Kapitel 29
Ausgeschlafen regte sie sich auf dem warmen Boden. Er war mit wunderbar weichen Gräsern ausgelegt, sodass es auch trotz des fehlenden Bettes recht gemütlich war. Wahrscheinlich sogar gemütlicher als auf ihrer Pritsche in der Kriegsschule.
Mit einem wesentlich besseren Gefühl als noch vor ein paar Stunden, ging sie aus dem kleinen Zelt hinaus. Draußen war es still. Einzig ein paar Vogelgesänge drangen an ihre Ohren. Denn auch wenn ein paar Chintah im Lager arbeiteten, hörte man sie nicht. Sie waren still, redeten nicht und gingen mit ihren selbst erbauten Werkzeugen so geschickt um, dass sie kaum einen Ton erzeugten.
Ein leichter Geruch nach Kräutern wehte ihr ins Gesicht, wurde aber von dem modrigen Geruch des Waldes fast gänzlich überdeckt.
Unsicher ging Ruby ein paar Schritte. Unschlüssig was sie nun tun sollte. So richtig freundlich gesinnt, waren die Chintah ihr noch nicht. Dennoch ließen sie sie frei unter den Ihren herumlaufen. Was nicht gerade von Misstrauen zeugte. Wobei sie gar nicht sicher sagen konnte, wie viele es überhaupt waren. Immer wieder sah sie ein paar Silhouetten plötzlich aus dem nichts auftauchen und genauso augenblicklich wieder verschwinden. Es war zum Verrückt werden.
Doch dann kam eine Chintah auf sie zu. Sie sah jung aus. Wahrscheinlich in ähnlichem Alter wie sie selbst es war – und in ihren Händen hielt sie ihre Waffen!
„Hier“, sagte sie mit einer wesentlich besseren Aussprache als der Chintah von gestern und drückte Ruby ihr Schwert und ihren Bogen in die Hand. Dankbar lächelte diese sie an.
Fast schon zärtlich strich sie erst über das Schwert, dann über den Bogen. Schließlich hängte sie sich beides über die Schulter und wandte ihren Blick wieder zu der Chintah. „Komm mit", sagte diese freundlich und raste los. Schnell rannte Ruby ihr hinterher, doch sah schon bald nichts mehr von ihrer Begleiterin.
Verwirrt drehte sie sich einmal um sich selbst, was ihr allerdings auch nicht viel brachte, sondern nur reichlich bescheuert aussah.
Zumindest so lange, bis sie eine kichernde Stimme vernahm: „Hier unten.“ Irritiert senkte Ruby ihren Kopf und starrte geradewegs auf eine Baumwurzel. Oder besser gesagt ein kleines Loch zwischen den Wurzeln, das in endlose Schwärze überging.
„Trau dich", rief die Chintah wieder aus diesem Loch heraus. Zögernd kniete Ruby sich nieder und streckte die Beine voran in die kleine Lücke. Es war kaum genug Platz, dass ihr Bein hindurch kam. Zweifelnd saß sie da. Die Beine schon von der Dunkelheit verschluckt, sich nicht so recht trauend weiter zu gehen. Die Angst stecken zu bleiben, war zu groß.
Allerdings sollte sie nicht mehr viel Zeit bekommen noch länger darüber nachzudenken, denn schon wurde sie auf einmal ruckartig an den Füßen in die Tiefe gerissen. Mit einem Aufschrei rutschte sie durch die kleine Lücke und passte erstaunlicherweise gänzlich hindurch. „Was sollte -", fing sie an loszuschimpfen, stoppte jedoch jäh, als sie die Pracht erblickte, die sich vor ihr auftat.
Ein kleiner Durchgang, mit einer sich kurz über ihr wölbenden Decke, suchte sich vor ihr seinen Weg. Seltsam leuchtende Fackeln brachten ein wenig Licht und doch war das Ende unersichtlich.
Ruby schauderte und blickte sich suchend nach der Öffnung um, durch welche sie herein gekommen waren, doch sie war nicht mehr zu sehen.
„Verschlossen", meinte die Chintah schulterzuckend und ging voran. Ihr schien das nicht sonderlich viel auszumachen. So ganz vertraute Ruby ihr noch nicht, doch eine andere Wahl, als ihr zu folgen, hatte sie wohl gerade nicht. Also beeilte sie sich, nicht den Anschluss zu verlieren.
