- Kapitel V -
Es ist Weihnachten, und das ist neu für mich. Herrn Schelling hat sowas nicht interessiert. Bei ihm war jeder Tag wie der andere. Ich glaube, dass diese religiösen Feste nur noch von wenigen bewusst gefeiert werden. Aber Alessandro sind genau diese Tage wichtig.
Ich wache sehr früh auf und starre aus dem Fenster.
Was hilft Alessandro, diese nie erreichte Utopie vom guten Menschen trotzdem anzustreben? Was lässt ihn diese kaputte Welt und diese machtbesessenen Menschen aushalten? Hat er sich mit seinem Garten inmitten von hohen, dichten Hecken seine eigene Welt geschaffen, damit er vergessen kann, dass der Rest der Welt nicht so ist? Oder quält er sich jeden Tag wieder mit dem Furchtbaren, Unabänderlichen? Und ich kriege es nur nicht mit, weil ich ihn noch nicht so gut kenne? Sind diese Ideale nur Hirngespinste, und in Wahrheit würde er keinen Finger rühren, sobald es für ihn gefährlich würde?
Diese letzte Frage kann ich mir beantworten. Wenn er zu feige wäre, das richtige zu tun, hätte er mich verraten oder einfach verrecken lassen. Nein, feige ist er nicht. Und dumm auch nicht. Naiv? Eigentlich auch nicht. Er ... er IST das, was er glaubt.
Er weiß, dass die Figuren auf seiner Kommode damals nicht wirklich durch die Wüste gewandert sind. Aber er weiß genau so sicher, dass in allem, was in diesem dicken Buch "Bibel" steht, tiefe Wahrheiten stecken, dass letztlich alles ein gutes Ziel hat. Ich kann sticheln und bohren und zweifeln, so viel ich will. Er hat nicht auf alles eine Antwort, aber er hat eine Ehrlichkeit in seiner Überzeugung, die mich dazu bringt, ihm das alles abzunehmen. Er ist glaubwürdig. Die Unruhe in mir legt sich wenigstens ein bisschen.
Kurz darauf steckt Alessandro seinen Kopf zur Tür rein.
"Guten Morgen, ICH. Hast du gut geschlafen? Ich freue mich zu sehen, wie sicher du dich inzwischen bewegst. Wir sollten bald mal Dein Bein röntgen. Dann kann ich sagen, wann du es wieder belasten kannst."
"Guten Morgen, Alessandro. Ja, das ist eine gute Idee. Ich könnte grade Ablenkung vertragen. Aber heute ist erst einmal Weihnachten. Jetzt darfst du mich einführen in deine vielen Traditionen und Geheimnisse um das heutige Fest."
Ich ziehe mich an und lasse mir von Alessandro die Treppe runterhelfen. Wir frühstücken gemütlich, und dann erlebe ich, was für Alessandro "Weihnachten" bedeutet. Meine innere Unruhe wird noch ein bisschen leiser.
Als erstes holt er einen Nadelbaum im Blumentopf von der Terrasse ins Wohnzimmer. Dann macht er Musik an und summt die Melodien mit, während er diesen Baum mit Glaskugeln, Strohsternen und einer Lichterkette behängt.
"Früher haben sich die Menschen einen Baum im Wald abgesägt und ins Wohnzimmer gestellt. Sie haben echte Bienenwachskerzen daran befestigt. Das alles ist heute verboten, aber mit Blumentopf und Lichterkette ist es in Ordnung."
Einen Moment hält er inne, bevor er die Figuren auf der Kommode bei einer Art kleinem Schuppen ankommen lässt.
"Hab ich dir eigentlich schon die Geschichte von Weihnachten erzählt? Wenn nicht, dann machen wir das nachher."
"Gerne, ich bin allmählich echt gespannt darauf."
So hangeln wir uns durch den Tag. Mit traumwandlerischer Sicherheit macht und tut er den ganzen Tag lang, was er wohl schon sein ganzes Leben lang an genau diesem Tag in dieser Reihenfolge gemacht hat. Dabei erklärt und zeigt er mir alles, und ich laufe einfach immer mit.
