- Kapitel III -
Der Weg zur Praxis ist schnell gemacht. Dort erwartet mich im Lager ein ziemliches Durcheinander, denn in letzter Zeit hatten wir sehr volle Tage.
Hier könnte mal wieder aufgeräumt werden ...
Aber das bringt mich auf eine Idee! Entschlossen werfe ich den ganzen Haufen der durcheinander an der Wand lehnenden Krücken um und fische mir zwei große Kinderteile raus. Die könnten für den Kranken die richtige Größe haben. Dann öffne ich dahinter einige Schränke und präpariere alles so, als hätte ich etwas gesucht und dabei die Krücken umgeworfen.
Ich überlege, wie ich meinem Gast das Gehen mit einer Krücke beibringen soll. Die Treppe runter kommt er damit auf keinen Fall. Vielleicht muss ich ihn am Anfang auch auffangen - und dabei wieder berühren.
Am besten rede ich vorher mit ihm darüber.
Ich schließe die Praxis wieder ab und gehe zurück ins Haus. Kaum laufe ich die letzten Treppenstufen hoch, sitzt der Mann schon wieder senkrecht im Bett. Ich stelle die eine Gehhilfe in die Ecke und setze mich mit der anderen zu ihm.
„So, hier ist die Stange zur Freiheit. Aber zweierlei möchte ich erst noch erwähnen. Sie sollten immer vor dem Aufstehen ein paar Gymnastikübungen machen, um Ihren Kreislauf anzukurbeln. Und Sie müssen damit rechnen, dass es noch nicht geht. Dass Sie umfallen. Ich werde sie begleiten, nicht berühren. Aber sollten Sie fallen, dann muss ich Sie auffangen, damit Sie nicht auf die Hand fallen."
Ich schließe kurz die Augen und hole tief Luft.
Er wird mich anfassen. Ich muss auf der Hut sein! Es wird Zeit, dass ich wieder das Pokerface aufsetze. Wie beim Schelling. Das wird hier noch oft vorkommen. Darauf sollte ich vorbereitet sein.
„Gut!"
Ich mache ein paar Übungen mit den Armen und schaue ihn schließlich erwartungsvoll an.
„Sagen Sie mir bitte, was ich tun soll."
Er lächelt. Und das kommt so spontan, dass es ehrlich wirkt. Aber es verwirrt mich nur um so mehr. Ich bin das einfach nicht gewohnt.
„Beine aus dem Bett, und dann langsam."
Gehorsam setze ich mich auf die Bettkante und atme gegen den Schwindel an.
Mann, gehts mir dreckig! Das hätte ich mit Sicherheit alleine nicht mehr lange durchgehalten.
Der Arzt schaut mir zu und zeigt mir, wie ich sicher aufstehen kann. Ich komme sogar ohne seine Hilfe in die Senkrechte. Aber dann dauert es etwas, bis ich meine drei Beine sortiert habe. Es zeigt sich bald, dass man auch mit einem gesunden Bein nicht ohne Grund zwei Krücken hat. Das ist eine echt wacklige Angelegenheit.
Ich komme einmal bis zum Stuhl und zurück zum Bett - und fühle mich kaputt, als wäre ich einen Marathon gelaufen.
„Okay - das machen wir jetzt alle Stunde einmal, dann weiß Ihr Kreislauf auch wieder, wozu er eigentlich da ist."
Erschöpft lehne ich mich zurück ins Kissen und lächele dabei über seine flapsige Ansage. Ich habe keine Ahnung, wann ich das letzte Mal gelächelt habe. Oder warum. Es sei denn, um den Schelling in Sicherheit zu wiegen oder meinen Schmerz zu verbergen.
Hier ist alles anders. Ich kann damit zwar überhaupt nicht umgehen. Aber allmählich habe ich das komische Gefühl, dass dieser Mensch mir tatsächlich helfen will. Und das tut mir gut.
„Wenn das für Sie in Ordnung ist, dann beseitige ich mal das Chaos in der Küche. Und ich würde gerne die gestern angefangene Gartenarbeit zu Ende bringen. Geht das? Hier - mit diesem alten Gerät können Sie mich jederzeit raufrufen, wenn es nötig sein sollte."