Immer tiefer wurde sie durch dieses Labyrinth aus Gängen geführt. Mal ging es steiler bergauf, mal bergab. Sie hatte mittlerweile komplett die Orientierung verloren und auch wie weit sie unter der Oberfläche war, konnte sie beim besten Willen nicht sagen. Es war beklemmend.
Anfangs hatte sie sich jede Abzweigung eingeprägt, doch nach und nach hatte sie gemerkt, dass es keinen Sinn hatte. Sie waren bestimmt schon hundert Mal abgebogen und meistens gab es mehr als nur einen Weg zur Auswahl. Alleine, würde sie hier nie wieder raus finden, so viel war klar.
„Wohin gehen wir?“, fragte sie nun schon bestimmt zum tausendsten Mal. Und wieder kam die selbe Antwort: „Wirst du gleich sehen". Doch diesmal würde sie sich nicht so schnell geschlagen geben.
„Wieso sagst du es mir nicht einfach?“, fragte sie, als sie gegen etwas Seltsames lief. Es knackte unter ihren Füßen. Etwas erstaunlich spitzes bohrte sich in ihr Fleisch. Kurz aufkreischend wich sie zurück, versuchte im Dämmerlicht den Übeltäter ausfindig zu machen – und erschrak noch mehr.
Kälte durchfuhr sie, ließ all ihre Glieder erstarren. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihrem gesamten Körper und sie konnte einen zweiten Aufschrei nur knapp unterdrücken. Sie wurde blass.
Ohne großes Interesse drehte die Chintah sich zu ihr um und nahm eine jener seltsamen Fackeln von der Wand. Mit ihr beleuchtete sie das eindeutig menschliche Skelett zwischen ihnen. Die ganze Haut war schon verwesen, nur noch die verdreckten Knochen waren zu sehen. Aus leeren Augenhöhlen starrte der Kopf des Toten ihnen entgegen.
Ohne groß zu atmen, versuchte Ruby, nicht in Panik zu verfallen, was in dieser Situation definitiv nicht funktionierte. „Der hat es wohl nicht wieder raus geschafft", sagte die Chintah jedoch nur ohne große Anteilnahme und marschierte strikt weiter.
Natürlich, was auch sonst, dachte Ruby bei sich. Diese Chintah schien nicht sehr viel Mitgefühl zu haben. Kannte die dieses Gefühl überhaupt? Ruby wusste es nicht, hatte jedoch noch immer eine Gänsehaut.
Die Fackel stellte die Chintah wieder an ihren rechtmäßigen Platz zurück. Ein wenig angewidert, doch zum größten Teil nur verschreckt, folgte Ruby ihr. Versuchte dabei aber, in diesem kaum zwei Meter breiten Gang einen ausreichend großen Bogen um das Skellet zu schlagen. Sie wollte definitiv nicht so enden, wie der Mensch, der da lag.
Schweigend schritten sie noch eine ganze Weile daher – und trafen dabei auf immer mehr Skelette, die Ruby unter größter Mühe versuchte nicht weiter zu beachten.
„Wir sind da", rief ihre Führerin plötzlich, als sie vor einer massiven Holztür schließlich zum Stehen kamen. Sie war aus dunklem Holz geschnitzt. Sah im Gegensatz zu allem anderen in dieser Höhle nicht verrottet und alt aus, sondern brandneu. Sie glänzte geradezu und der edle Knauf an ihr, passte erst recht nicht in diese Gegend hinein.
Mit unergründlichem Gesicht, drehte die Chintah diesen und zog die Tür auf. Ehrfürchtig trat Ruby ein. Die Behausung wirkte wie ein richtiger Palast. Der Saal erstreckte sich so weit in die Höhe, dass die Decke für sie unersichtlich war. Die Wände gingen in einem weiten Bogen nach oben. Ähnlich wie eine Zwiebel müssten sie oben zusammenführen.
Pietätvoll ging sie ein paar Schritte weiter, bis sie schließlich vor einem riesigen Thron zum Stehen kam. Sie konnte nicht mal auf die Sitzfläche schauen, so hoch ragte er.
Noch in ihrem Bestaunen trat die Chintah neben sie. Sie wirkte betrübt. „Das war mal unser Zuhause", erklärte sie und strich wehmütig über den Thron, der sich vor ihnen auftat.
„Hier hat mein Vater gesessen. Es war alles so hübsch eingerichtet gewesen, es war beleuchtet und wir hatten alles, was wir brauchten. Wir waren vor Fremden geschützt. Uns hat es an nichts gefehlt", berichtete sie traurig.