Ich kann nicht sagen, was in meinem Gast vorgeht. Heute Morgen war er sehr unruhig, fast schon unausgeglichen. Das ist im Laufe des Tages seiner natürlichen Neugierde gewichen. Er hat beobachtet, gefragt und geholfen. Jetzt ist es Abend, wir sitzen am Kamin, und er bittet mich, ihm die Geschichte zu diesem Fest zu erzählen. Während ich ihm mit der Bibel in der Hand die Weihnachtsgeschichte erzähle, lauscht er aufmerksam - auf meine Worte und in sich hinein. Unsere vielen, vielen Gespräche in den letzten Wochen haben uns einander sehr nahe gebracht. Vertrauen ist gewachsen. Seit unseren ersten Gesprächen hat er konsequent alles Neue den Fragen untergeordnet, wer er ist, was er fühlt, wie es für ihn weitergehen wird. Er fühlt das Staunen der Hirten, hört den Schrei des Neugeborenen, steht mit den Königen an der Krippe. Er ist bewegt.
Aber wie bei allen Gesprächen vorher findet er auch heute nicht die Antwort auf die Frage nach seinem ICH. Ich dränge nicht, versuche nicht, ihn in irgendeine Richtung zu schubsen. Er muss seinen Weg in seinem Tempo gehen. Aber manchmal macht es mich schier verrückt, dass er immer wieder vor derselben geschlossenen Tür strandet. Ich spüre immer deutlicher, dass er begierig lernt, tief fragt und doch damit irgendein Loch in sich drin nicht füllen kann.
Gleichzeitig gehen die vielen Gespräche, Fragen und gemeinsamen Suchen nach Antworten auch an mir nicht spurlos vorüber.
Wie kann ich mit all dem, was ich mitbringe, und mit all dem, was diese Welt jetzt darstellt, weiter leben? Weiter funktionieren? Soll ich immer noch mein stilles Ding machen und all das Furchtbare, das mit ICH in mein Leben geplatzt ist, ignorieren?
Andererseits - kann ich das jetzt wohl nicht mehr verdrängen. Und auch nichts daran ändern. Wer bin ich, dass ich daran etwas ändern könnte? Und da ich es nicht ändern kann - wie lange werde ich diese Diskrepanz aushalten, ohne daran kaputt zu gehen?
Kämpfen? Bin ich Don Quichote und fechte mit Windmühlenflügeln? Nein, das ist Unsinn und hilft ICH nicht weiter. Weglaufen? Aber wo sollte ich hin? Gibt es noch einen Ort auf diesem Planeten, wo Freiheit und Würde, Toleranz und Hoffnung existieren? Wo sollte ich das suchen? Wie dorthin gelangen? Und wie dabei ICH mit an dieses rettende Ufer bringen?
Mir wird immer klarer, dass ich mich der neuen Realität stellen muss, dass ich im wörtlichen und übertragenen Sinne meinen stillen Garten verlassen muss. Und, dass ich nichts anfangen, aufhören oder ändern kann, das nicht auch das Leben und die Würde von ICH mit einschließt. Solange er nicht existieren darf als das, was er ist, in Würde und Freiheit, bin ich seine einzige Möglichkeit, überhaupt zu leben. Und das bedeutet für mich: raus aus der Kompfortzone, rein in den Widerstand. Und ...
Hm. Koste es, was es wolle? Ich glaube ... ich kann nicht zurück vor die Zeit mit ICH. Also: koste es, was es wolle.
Der Weihnachtsabend geht sehr still und nachdenklich zu Ende. Wir gehen gemeinsam nach oben, stehen gemeinsam auf dem Balkon, der vor unseren Zimmern zum Garten hin liegt, zittern beide ein wenig, weil wir keine Jacken anhaben, greifen beide intuitiv nach der Hand des anderen, damit wir nicht verloren gehen in unserem Meer aus viel zu vielen Fragen ohne Antworten. Ohne ein Wort nehmen wir einander in den Arm und gehen in unsere Betten. Eine Lösung haben wir nicht. Aber die Gewissheit, dass wir zu zweit sind in diesem Dilemma. Und das ist mehr als nichts.
