Kapitel 35
Sie liefen nicht lange durch die Dunkelheit, als auch schon die ersten Fackeln ein wenig Licht ins Dunkel brachten. Sie erinnerten Ruby ein wenig an die, die bei den Chintah ihr Licht gespendet hatten, jedoch waren sie auch ein wenig anders.
Sie leuchteten genauso endlos und schienen niemals abzubrennen und doch schienen sie etwas wärmer zu sein. Sie verbreiteten im gesamten ein wohligeres Gefühl.
Doch das war es nicht, worüber Ruby sich jetzt Gedanken machte, etwas anderes erfüllte nun ihren Geist und sie konnte sich nicht länger zügeln, diese Frage nicht zu stellen:
„Wieso hat ein Magier die Chintah verflucht?". Geradeheraus fragte sie dies - ohne jegliche Vorwarnung. Ihr Lehrmeister zuckte zusammen, doch antwortete er nach kurzem Überlegen:
„Sind alle Menschen gleich, Ruby?" Ruby musste nicht lange überlegen. „Nein", sagte sie. „Jeder Mensch ist ein Individuum mit seinen eigenen Denkmustern und anderen Vorstellungen von Idealen", meinte sie. Genau so, wie man es ihr beigebracht hatte.
„Genau. Und so ist es auch bei den Magiern. Man kann sie nicht alle in eine Schublade stecken. Es gibt keine klare Grenze zwischen Gut und Böse. Das einzige, woraus unsere Gesellschaft, und die der Menschen, ihre Ordnung nehmen, sind die Regeln, die sie aufstellen.
Daran machen sie fest, was als gut und was als böse definiert wird. Doch vergessen sie dabei immer, dass es auch Gründe für verschiedenstes Handeln gibt. Woher weiß man, dass die Chintah nicht dem Magier vorher Unrecht getan haben? Dann hätte er nur Vergeltung geübt, was sein gutes Recht gewesen wäre", meinte er.
„Aber wenn jeder immer nur Rache üben würde, dann würde unser Zusammenleben nicht mehr funktionieren. Ohne Grenzen, würden Menschen mit einem grundsätzlich eher bösartigen Charakter, doch viel zu viel Schlechtes tun", widersprach sie stur.
„Was ist denn ein bösartiger Charakter?", fragte der Lehrmeister. „Ein Mensch, der nur Böses im Sinn hat. Der zum Beispiel Menschen töten möchte", erwiderte sie aufgebracht und irritiert, was jetzt diese Frage sein sollte. Das war doch offensichtlich.
„Bist du dir sicher?", fragte der vordere jedoch nur. „Ja", rief Ruby aus. „Dann definiere mir böse", fuhr er fort.
"Das ist jemand, der moralisch schlechtes Verhalten im Sinn hat. Der sich den Gesetzen des Volkes widersetzt und unschuldigen Unrecht tut", sagte sie und hoffte, er würde sie endlich verstehen. Der Lehrmeister überlegte. Ruby hielt die Stille kaum aus.
„Wenn ich jetzt einen Stein auf dich werfen würde. Wäre ich dann böse?", fragte er. „Ja, natürlich", antwortete Ruby verwirrt. Der Lehrmeister seufzte.
„Ganz so einfach ist es nicht. Es ist eine verzwickte ethische Frage, auf die man schon seit so langer Zeit eine Antwort zu finden versucht, Ruby. Im Grunde hat jeder Mensch und jeder Magier das Verlangen nach Selbsterhaltung.
Manche töten, weil sie sich dazu gezwungen sehen. Manche aus Spaß. Man sollte eigentlich jeden akzeptieren, so, wie er eben ist. Doch Fakt ist auch, dass Regeln uns Ordnung geben und das sich jeder an diese zu halten hat. Denn nur so kann unser Fortbestand gesichert werden.
Der Magier, der die Chintah angegriffen hat, hat gegen solche verstoßen und dafür auch seine gerechte Strafe erhalten. So, wie es die Gesetze verlangen. Nur über Regeln können wir festmachen, was in unserer Sprache als Böse und was als Gut gilt.
Doch die Regeln waren auch mal anders. Da war es nicht schlimm jemanden zu töten. Beispielsweise als Opfergabe. Du kannst die Sachen nicht immer nur aus einer Perspektive sehen. Das ist einer der Grundzüge, die du beherrschen solltest, wenn du eine große Magierin werden möchtest.
Man sollte zuerst immer mehrere Sichtweisen betrachten, bevor man ein Urteil fällt", erklärte er ruhig. Seine Stimme hatte etwas melancholisches an sich. Ruby schwieg, doch gab sie ihm insgeheim recht.
