Kapitel 5a
Nachdenklich starrte Ruby durch die Gegend. Durch das wenige Mondlicht, welches durch einen kleinen Spalt in der Plane hereindrang, war es wenigstens nicht komplett dunkel.
Nach dem Abendessen, oder bei ihr besser gesagt nach dem Küchendienst, den sie als Strafe noch hatte ablegen müssen, waren sie wie üblich in ihre Zelte geschickt worden. Doch sie fand keinen Schlaf. Er schien sie absichtlich zu meiden. Unruhig wälzte sie sich hin und her, aber das machte sie eher wacher als alles andere.
Prüfend warf sie einen Blick auf die zwei Betten neben ihr. Alina und Kayra schliefen schon. Leise setzte sie sich in ihrer Holzpritsche auf und trat vorsichtig auf den kühlen Boden. Die Erde fühlte sich vertraut unter ihren nackten Füßen an.
Auf leisen Sohlen tappte sie zum Eingang und schlüpfte schnell hindurch, bevor sie noch jemand sah. Draußen spähte sie einmal kurz nach links und rechts, um sicher zu gehen, dass kein Wächter in der Nähe war. Danach schlich sie um das kleine Zelt herum und ging in den dunklen Wald hinein. Die Bäume warfen lange Schatten, während sie sich in geduckter Haltung ihren Weg durch sie hindurch suchte. Immer tiefer drang sie in den Wald hinein.
Sicherheitshalber mit Schwert und Bogen über dem Rücken hängend. Ihr kleines Messer war wie immer an einer Schnalle um ihr Fußgelenk befestigt. Als sie sich ein paar Schritte vom Lager entfernt hatte, beruhigte sie sich allmählich. Hier würde sie niemand mehr erwischen können. Auf leisen Füßen schlenderte sie weiter. Immer ein bestimmtes Ziel vor Augen.
Still war es hier nie. Auch nachts schlief die Tierwelt nicht. Auch wenn die meisten die Menschen mieden, gab es doch ein paar gefährlichere, wie den Sinkal. Es gab sogar Legenden über Dämonen, die in der Vollmondnacht ihr Unwesen trieben. Aber heute war erst Halbmond.
Über Äste und Wurzeln laufend, kam Ruby nach einer Weile bei einem umgekippten Baum an. Er war größtenteils von weichem Moos überwuchert und beherbergte hinter ihm eine herrliche Stelle, die gut mit dem grünen Zeug ausgepolstert war. Schnell stieg sie über den Stamm hinweg und lehnte sich auf der gegenüberliegenden Seite an ihn. So war sie gut geschützt.
Nachdenklich blieb sie sitzen und ließ die Eindrücke der Natur auf sich einwirken. Die Eulen, die durch die Nacht schuhuten, das gelegentliche Knacken eines Astes, das pfeifende Geräusch des Windes. Der Wald war nachts wach. Ruby liebte es. Entspannt schnappte sie sich einen in der Nähe liegenden, dünnen Ast. Sie drehte das gerade Stück Holz einmal kurz in den Händen und begann dann ihr Messer hervorzukramen.
Mit gleichmäßigen Bewegungen brachte sie das Stück Holz langsam in Form. Erst schälte sie die raue Rinde von ihm. Dann schnitzte sie kleine, aber unglaubliche spitze Zacken hinein. Schließlich formte sie die Spitze. Mit einem Stein schleifte sie diese noch spitzer, als sie ohnehin schon war und schliff den Mittelteil noch präziser. Nun fehlte nur noch das Ende. Doch für dieses würde sie Federn suchen müssen. Die würde sie allerdings erst später holen.
Zufrieden drehte sie das Stück in ihren Händen und steckte es dann zu den anderen Pfeilen in ihren Köcher. Müde lehnte sie sich an den Baumstamm. Genoss den frischen Wind, der um sie wehte und die vertrauten Gerüche des Waldes, die sie beruhigten. Saß einfach nur so da. Die wunderbare Stille, die sie umgab, lullte sie ein. Ihre Augenlider wurden schwerer. Ihr Bewusstsein dunkler. Immer näher sank sie dem Land der Träume.
Gerade, als sie in ihre Traumwelt abdriftete, hörte sie ein leises Knacken hinter sich. Erschrocken fuhr sie hoch. Ihre Atmung beschleunigte sich. Wieder hellwach scannte sie die Umgebung ab. Das war kein natürliches Geräusch gewesen. Es war von jemandem oder etwas verursacht worden. Langsam drehte sie ihren Kopf in alle Richtungen. Starrte in die weite Dunkelheit des Waldes hinein. Suchte nach dem Anzeichen eines Tieres. Oder war es vielleicht sogar ein Wächter? Ruby konnte sich nicht entscheiden, was schlimmer wäre.
Vorsichtig nahm sie ihren Bogen herab. Schnappte sich ihren frisch erarbeiteten Pfeil und ging in Lauerhaltung. Den Rücken gesenkt, die Beine eingeknickt, die Augen scharf. Wachsam glitt ihr Blick wieder und wieder umher. Und doch nahm sie nichts bedrohliches wahr.
Behutsam kletterte sie auf den schützenden Baumstamm und starrte über den Pfad hinweg auf die andere Seite des Waldes. Da, ein Schatten! Panik ergriff sie. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. In drohender Ohnmacht fasste Ruby sich an ihre Brust und spürte ihren Herzschlag. "Ruhig bleiben!", sprach sie sich selbst Mut zu. Doch leichter gesagt, als getan.