Nach all dem, was ich in den letzten Wochen von Alessandro und seinen zahllosen spannenden Büchern gelernt habe, konnte ich diese Weihnachtsgeschichte ganz gut in mein Bild einbauen. Es ist die Sehnsucht nach dem Erlöser, ein Neugeborenes ist ein Hoffnungsträger. Die Stimmung war ganz besonders, während er mir diese Geschichte der Hoffnung erzählt hat. Wenn ich ihm zuschaue, wie er lebt, liebt und glaubt, dann wird mir klar: beim Leben, bei Religion, bei was auch immer in dieser Welt geht es nicht um Wissen und Verstehen. Sondern um Fühlen und Vertrauen. Und ich vertraue Alessandro so wie vor ihm nur Merlin.
Nur leider ändert das nichts daran, dass wir beide hier eingesperrt sind und ich allmählich verrückt werde. Wo soll ich hin wenn nicht hier? Wer oder was soll ich sein wenn nicht nur die tickende Zeitbombe hinter verschlossenen Türen? Kann ich überhaupt etwas ändern an meiner Situation, etwas verbessern, ohne Alessandro in Gefahr zu bringen? Denn das ist für mich klar: ihm darf nichts geschehen. Seine Güte soll ihm nicht zum Schaden werden.
Der Weihnachtsabend hatte einen stillen, einvernehmlichen Abschluss, als wir gemeinsam in der Kälte auf dem Balkon gestanden und uns aneinander festgehalten haben. Jetzt ist es drei durchgrübelte Tage später. Nüchtern, eintönig wie alle anderen Morgen auch. Wieder stehe ich im Dunklen am Fenster und empfinde diese Spannung zwischen dem gut Gewollten und dem böse Gemachten auf einmal so sehr, dass ich schreien könnte.
Ich muss hier raus!
Mein ganzes Leben lang war mein Radius nie größer als mein Käfig, das Labor, die Wohnung vom Schelling. Jetzt ist es ein Gästezimmer, eine Bibliothek, ein Wohnzimmer mit Kamin, ein verwunschener Garten und gleichzeitig die unendliche Weite der Worte, der Bücher. Mir platzt bald der Schädel, wenn sich meine geistige Welt immer noch weitet und weitet - und mein Körper gleichzeitig eingesperrt ist in dieser grausamen, mutwillig zerstörten Welt.
Und plötzlich schlagen Verwirrung und Überforderung um in Wut. Wut auf die, die mich "gemacht" haben, Wut auf die, die mich benutzt haben. Wut auf den, der mich gekauft und gequält und jeden Tag wieder erniedrigt hat.
Was will dieses Leben von mir? Warum bin ich? Warum kann ich lernen und verstehen und fragen und antworten?
Ich kann fragen so viel ich will - ich ändere damit NICHTS an den Umständen meines Lebens. Ich weiß noch immer nicht, wer ich bin. Noch viel weniger, was ich mit dem Rest meines Lebens tun soll. Wo ich sein werde. Ich kann doch nicht für immer Alessandros Gästezimmer blockieren, mich von ihm durchfüttern lassen und auf das Unwahrscheinliche, das Unmögliche warten!
Hilflos sehe ich zu, wie ICH gesünder, noch gebildeter und gleichzeitig immer gestresster wird. Er wirkt ungeduldiger. Unruhiger. Schläft schlechter. Tigert ziellos durchs Haus. Starrt immer öfter hinaus in den Garten, hinüber zum Wald. Und ich kann das gut verstehen. Er wird gesund, er lernt, aber er hat keinen Sinn, kein Ziel.
Wozu habe ich ihn gerettet, wenn er doch dazu verdammt ist, sich zu verstecken, unsichtbar zu sein? War seine Rettung sinnlos? Er verrennt sich in seinen Zweifeln und verliert dabei die Suche nach sich selbst. Und dabei kann ich ihm nicht helfen.
Alessandro steht in der Tür. Schaut mich fragend an. Ich sehe seine Spiegelung im Fenster, starre weiter hinaus.