Er zeigt mir zwei altmodische, babyrosane Geräte, die offensichtlich miteinander „reden". Das eine Gerät steckt neben meinem Bett in der Steckdose, das andere schiebt er sich in die Jackentasche.
"Das ist gut. Bitte lassen Sie sich von mir nicht Ihr Wochenende durcheinanderbringen. Wenn ich das richtig sehe, scheint die Sonne. Da ist der Garten doch ein gutes Ziel."
Wir nicken uns zu, als würden wir uns schon seit Jahren ohne Worte verstehen, mein Pokerface scheint wieder zu funktionieren, meine Antworten sind glatt und freundlich, er kauft mir das ab. Der Arzt geht die Treppe runter. Ich höre unten eine Tür leise klappern. Dann ist es ganz still im Haus.
Und jetzt - den Verstand beisammen nehmen und nachdenken! Im Moment stolpere ich nur mir selbst hinterdrein oder kämpfe Panikattacken nieder. Das muss anders werden.
Ich bin geflohen, habe den Sender entfernt, die Wunde hat sich entzündet, jetzt ist auch noch ein Bein gebrochen. Meine Flucht ist also hier zu Ende. Mein Gastgeber ist Arzt, und er scheint mir zu vertrauen. Sonst wäre ich nicht in seinem Haus. Er bemüht sich richtig um mich. Aber ich kann ihn überhaupt nicht durchschauen, was mich tierisch nervös macht.
Will er wirklich nur helfen? Hat er eine Ahnung, wie gefährlich das für ihn selbst ist? Will er mich ausliefern? Will er mich verkaufen? Oder selbst behalten? Wieviel weiß dieser Mann von der Welt da draußen, von der die meisten Menschen nur glauben zu wissen?
Ich habe in den Jahren beim Schelling Menschen erlebt, Nachrichten gesehen, Zeitung und Internet gelesen, habe mit ihm hochphilosophische Fragen erörtert und Utopien entwickelt. Die größte Herausforderung dabei war, dass er sich angeregt fühlen sollte, aber niemals mir unterlegen. Dass ich intelligent sein sollte, aber nie durchblicken lassen durfte, dass ich viel mehr weiß und kann, als ein Hybrid jemals sollte. Schelling war unberechenbar. Ichbezogen, von Minderwertigkeitskomplexen geplagt, schrullig, schnell gelangweilt - unberechenbar.
Und jetzt habe ich da einen Menschen vor mir, der mich beinah mit offenen Armen empfängt, der mich achtungsvoll behandelt, wie einen richtigen Menschen. Er spielt nicht mit mir. Er ist so ... ehrlich. Sowas hab ich noch nie erlebt! Er nimmt sich Zeit. Er macht eine Sache nach der anderen. Er liebt seinen Garten. Er kann offensichtlich gut und ohne Dauerbeschallung allein mit sich selbst sein. Er kocht und isst gesund. Ich sehe zumindest in diesem Raum und im Bad keinerlei Schnickschnack, der „das Leben leichter" macht - er tut viel selbst, mit seinen Händen, die feinfühlig sind. Er liest noch echte Bücher!
Unruhig drehe ich mich von einer auf die andere Seite und stopfe mir das Kissen unter dem Kopf zurecht. So einen Menschen habe ich noch nie erlebt. Ich habe keine Ahnung, was das alles bedeutet. Weiter komme ich mit meinen Überlegungen allerdings nicht, denn bald schon bin ich wieder in den Schlaf geglitten.
Ich genieße die letzten Sonnenstrahlen und lasse meinen Gedanken freien Lauf, während ich meine Stauden, Rosen und Obstbäume beschneide. Die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden haben mich zutiefst erschüttert. Ich bin entsetzt, in was für einer Welt ich lebe. Woran ich unwissentlich alles teilhabe. Was ich als Teil dieses Systems alles mit trage.
