Kapitel 19
„Seid ihr alle einverstanden?“, schloss Flynn seinen Bericht. Zustimmendes Gemurmel war von den Umstehenden zu vernehmen. Naja, war jetzt kein Jubelgeschrei, aber besser als nichts.„Dann los jetzt. Wir haben nicht viel Zeit“, rief er.
Keineswegs in seiner Fröhlichkeit betrübt, sprang er galant von dem grauen Felsbrocken hinunter und übernahm die Führung. Alina, Neo, Kayra und Ruby gesellten sich an seine Seite. Zusammen preschten sie durch den Wald.
Es war gut, dass sie alle einer Kriegsschule angehörten. Denn so waren sie genug geschult im schleichen. Die Truppe bewegte sich wie lautlose Schatten zwischen den Bäumen hindurch. Waren kaum zu hören, geschweige denn zu sehen. Die allermeisten hatten sich etwas schwarzes übergezogen, um noch besser geschützt zu sein.
Ruby hatte nur ihr weißes Gewand. Mehr besaß sie schlichtweg nicht. Deswegen war dies für sie unmöglich gewesen – doch nicht tragisch.
Langsam glitten die Gestalten immer näher ihrem Ziel entgegen. Keiner sprach, keiner gab auch nur einen Mucks von sich. Alle waren sie höchst konzentriert. Nach etwa der Hälfte des Weges, trennten sie sich.
13 Auszubildende schlugen einen Weg nach links ein und verschwanden schon bald außer Sichtweite. Zwei andere rasten wie wild in unterschiedliche Richtungen davon. Zu fünft – Kayra, Ruby, Flynn, Neo und Alina – liefen sie nun alleine weiter. Geradewegs auf den kleinen Hügel zu.
Schnell duckten sie sich wieder hinter die ein Kreuz bildenden Bäume, den Blick starr auf ihr Ziel gerichtet. „Wer macht es?“, fragte Ruby. Neo und Alina drehten sofort ihre Köpfe weg. Flynn sah sie bedauernd an. „Ich kann nicht. Ich muss mich um den Rest kümmern", flüsterte er, während Kayra mit sich zu ringen schien. Sie wollte gerade ihren Mund aufmachen, als Neo sich zu Wort meldete: „Ich denke, dass Ruby dafür am besten geeignet ist. Großmeister Zhan hat sie doch sowieso schon unter Beobachtung und wartet nur auf eine Gelegenheit sie zu bestrafen".
„Da hat er recht“, sagte Alina leise. Kayra erwiderte nichts. Ruby atmete indes tief durch. Im Grunde hatten ihre Freunde recht. Und, wenn alles gut ging, würde ihr sowieso nichts passieren. „Ist gut. Ich mach's", stimmte sie schließlich zu und erntete dafür einen dankbaren Blick von Kayra.
„Sorgt ihr dafür, dass der Rest klappt“, rief Ruby noch über die Schulter zurück, bevor sie auf den kleinen Hügel stieg. Der große Baum, der darauf stand, spendete große Schatten, von welchem es in der Nacht eigentlich schon genug gab.
Zögernd legte sie sich auf den Boden. Auf die sanften Gräser. „Kann mich jemand hören?“, rief sie auf den Boden. Genau auf der Stelle, wo sich das Gras aus dem Erdreich gelöst hatte und die Laute der Gefangenen erklungen waren. Doch keine Antwort kam. Enttäuschung durchfuhr Ruby – und doch hatte sie auch nicht wirklich etwas anderes erwartet.
Sie bekam aus den Augenwinkeln mit, wie ein paar Mitglieder der Gruppe sich in einem weiten Kreis um sie positionierten. Die anderen waren auf verschiedene Posten zwischen hier und dem Lager aufgeteilt.
Flynn hatte in den letzten Stunden den Wald so weit ausgekundschaftet, dass er gute Verstecke gefunden und gebaut hatte. Auch hatte er den Großmeister verfolgt und herausgefunden, wo er zur Zeit war. Eine Auszubildende hatte den Auftrag ihn hierherzulocken, während die versteckten auf dem Weg sicher gingen, das alles seinen rechten Platz hatte und immer den nächsten vorwarnten, bevor der Großmeister zu ihnen kam.
Hier hatten sie dann genug Zeugen für ihr großes Finale.
Nun hing es nur noch an Ruby. Sie musste überzeugend sein, auch wenn sie selbst nicht wusste, ob das was sie taten so richtig war. Überhaupt funktionieren konnte. Sie musste es irgendwie schaffen zu schauspielern. Wenn das mal gut ging. Trotz ihrer Zweifel musste sie es einfach schaffen.
Langsam richtete sie sich auf. Sie würde ein Signal bekommen, wenn es so weit war. Noch ein paar mal tief durchatmend, setzte sie sich auf ihre Knie. Den Oberkörper aufrecht, die Hände an eben diesem anliegend, die Beine angewinkelt. Sie war nun kaum einen Schritt von dem viereckigen Stück entfernt. Starrte es an, als könne es sich von selbst aus der Erde lösen. Als müsste sie nur darauf warten, dass es dies tun würde. Als würde das von selbst geschehen. Doch wie erwartet passierte nichts.
Nur ihre Anspannung wuchs mit jeder Sekunde, die vorüber strich. Sie versuchte alles auszublenden. Nur noch sich selbst wahrzunehmen. Wie so oft schloss sie die Augen. Es half ihr einfach. Manchmal war die damit verbundene Dunkelheit besinnlicher als alles andere. Man konnte sich viel besser auf sich selbst konzentrieren und in schwierigen Situationen die Kontrolle behalten. So wie jetzt. So kam es allerdings auch, dass sie fast den Warnruf überhörte.