"Geht es dir nicht gut? Du wirkst so ... verloren. Und aufgeregt. Und ... Kann ich dir helfen?"
"Das tust du doch schon die ganze Zeit. Diese ... Hoffnungsgeschichte gestern Abend, die hat mich tief berührt. Aber ich frage mich, ob es auch für mich, für dich, für diesen geschundenen Planeten und diese versklavte Menschheit eine Hoffnung gibt. Ich weiß nicht, wie ich aushalten soll, dass ich so überhaupt nichts tun kann."
Ich drehe mich zu ihm um. Ich höre selbst die Verzweiflung in meiner Stimme. Ich habe Fühlen gelernt. Und manchmal ist mir zu viel, was ich dabei entdecke.
Mein Freund überlegt einen Moment.
"Komm, lass uns frühstücken. Und dann will ich dir etwas zeigen."
Jetzt hat er mich schon wieder. Sofort springt meine Neugierde an und vertreibt die Ruhelosigkeit. Wir frühstücken gemütlich, lassen uns Zeit für Kaffee und selbst gebackene Brötchen, räumen gemeinsam den Esstisch frei.
Dann geht er an seinen Schrank mit Spielen und holt ein Puzzle heraus.
"Setz dich. Ich will dir mit diesem Puzzlespiel etwas erklären."
Kurz zuckt mir eine Erinnerung durch den Kopf.
Das Bild vom "Puzzle" hat Alessandro schon einmal benutzt. Ganz am Anfang.
Da dringt seine Stimme wieder zu mir durch. Schnell konzentriere ich mich auf meinen Gastgeber und Freund.
Weihnachten hat ICH wohl ein bisschen abgelenkt und ihm eine Ahnung von Gemütlichkeit und Gemeinschaft vermittelt. Aber jetzt ist er schon wieder so verkrampft. Mal sehen, ob er meinem Gedankengang folgen kann. Ich greife mir noch einen feinen Bleistift und lege los.
"Du kennst doch Puzzle, oder? Man hat lauter einzelne Teile, die nur auf eine ganz bestimmte Weise aneinander passen. Dieses hier hat 500 Teile."
Er nickt, hört aufmerksam zu, antwortet.
"Der Schelling hatte ein paar einfache Puzzle da. Aber das hier ist viel größer."
"Normalerweise puzzelt man das mit dem Bild nach oben, hat die Vorlage auf dem Deckel und kann sich an Farben und Mustern orientieren."
Wieder nickt er.
"Wir machen das heute mal andersrum. Wir drehen alle Teile so, dass wir nur die Rückseite sehen. Somit können wir uns beim Puzzeln nur an den Formen der Teile orientieren. Wir können den Rand raussuchen und schon mal legen, aber dann müssen wir alle anderen Teile nach Formen sortiert ausbreiten, genau hinschauen oder uns durchprobieren."
"Verstehe ich, aber wozu soll das gut sein? Das ist doch viel schwieriger."
"Das machen wir so, damit du ein Bild bekommst dafür, wie es ist, sein ICH zu finden, und was dabei alles eine Rolle spielt. Ich will dir aber auch zeigen, dass es durchaus möglich ist."
ICH schmunzelt.
"Eieiei - gleichzeitig Formen finden UND auf der Metaebene mitdenken. Ob ich das hinkriege?"
"Wenn nicht du, wer dann?"
ICH reißt seine Augen weit auf.
"Wieso ... ich?"
"Weil du ein ziemlich schlaues, waches und neugieriges Wesen bist, das normalerweise nicht locker lässt, bevor es ein Problem gelöst oder zumindest verstanden hat."
"Okay - ich ... hast ja recht, ich kann eigentlich nie aufhören zu fragen. Aber was hat das mit einem verdrehten Puzzle zu tun?"
"Lass uns erstmal anfangen. Den Rand legen wir zuerst. Dann haben wir ein gutes Gefühl für die Fläche."