Schweigend liefen sie weiter. Es war so eng, dass man als schlanker Mensch schon kaum hindurch passte. Ruby wurde das allmählich ein wenig zu viel. Ihre Klaustrophobie gewann langsam die Überhand.
Sie war gerade dabei in Panik zu verfallen, als sie an einem kleinen Raum ankamen. Der enge Tunnel, durch den sie eben noch gegangen waren, wurde hier breiter und mündete in eine kleine, viereckige Kammer.
Drei Fackeln hingen in diesem Raum. Eine an der hinteren Wand, eine an der linken Seite und eine an der rechten. In der Mitte stand eine Art Lesepult. Es schien aus weichem Holz geschnitzt zu sein. Wellenartige Muster durchzogen die kastanienbraune Farbe und ließen es ein wenig geheimnisvoll wirken. Ansonsten war die Kammer leer.
Ehrfürchtig trat Ruby hinter ihrem Lehrmeister ein. Nicht so recht wissend, was sie nun tun sollte. „Dies ist das Herzstück unser aller Existenz", sagte der ältere und strich fast schon zärtlich über das blanke Holz.
Ruby trat neben ihn und erblickte ein uraltes Buch. Es lag aufgeschlagen auf dem Pult. War von einer dicken Staubschicht und einigen Spinnweben überzogen. Generell schien diese Kammer nicht sehr sauber gehalten zu werden.
Überall lag Schutt und ein wenig Asche. Dreck und Spinnweben zierten alle Wände und Ecken des Raumes. Doch etwas kam Ruby bekannt vor. Unter der Staubschicht konnte man vereinzelte Buchstaben erkennen.
„Das ist meine Sprache", hauchte sie fassungslos. „Nein, du denkst, es sei deine Sprache", widersprach der Lehrmeister. „Dieses Buch ist etwas ganz besonderes. Es ist resistent gegen jegliche Arten der Fremdeinwirkung.
Man kann es durch nichts zerstören und es ändert nie die aufgeschlagene Seite. Es scheint wie festgeklebt zu sein. Versuch mal, es anzuheben", forderte er sie auf. Ruby tat wie ihr geheißen und schritt näher auf das alte Buch zu.
Ihre Hände umschlossen den ledrigen Einband. Sie zog erst ganz sachte, doch als sich nichts tat, erhöhte sie ihre Intensität. Aber all die Anstrengungen brachten nichts. Das Buch bewegte sich keinen Millimeter.
„Es geht nicht", musste sie schließlich deprimiert zugeben. Mühsam schluckte sie ihren Ehrgeiz herunter. Sie wollte dieses Buch jetzt unbedingt anheben, doch war sie sich auch der geringen Erfolgschancen dessen bewusst.
„Genau. Niemand hat es bisher je geschafft. Es stammt aus den Anfängen aller Anfänge. Von den ersten Magiern die je existierten. Diese waren Yoash mit dem Element Feuer, Shaza mit dem Element Wasser, Sayon mit Wind und Silva mit Erde.
Sie haben dieses Buch erschaffen. Sie haben ihre Kräfte gebündelt und all ihre Energie in die Erschaffung dessen gebracht. Und da dies die stärkste aller Magie ist, die es auf dieser Welt gibt, konnte sie noch niemand aufheben.
Doch das ist auch gar nicht unser Ziel. Denn es ist wie eine Art Schutzbarriere für uns. Nur dadurch ist unser Dorf für nichtmagische und unbefugte uneinsichtbar. Nur so konnten wir all die Jahre unbeschadet überleben", sagte er.
Ruby wusste nichts zu erwidern. Und das war schon ein echt seltenes Ereignis. Sprachlos starrte sie das alte Relikt an und schob ein paar Spinnweben beiseite.
„Wieso sehe ich da die Sprache der Asthenden?", hauchte sie fragend. „Das Buch spiegelt die größte Frage wieder, die in unseren Köpfen herumgeistert, ohne das wir sie je beantworten konnten.
Du denkst wahrscheinlich an etwas von deinem Zuhause. Doch dieses Buch wird dir keine Antworten liefern, nur die Frage aufzeigen", antwortete er. Es klang fast schon ein wenig bekümmert.
Ruby sah genauer hin. Es stimmte. Sie sah zwar ihre Schriftzeichen, doch immer nur ein Wort: Azuri. Nichts weiter. Es stellte nur eine unausgesprochene Frage ohne jeglichen Hinweis auf eine Antwort dar.
„Was siehst du?", wagte Ruby nach einiger Zeit zu fragen. Sie hatte sich endlich von diesem Bild losreißen können. Doch der Lehrmeister antwortete nicht. Sie merkte, dass sie wohl zu weit gegangen war.