Das war das erste mal, dass Ruby einen Chintah wirklich viel Sprechen gehört hatte und es klang so, als würden ihr gleich die Tränen kommen. Anscheinend war sie doch nicht so gefühlskalt, wie sie sich nach außen hin gab. Vielleicht war sie auch einfach nur traumatisiert.
„Was ist dann geschehen?“, fragte Ruby leise. „Der Magier kam", antwortete die andere mit gesenktem Kopf. „Es gibt einen Tunnel, der zu den Bergen führt. So hat er zu uns gefunden. Wir haben ihn freundlich aufgenommen und er hat uns zugehört. Er hat für uns die Fackeln verzaubert, damit wir sie nicht immer erneuern müssen.
Damit hat er unser Vertrauen und unsere Neugierde geweckt und wir wurden unvorsichtig. Erst als es zu spät war, haben wir bemerkt, was er wirklich war. Ein Monster. Er hat diesen Fluch auf uns gelegt und wir mussten unsere Heimat verlassen. Seit dem verfällt sie und wir müssen uns an der Oberfläche rumschlagen.“
„Das tut mir Leid", murmelte Ruby und meinte es auch so. „Aber warum zeigst du mir das?“, fragte sie dann verständnislos. „Wir brauchen deine Hilfe. Mit Gefangen nehmen, hat es nicht funktioniert, also möchten wir dein Vertrauen gewinnen. Du musst uns helfen", flehte sie.
Eins musste man den Chintah lassen: Eine ehrliche Haut waren sie. Entgegen ihres eigentlichen Willens, fragte sie skeptisch: „Was für ein Fluch?“ Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: „Du kannst uns sehen. Früher konnten wir besser mit der Umgebung verschmelzen, jetzt scheint diese Kraft schwächer zu werden. Wir können es nicht mehr kontrollieren.
Es wird gesagt, dass es an dem Sonnenlicht liegt. Wenn wir ihm länger ausgesetzt sind, schadet uns das. Deswegen haben wir hier gelebt. Hier unten. Doch der Magier hat diese Gegend unbewohnbar für uns gemacht. Er hat einen Kligan heraufbeschworen. Wenn wir hier unten drei oder mehr sind, dann kommt er. Er spürt uns mit seiner Nase auf und zerfleischt uns“, berichtete sie aufgebracht.
Erstaunt wich Ruby von ihr. Kligans waren für sie immer nur Mythos gewesen. Es gab kaum Berichte über sie. Und wenn, dann nur von verwirrten, psychisch komplett gestörten Menschen, die so eine Begegnung irgendwie überlebt, dann jedoch so traumatisiert waren, dass niemand sie mehr heilen konnte.
„Es hat schon sieben von uns erwischt", sagte sie mit Tränen in den Augen. „Ich würde euch helfen, wenn ich es könnte", sagte Ruby verzweifelt. Sie hatte doch auch keine Ahnung wie sowas ging und außerdem hatte sie den Chintah noch nicht ganz verziehen. Sie war nun mal nachtragend.
„Du bist eine Magierin. In den Legenden heißt es, dass solche einen Kligan mit Leichtigkeit töten können. Selbst wenn sie noch nicht mal wissen, dass sie Magier sind. Ruby überlegte. Sollte sie wirklich ihr Leben aufs Spiel setzen? Das kam ihr vollkommen absurd vor.
„Wenn ich es schaffe euch von dem Fluch zu erlösen, dann müsst ihr mich aber zu den Bergen bringen", verlangte sie. Das war das Mindeste, was man ihr an Gegenleistung bringen konnte, wenn sie ihnen half.
Und so gesehen brachte es ihr eigentlich nur Vorteile – sofern die alten Sagen stimmten und nicht gerade ihr letztes Stündlein angefangen hatte zu schlagen. Einen wahren Kern hatten die Legenden jedoch immer, also vielleicht bestand Hoffnung. Und wenn Ruby ehrlich war, würde sie es nicht ertragen können diese Wesen sterben zu sehen, weil sie ihre Hilfe verweigert hatte.
Sofort nickte die Chintah. „Danke", hauchte sie und sprang wieder zur Tür. „Hey, warte!“, rief Ruby und stolperte ihr so schnell sie konnte hinterher. Sich in dem Labyrinth aus Gängen zu verirren gehörte nämlich nicht unbedingt zu den Abentuern, die sie unbedingt mal erleben wollte. Nein, darauf konnte sie nur zu gut verzichten.
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