Wir kippen die Teile auf den Tisch und fangen an zu sortieren. Randteile, Mitte, alles auf links drehen. Wir fügen relativ zügig den Rand zusammen und machen uns dann an die Geduldsaufgabe, alle anderen Teile zu sortieren. "Normale" Teile mit zwei Pibbaxen. Solche mit nur einem oder sogar drei Pibbaxen. Und schließlich die mit keinem oder vier Pibbaxen. Jetzt ist der ganze Tisch voll mit den vielen Puzzleteilen. Nach und nach gewöhnen wir uns an die Formen, wissen, wie wir suchen müssen und kriegen immer mehr Stücke auch in der Mitte unter. Manchmal suchen wir uns dusselig nach einem bestimmten Teil. Dann kabbeln wir uns, wer es legen darf, und lachen gemeinsam. Ab und zu essen wir etwas zwischendurch.
In ICH's Kopf arbeitet es sichtbar. Er versucht, selbst drauf zu kommen, was ich damit ausdrücken will. Irgendwann gegen Abend hört er einfach auf zu puzzeln.
"Spucks aus. Ich will das jetzt kapieren."
"Okay, dann los."
Ich schnappe mir den Stift.
"Sage mir Dinge, die du schon immer über dich weißt. Sag mir alles über dein Außen und dein Innen."
Mit irritiertem Blick fängt er an aufzuzählen, und ich schreibe jedes Stichwort ganz klein auf eines der schon gelegten Puzzlestücke. Stichworte wie klein, Ohren und Schwanz kommen auf Randstücke. Andere wie intelligent, neugierig oder "kann gut klettern" landen auf den inneren Puzzleteilen. Lange, bevor er eigentlich versteht, worauf ich hinaus will, fängt er an, mich zu dirigieren. Er bringt die Stichwörter in eine intuitive Ordnung, über die ich nur staunen kann, weil sie sich so mit meiner Absicht deckt. Wir fangen an, über die einzelnen Worte zu reden, lassen uns Zeit. ICH stellt Verknüpfungen her. An seinem Tonfall kann ich oft hören, ob er selbst diese Eigenschaft von sich mag oder eher nicht.
Ab und zu puzzeln wir wieder. Aber egal, wie viele Eigenschaften ihm und mir zu ihm einfallen - es liegen immer schon viel mehr Puzzlestücke da, als wir beschriften können. Ab und zu, wenn er grade denkt oder ein bestimmtes Teil sucht, schreibe ich, seiner Ordnung folgend, noch Worte dazu, die ich in ihm sehe. Er lacht, freut sich, staunt oder fragt nach. Vieles will er mir nicht glauben. Immer wieder schaut er sich, seine Hände oder sein "Inneres" an. Einmal geht er zum Spiegel in den Flur. Als er wieder kommt, sagt er nur:"Stimmt, ich hab tatsächlich braune Augen mit Klecksen drin."
Meine Augen sind schön. Neugierig. Wach und lebendig. Ich fühle mich bei all dem so zufrieden. Ich habe mich noch nie in meinem Leben so ... normal gefühlt wie hier in diesem Haus, in dieser Obhut, bei diesem respektvollen Menschen.
Nach sieben intensiven Stunden ist das Puzzle fertig gelegt, aber höchstens die Hälfte der Teile ist beschriftet.
"Das hat Spaß gemacht. Aber ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung, was du mir damit sagen willst."
"Kein Problem. Stell dir vor, dein Leben ist wie dieses Puzzle. Du weißt am Anfang nicht, wo du hingehörst, wer dir nahe stehen wird, was dir alles begegnen und passieren wird. Du kannst den Verlauf und das Ende nicht sehen. Darum die Rückseite. All das, was jeder außen an dir sehen kann, steht auf den Randteilen - deiner Schale sozusagen. All das, was in dir drin passiert oder wirkt, was sich verfestigt oder sich wandelt, steht auf den Innenteilen."
Ich nehme mir ein Teil mitten heraus, schaue mir die Vorderseite an, zeige sie ihm aber nicht.
"Manche deiner Eigenschaften kennst du selbst gar nicht. Du bist noch auf der Suche. Ich dagegen kann aus meiner anderen Perspektive manches an und in dir erkennen, weil ich einen anderen Blick habe."