„Tut mir Leid", murmelte sie und senkte den Kopf zu Boden. „Schon gut", meinte er nur. „Kannst du mir sagen, was wir eigentlich hier machen sollen? Also Chester, Ophelia und ich? Bisher hat uns niemand eine Antwort darauf gegeben", fragte sie weiter.
Es war ihr jetzt egal, ob sie noch eine Grenze überschritt. Sie konnte es nicht mehr ertragen, weiter in Unwissenheit gelassen zu werden.
„Was weißt du schon?", fragte er einsichtig. Ruby feierte innerlich. Er würde ihr etwas erzählen.
„Xynthia hat etwas von einer Vision geredet. Und das der Sohn des von den Menschen getöteten, zur schwarzen Magie gewechselt ist", erklärte Ruby hastig, gespannt, was ihr Lehrmeister dazu sagen würde. Dieser schwieg.
„Kennst du die Geschichte der schwarzen Magie und wie diese entstand?", fragte er nach einer Weile nachdenklich. Ruby stöhnte. „Nein, aber-", setzte sie an, wurde jedoch von ihrem Meister mit erhobener Hand sofort zum Schweigen gebracht.
„Als die Urmagier, die ersten vier Elementmagier, dieses Land betraten, waren sie sich einig. Sie würden die Menschen nicht mit ihrem Handeln beeinflussen, sondern hier nur in Ruhe leben. Sie wollten menschengeborenen Magiern, eine Chance geben zu Überleben.
Denn schon immer war man ihnen gegenüber nicht sehr aufgeschlossen. Man betrachtete sie als Hexen oder schlimmeres. Sie wurden von der Gesellschaft ausgeschlossen oder gar getötet.
Dem wollten sie entgegen wirken, in dem sie ihnen hier Zuflucht gewährten. Hier war ihr Reich. Hier konnten sie sich entfalten und ihre Magie zu schätzen lernen. Eine neue Gemeinschaft sein.
Viele Jahre verlief dies reibungslos, doch dann, dann kam er. Caleb. Er wurde mit einer anderen Schar hierher gebracht. Egal ob jung oder alt. Jeder durfte hierher. Er konnte sich hier jedoch nie richtig eingewöhnen.
Er hatte eine andere Vorstellung, wie das hier ablaufen sollte. Er wollte, wie es von so vielen der Wunsch war, und auch immer noch ist, mächtig sein. Er wollte über alle Magier herrschen. Und damit gab er der schwarzen Magie einen Anlass hervorzukommen und sich ihm zu Nutze zu machen.
Sie kehrte aus der Dunkelheit zu ihm hinauf und verführte ihn. Der letzte Rest seines guten Ichs verschwand und er wurde böse. Ab diesem Ereignis mussten wir lernen mit dem Bösen an unserer Seite zu existieren.
Also beschlossen wir den Neuen, Unerfahrenen nichts von der Existenz der schwarzen Magie zu erzählen. Sie sollten gar nicht erst in Versuchung gelangen. Doch das reichte den großen vier nicht. Nachdem sie Caleb in einer großen Schlacht besiegt hatten, wollten sie die dunkle Magie endgültig aus dem Weg schaffen.
Sie zerstören, damit nie wieder so eine Katastrophe, wie Caleb sie verursacht hatte, entstehen konnte. Doch dabei mussten sie bedauerlicherweise eines feststellen: Ihr Vorhaben war unmöglich.
Nachdem sie viele Jahre mit planen, gescheiterten Versuchen und unzähligen Opfern verschwendet hatten, erkannten sie es endlich. Sie erkannten, dass das Gute niemals ohne das Böse an seiner Seite existieren konnte. Das diese Gegensätze sich anziehen.
Nur, weil beides vorhanden ist, sind die Grenzen zu erkennen. Das ist genauso wie der Tag nicht ohne die Nacht bestehen kann. Wenn man die Dunkelheit nicht kennen würde, würde man das Licht auch nicht mehr so sehr zu schätzen wissen. Von dem Tag an, an dem die großen vier dies endlich akzeptierten, existierte die dunkle, schwarze Magie ebenso wie jede andere und wir müssen vorsichtiger sein denn je. Denn sie kann uns alle befallen.
Eigentlich erzählen wir sowas so jungen Leuten nicht, doch die Gefahr die euch droht", er schüttelte den Kopf. „Ihr solltet einfach auf alles vorbereitet sein", seufzte er.
„Was für eine Gefahr?", bohrte Ruby nach. Der Lehrmeister zögerte abermals mit seiner Antwort. „Das werdet ihr heute noch alle zusammen erfahren. Komm jetzt", sagte er und ging an ihr vorbei, wieder aus der Kammer hinaus, ohne sie noch eines weiteren Blickes zu würdigen.
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