht von den Dächern ist alleine schon ein Besuch wert.
Wer sich in Marrakech bewegen will, darf sich nicht über Motorroller aufregen. Die sind überall und sie fahren zielgerichtet drauflos. Als Fußgänger hat man nie Vortrittsrecht - oder war es immer? Egal - jeder schaut nach vorne und nie zurück - das funktioniert prima. Bloß nicht etwa aus Angst stehenbleiben - denn damit rechnen die Roller-Piloten nicht. Sie sehen mich gehen, nicht stehen. Wenn ich diese einfach Regel begreife, dann kann ich unbeschadet jede Straße überqueren, unabhängig vom Verkehrsaufkommen. Immer Blickkontakt suchen, dann klappt es.
Oasen der Ruhe gibt es natürlich auch. Parks, Moscheen, Museen und Paläste. Sehr empfehlen kann ich die Koranschule Medersa Ben Youssef oder den Bahia Palast. An diesen Orten fühle ich die Szenen aus 'Zwischen Sand und Sternen'. Ich schlendere über die kunstvoll verzierten Innenhöfe oder verweile in den Zellen der Koranstudenten. Plötzlich steht Amela neben mir und liest mir die Leviten, worauf ich eingeschüchtert weiterziehe und den nächsten wunderbaren Raum betrete. Ich schwebe zwischen Fantasie und Wirklichkeit, fliege mit dem sprechenden Teppich.
In Marrakech sind die Häuser rot angestrichen. Das hat seinen Grund. Weiß wäre zu hell, es würde blenden, schmerzen. Das Rot der Erde fügt sich ins Landschaftsbild ein. Für die Augen angenehm und in der gesamten Landschaft unauffällig. Rot ist die Farbe des ehemaligen Baumaterials: Lehm. Marrakech ist die Rote Stadt.
Das verheerende Erdbeben vom September 2023 hat unzählige Gebäude in der Medina einstürzen lassen. Der König hat danach verfügt, dass alle Gebäude, deren Bausubstanz angeschlagen war, abgerissen und neu aufgebaut werden müssen. Das ist an sich ein weiser Entscheid, doch nicht einfach zu realisieren. Die Straßen können nicht von Maschinen befahren werden. Der Abriss erfolgt von Hand, der Abtransport mit Eselskarren. Das neue Baumaterial, das Rüstmaterial - alles Material - wird mit Eselskarren zur Baustelle transportiert, danach wird von Hand gebaut. Das dauert.
Die Spuren des Erdbebens sind überall sichtbar. Erinnerungen an Christchurch 2011 werden wach. Mich berührt das bis sehr tief hinein. Jede offene Wand, jede am Boden liegende Matratze zeigt ein Schicksal. Trotzdem sind die Menschen voller Tatendrang, nach vorne blickend. Sie lieben ihre Stadt und sie bauen diese wieder auf. Beeindruckend. Dass Marokko derzeit einen König hat, der sich einigermaßen um sein Volk kümmert, es wenigstens versucht, ist in diesem Fall sehr hilfreich. Die Dörfer, die 2016 in Italien von den Erdbeben verschüttet wurden, warten heute noch auf staatliche Hilfe. Doch hier in Marokko geht es relativ schnell und unkompliziert, sagt man.
Marrakech hat mich sehr beeindruckt. Ich konnte nur einen ganz kleinen Teil ansehen und erleben. Grund genug, wieder einmal zurückzukommen.
Jamaa El Fna; © Bruno Heter, 2024
Bahia Palast, mit Spuren des Erdbebens; © Bruno Heter, 2024
In der Koranschule; © Bruno Heter, 2024
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