Das, was da in Lauerstellung auf seinen Angriff wartete, war ein Nebelwolf. Einer jener seltenen Tiere, die sich fast nie auch nur in die Nähe eines Menschens wagten. Doch, wenn sie es taten, endete es tödlich. Verzweifelt rutschte Ruby wieder von ihrem Baumstamm herunter und kauerte sich schutzsuchend hinter ihn. Aus dem Blickfeld des Wolfes. Den Bogen hielt sie immernoch fest umklammert.
Es gab nur wenige Erzählungen dieser Kreaturen. Zu selten hatte es mal eine Begegnung mit einem Überlebenden gegeben. Rubys Herz pochte schneller. Adrenalin schoss durch ihren Körper. Sie wollte einfach nur noch weg!
Gehetzt stand sie auf. Sie konnte nicht. Behielt keinen klaren Kopf. Das Adrenalin erledigte sein Übriges. Sie rannte los. Quer durch den Wald. Wohl wissend der riesigen Pranken, die ihr auf den Fersen folgten. Sie sprintete immer schneller. Die Bäume flogen nur noch als verschwommene Schatten an ihr vorbei. Die Dornen zerkratzten ihr Schlafgewand. Rissen ihre Haut auf.
Die aus dem Boden ragenden Wurzeln prallten hart an ihrem Schienbein ab. Sie ignorierte den pochenden Schmerz, der sich in ihr ausbreitete, als ein Stein sich eine Härteprobe mit ihrem Bein erlaubte. Natürlich gewann er.
Sie wusste, dass der Nebelwolf nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt war. "Was machst du denn?", meldete sich dann plötzlich eine innere Stimme in ihr zu Wort. Dies ließ sie innehalten. Sie sollte nicht weglaufen. Ein Mensch hatte keine Chance gegen einen Vierbeiner!
Instinktiv sprang sie auf den niedrigsten Ast eines naheliegenden Baumes und brachte sich so vor den auf sie zurasenden, riesigen Klauen in Sicherheit. Sie waren fast so lang, wie ihr ganzer Unterarm und so scharf, wie das schärfste Messer, dass sie je gesehen hatte. Die Krallen könnten einen menschlichen Knochen zerschneiden, als wäre er Butter. Die grauenhafte Vorstellung ließ sie zurückfahren.
Die gelb blitzenden Augen des Untieres starrten sie drohend an. Er war sicher nur zwei Meter unter ihr. Vor Schreck erstarrte Ruby. Nur der Kopf des Tieres war mehr durch den Nebel, den er mit sich trug zu erkennen. Wie hypnotisiert kletterte sie so schnell sie konnte immer höher den Baum hinauf. Ihre Hände umklammerten zitternd die rauen Äste, versuchten, sich irgendwie festzuhalten.
Ihre Knie waren weich geworden und ihre Beine zitterten so sehr, dass sie sich nur noch mit den Händen festhalten konnte. Doch der Wolf hatte spitze Krallen und war stark.
Im Jagdfieber schlug er seine Krallen in den mächtigen Stamm des Baumes und zog sich mit einem kräftigen Zug auf den untersten Ast. Schnell erklomm er auch die weiteren Äste und kam Ruby dabei bedrohlich nahe.
Entsetzt starrte sie auf die klaffenden Zähne in seinem Maul. Da spürte sie wieder den Bogen in ihrer Hand und atmete tief durch. Es war noch nicht vorbei mit ihr.
Schnell spannte sie ihn und legte einen Pfeil auf die straffe Sehne. Zielte auf den Kopf des Nebelwolfs. Dieser ließ sich davon nicht beirren und kam immer näher. Ruby ließ los und der Pfeil sauste auf ihn zu. Innerhalb weniger Sekunden traf er das Tier und blieb in seinem Kopf stecken.
Doch das interessierte ihn nicht.
Er kletterte einfach weiter, als sei nichts geschehen. Mit weit aufgerissenen Augen feuerte Ruby panisch noch ein paar weitere Pfeile ab. Doch es brachte immer noch nichts. Zeigte keine Wirkung. Unaufhaltsam kam das Untier immer näher.
Mittlerweile konnte sie sogar den übel riechenden Atem des Wolfes wahrnehmen. Er stank nach verdorrtem Fleisch und dem letzten Tier, das er verspeist hatte. Dem Geruch nach zu urteilen Ratte. Angewidert drehte sie den Kopf weg.
Aber sie wollte sich noch nicht besiegt geben. Sie wollte um ihr Überleben kämpfen. Und das, bis zu ihrem letzten Atemzug. Mutig griff sie hinter sich, um ihr Schwert von ihrem Rücken zu nehmen. Noch hatte sie eine Chance.
Den Bogen warf sie sich achtlos wieder über die Schulter. Er half ihr jetzt auch nicht weiter. Mit der einen Hand hielt sie sich noch immer an einem Ast über ihr fest. Langsam wurden diese immer dünner. Sie befand sich jetzt bestimmt schon 10 Meter über dem Boden.
Allmählich wurde ihr schwindelig. Mit dem letzten Funken Hoffnung der sich noch in ihr befand, umklammerte sie den polierten Griff ihres Schwertes. Silbern leuchtete die Klinge im Mondlicht auf, die scharfe Spitze hielt sie drohend auf die Augen des Nebelwolfes gerichtete. Wenn er nichts mehr sah, würde sie es leichter haben. So grausam das auch klang.
Mit einem letzten tiefen Atemzug ihrerseits erreichte der Wolf sie. Mit einem ohrenbetäubenden Brüllen sprang er mit den Krallen voran auf Ruby zu.
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