Ich lege das Teil zurück.
"Es gibt auch Teile, die nur du kennst, aber alle anderen nicht."
Sofort greift auch er sich ein Stück raus und schaut sich die Vorderseite an.
"Und es gibt - dein Leben lang - Eigenschaften und Fähigkeiten, die nie jemand zu Gesicht bekommt. Auch du nicht. Wir kennen sie nicht, können sie nicht in Worte fassen. Wir wissen vielleicht nicht mal, dass sie existieren. Und dennoch sind sie da."
"Ah! Das sind die ganzen Teile, die für das fertige Puzzle nötig waren, aber nicht beschriftet sind."
Ich freue mich, wie sehr er bei der Sache ist.
"Ganz genau. Und so, wie diese ganzen Teile ein vollständiges Bild ergeben, so stellen all deine Eigenschaften, Fähigkeiten, Gedanken und Träume dich und deine unverwechselbare Persönlichkeit dar. Einige Teile liegen schon an ihrem Platz, andere schwirren noch unordentlich auf dem Tisch herum. Und für all die Jahre, die du noch leben wirst, werden viele, viele weitere Puzzlestücke dazu kommen. Du wirst dich verändern, du wirst klarer werden.
Ich fürchte ein bisschen, dass du glaubst, meine Frage nach deinem Namen und deinem ICH sofort beantworten zu müssen. Aber das ist Blödsinn. Das ist ein spannender seelischer Prozess, der sich nicht beschleunigen lässt."
Auf einmal wird auch mir etwas klar.
"Ich habe die ganze Zeit gedacht, es sei gut, dass du dich beschäftigst, während ich arbeite. Dass die Bücher dir die Warterei vertreiben und dir helfen würden. Aber jetzt ... Kann es sein, dass du die ganze Zeit annimmst, du wärst mir etwas schuldig? Du müsstest so schnell wie möglich hier weg, damit ich wieder in Sicherheit bin?"
Unruhe erfasst mich, ich schaue ihn forschend an und warte auf seine Antwort.
"Ich ... nein, ich glaube nicht. Ich empfinde schon eine große Verantwortung dir gegenüber, aber ich fühle mich nicht getrieben. Nur - dieses permanente Eingesperrtsein zusammen mit diesem Verantwortungsgefühl führt mir täglich vor Augen, dass ich machen kann, was ich will. Ich werde immer eingesperrt bleiben. Mein Leben lang. Ich werde da draußen immer gejagt, niemals geachtet werden. Mein Leben ist eine Sackgasse, bevor es richtig begonnen hat. Und das macht mich verrückt!"
Es ist wie der unangekündigte Ausbruch eines Vulkans. ICH ist immer lauter geworden, immer aufgewühlter, immer verzweifelter. Abrupt humpelt er zum Fenster und zeigt in den Garten.
"Ich ... will da raus! Ich will leben!"
ICH fängt an zu weinen. Er ballt seine Hände zu Fäusten. Auf einmal klingt er sehr bitter und hart.
"Warum erzählst du mir Hoffnungsgeschichten, wenn es für mich keine Hoffnung gibt?"
Das alles kommt nach dem schönen Tag gestern und der entspannten Konzentration heute für mich so plötzlich, dass ich nicht weiß, was ich antworten soll. Stumm schaue ich in seine vor Trauer ganz dunklen Augen. Da wischt er mit der Hand das Puzzle vom Tisch, humpelt aus dem Raum und knallt die Tür zu. Die Teile prasseln weit verstreut zu Boden.
Ich höre ihn auf der Treppe. Dann ist es still im Haus. Mein Kopf ist wie leer gefegt, ich kann keinen klaren Gedanken fassen, während ich das Puzzle einsammle und die Teile zurück in die Schachtel lege. Auch auf meinen Sinn legt sich Trauer.
Was habe ich übersehen heute? Wann habe ich nicht genau genug hingehört? Wo sind wir falsch abgebogen? Was hätte ich anders machen müssen oder können, damit ICH nicht in dieser inneren Dunkelheit landet? Und wie kriege ich da wieder Licht rein für ihn?
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18.4.2022
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