Erschrocken zuckte sie zusammen, als das Tiergeräusch erklang. Ein Kautz. Flynn hatte ein Stück Holz geschnitzt, das sich genauso anhörte, wie diese Eule. Er trug es immer bei sich und gab es nie an jemand anderen. Großmeister Zhan würde jeden Moment hier sein. Sie hörte schon die panische Stimme ihrer Mitauszubildenden, die drängend auf ihn einredete.
„Da geht irgendetwas komisches vor sich. Das müssen Sie sehen!“, immer weiter plapperte sie mit hoher Stimme in seine Richtung. Die Augen angstvoll aufgerissen, wie Ruby zu ihrem Bedauern nun schon erkennen konnte. Wieso kann ich nicht so gut schauspielern?!, dachte sie bei sich, ließ es aber auch darauf beruhen. Solche Fragen brachten sie jetzt nicht weiter.
Schnell ließ sie ihre Hände über dem Gras schweben. So, als wolle sie dasselbe erreichen, wie ihr Großmeister wenige Stunden zuvor. Mit großen Augen kam dieser zu ihr getappt.
„Nein!“, schrie er. Seine Augen loderten wütend und doch auch angstvoll auf. Das Braun seiner Iriden wurde kälter und kälter. Tiefe Furchen bildeten sich auf seiner Stirn. Er blieb stocksteif stehen.
Ruby ignorierte ihn.
"Bitte geh auf!“, dachte sie immer und immer wieder. Legte all ihre Kraft in diesen einen Satz. Ließ ihre Hände über dem Viereck schweben. Genauso, wie sie es gesehen hatte. Ihre Augen ruhten auf dem Gras. Doch nichts tat sich. Sie schloss sie. Dachte noch intensiver nach.
Und auf einmal hatte sie wieder dieses Gefühl in sich. Jenes, welches schon beim Training in ihr aufgeflammt war. Wieder entglitt ihr die Kontrolle über sich selbst, nur das es diesmal keine Flammen waren, die sich hungrig ihren Weg aus ihrem Körper bahnen wollten. Diesmal tobte in ihr ein gewaltiger Sturm. Die Winde drohten sie umzuhauen.
Panisch schnappte Ruby nach Luft, die ihr augenblicklich aus den Lungen gepresst wurde. Sie hatte das Gefühl nicht mehr atmen zu können, als sich ein riesiger Wirbelsturm um sie herum ausbreitete. Tornadomäßig umschloss das Tosen des Windes sie. Äste, Blätter und ganze Büsche wurden in den Sturm gezogen und umkreisten sie. Ruby konnte nicht mehr kontrollieren was geschah. Sie fühlte sich wie versteinert. Der Sturm bestimmte selbst.
Ihre Mitauszubildenden drohten ihm ebenfalls anheim zu fallen. Wilde Rufe wurden laut, als sich alle zu retten versuchten. Zu retten vor ihr, Ruby. Angst durchlief jede ihrer Adern. Am Rande bekam sie mit, wie Großmeister Zhan sich die Seele aus dem Leib schrie, aber sie konnte keine Worte entziffern. Aber es klang grauenvoll. Hysterisch. Hatte er Angst vor ihr oder um sie?
Ruby versuchte den Sturm wieder einzufangen, doch er hatte sich längst verselbstständigt. Dann geschah es. Das Versteck öffnete sich.
Genau wie zuvor beim Großmeister, schallten ihr Trauergesänge und angsterfülltes Jaulen entgegen. Die verzweifelten Rufe zerrissen einem das Herz. Doch am meisten durchdrang der eiserne Schrei des Großmeisters die Luft. Er stürzte zu ihr, stieß sie beiseite und übernahm ihren Platz. Er konzentrierte sich ebenfalls und wandte wieder seine Magie an, ließ die Falltür zu ihrem ursprünglichen Platz gleiten.
Erschrocken purzelte Ruby den kleinen Hügel hinunter. Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Auf einmal war der ganze Wirbelsturm hinfort. Die Lichtung sah wieder so normal aus, als wären nicht wenige Sekunden zuvor noch Büsche durch die Gegend geflogen. Ruby war leer, ausgelaugt. Sie fühlte sich kraftlos. Doch die Zeit das zu verdauen bekam sie ebenso wenig, wie Hilfe.
Erschrockene Ausrufe erklangen und vier Ausbilder traten zu ihr. Yengon, Legon, Lenoh und Kaigo. Grob zogen die Ausbilder für Schwertkampf, Geschichte, Kampf ohne Waffe und Strategie sie am Arm hoch. Yengon hielt ihren linken Arm fest, Lenoh ihren rechten. Die Griffe schnürten ihr das Blut ab. Kurz über dem Boden schwebte sie in der Luft. Wusste nicht, wie ihr geschah.
Kaum war sie gefangen, stürzten sich die anderen beiden Ausbilder auf den Großmeister. Eindringlich redeten sie auf ihn ein. Schienen ihn zu irgendetwas zu zwingen, doch Ruby bekam nicht viel mit. Ihr Schädel brummte und ihre Arme fühlten sich langsam taub an bei so wenig Blut, wie durch die festen Griffe noch hindurch kam.
Geistesgegenwärtig versuchte sie sich zu wehren, doch hatte keine Chance. Die Geräusche um sie herum, wurden rauschender. Dann bekam sie einen Schlag auf den Kopf. Ihr Blick wurde immer unklarer, die Stimmen der anderen schienen nun nur noch aus weiter Ferne zu kommen. Sie hörte noch einen entsetzten Schrei, dann verlor sie gänzlich das Bewusstsein.
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