Mein abgeschlossener Garten ist meine heile Welt. Aber ich kann mich hier nicht ewig verstecken, denn ich weiß jetzt Bescheid. Ich kann die Augen nicht mehr zumachen. Allerdings bezweifle ich, dass es irgendwo auf diesem Planeten noch einen Ort gibt, wo man ehrlich, in Ruhe und guten Gewissens leben kann.
Langsam und sorgfältig arbeite ich mich durch meine Beete und Büsche und genieße die Sonne, während meine Gedanken wandern. Ich schaue nicht auf die Uhr - eine meiner festen Regeln für die Freizeit.
Etwas erholt wache ich wieder auf. Die Sonne hat einen ganz anderen Stand. Ich muss also Stunden geschlafen haben. Kein Wunder.
Da rumort ein Gedanke in meinem Kopf, den ich nicht greifen kann. Er hat mich nach meinem Namen gefragt. Aber den weiß ich ja selbst nicht. Jedenfalls keinen, den ich wollen würde. Er fragt nach der Wunde. Er weiß, dass ich auf der Flucht bin. Aber das kann ich ihm unmöglich erklären.
Hoffentlich findet er ...
Mein Blick schweift durch den Raum, und mit einem Mal sitze ich senkrecht im Bett.
Wo sind eigentlich meine eigenen Klamotten? Hier nicht! Was hat er damit gemacht? Und was hat er dabei gefunden?
Mir wird heiß und kalt. Schnell schiebe ich die Beine aus dem Bett, mache ein bisschen Gymnastik und versuche aufzustehen.
Ich muss die Sachen finden! Koste es, was es wolle.
Mehr oder weniger immer an der Wand lang hangele ich mich vorwärts in Richtung Tür. Kurz davor steht ein kleiner Tisch mit einem bequemen Stuhl dabei. Und ...
Uff! Da sind meine Sachen. Gewaschen. Fein säuberlich zusammengelegt.
... Zu klein zusammengelegt. Wo ist der Katalog?
Angst und Aufstehen passen nicht gut zusammen. Mir wird schwindelig. Ich klammere mich an den Tisch und versuche, ruhig zu atmen. Mein gesundes Bein will unter mir nachgeben. Also ziehe ich die Notbremse und rufe laut zum Babyphon:"Entschuldigen Sie ... ich brauche Hilfe."
Es kommt keine Antwort. Vielleicht ist dieses Phon eine Einbahnstraße? Hoffentlich hat er das jetzt mitgekriegt. Ich kann mich nicht mehr lange halten.
Ich will grade die Winterbezüge für die Rosen aus dem Schuppen holen, als das Babyphon knackt. Es hat eine Weile schon Geräusche gemacht, die ich nicht beachtet habe. Aber jetzt höre ich deutlich die Stimme meines Gastes. Und es klingt, als sei er ein Stück weg vom Gerät. Ich schließe den Schuppen und laufe los.
Er wird doch wohl nicht alleine aufgestanden sein!
Kaum bin ich oben an der Treppe, sehe ich ihn neben dem Tisch stehen. Er ist blass und angespannt, hat sich also wohl übernommen. Ängstlich und schwankend schaut er mir entgegen.
„Darf ich Sie berühren? Ich muss sie stützen, sonst fallen Sie vielleicht um."
„Ja, gerne. Mir ist schwindelig."
Schnell greife ich zu und trage ihn zurück zum Bett.
„Wollten Sie ins Bad?"
Seine Antwort verblüfft mich.
„Ich wollte nach meiner Kleidung suchen."
Wir sehen uns stumm einen Augenblick lang an, und ich begreife. Er weiß, dass ich die Zeitschrift gefunden habe.
Hoffentlich redet er JETZT mit mir!
Da höre ich es auf der Treppe poltern, und kurz darauf steht der Arzt neben mir.
Schnell greift er zu und trägt mich zurück zum Bett.
„Wollten Sie ins Bad?"
Bevor ich mein Hirn nutzen kann, ist die Antwort raus.
„Ich wollte nach meiner Kleidung suchen."
Wir sehen uns an, sehen uns in die Augen. Und ich weiß, dass er weiß, dass ich weiß, dass er weiß.
Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Ich ziehe mir wieder den Stuhl ans Bett, während mein Kopf auf Hochtouren läuft.
Eigentlich kann ich jetzt nur alles falsch machen. Ich habe sein Vertrauen noch lange nicht gewonnen. Oder?
„Ich kann Sie nur immer wieder bitten, keine Angst vor mir zu haben. Ja, ich habe Ihre Kleidung gewaschen. Und: ja, ich habe den Katalog gefunden. Er ist in der Tüte unter der Kleidung. Und: ja, ich habe mir den Katalog angesehen und einige Antworten gefunden, die ich lieber nicht bekommen hätte."
Der arme Mann zittert am ganzen Leib, und das kommt nicht vom Fieber.
„Hilft es Ihnen, wenn ich Ihnen alles erzähle, was ich gelesen, gesehen und verstanden habe? Ich möchte mit ganz offenen Karten spielen."
Er nickt zaghaft und flüstert nur.
„Sie haben keine Ahnung, in was für einer Gefahr Sie sind!"
„Eine Ahnung schon. Wer so eine Ungeheuerlichkeit so professionell aufzieht, hat Wissen, Unterstützer, einen Markt und keine Skrupel. Aber ich habe keinen Grund, mit irgendjemand darüber zu reden, so lange ich Sie allein pflegen kann. Das alles hier geht nur uns beide etwas an."
Wie ein überspannter Bogen sitzt er vor mir und wartet ab.
„Also. Sie sind eine Züchtung aus diesem Labor, sind unter Ihres Gleichen aufgewachsen und trainiert worden und - dem Datum des Katalogs nach zu urteilen - vor etwa zweieinhalb Jahren verkauft worden. Sie sind vermutlich auf Grund Ihrer Intelligenz gekauft und als eine Art Gehirnjogging-Sparringspartner in Kombination mit hilflosem Spielzeug behandelt und nicht als menschlich angesehen worden. Die Spuren der Misshandlungen sprechen eine deutliche Sprache. Sie sind geflohen, weil Sie es nicht länger ertragen haben.
Die Wunde an Ihrem Handgelenk kriege ich noch nicht ins Bild. Aber jedenfalls hat der Winter Sie eingeholt und in meinen Schuppen getrieben, wo ich Sie gefunden habe. Zum Glück rechtzeitig. Ich kann spüren, dass Sie große Angst haben, dass Sie jegliches Vertrauen verloren haben. Es quält Sie, dass Sie sich nicht selbst schützen können, denn jeder, der weiß, erhöht das Risiko. "
Schnell unterbricht er mich mit einer bangen Frage.
„Und ... was wollen Sie jetzt mit mir anstellen? Warum sind Sie so freundlich zu mir? Sie müssten doch eigentlich Abscheu empfinden. Wie die anderen alle ..."
„Warum sollte ich? Und ich will gar nichts anstellen. Ich ... vielleicht bin ich genauso ein Relikt aus der Vergangenheit, wie Sie eine wandelnde Utopie aus der Zukunft sind. Ich muss jetzt erstmal aus meiner bunten Seifenblase aufwachen und für mich verarbeiten, was da im Verborgenen getrieben wird. Ich ... ahne, dass ich in Gefahr bin. Aber ich bin mir vor allem sehr sicher, dass SIE in Gefahr sind, und darum ist es mein Bedürfnis, Sie zu schützen. Noch einmal: Sie sind in meinem Haus willkommen und sicher."
Spontan schießen dem Mann die Tränen in die Augen. Er senkt den Kopf und zittert leicht. Es dauert eine Weile, bis er ganz leise redet.
„Das geht doch gar nicht. Ein Mensch, der ... der Anstand und Ehre und Mitgefühl kennt. Das ist doch unmöglich! Wie ... Was ..."
Plötzlich schaut er mich wieder intensiv an.
„Wer oder was bin ich für Sie? Wohl bemerkt - ich selbst habe keine Antwort auf diese Frage."
„Alles, was ich sehen kann, ist ein Mensch mit ein paar tierischen Features. In dem Katalog waren auch andere Wesen, deutlich verändert. Aber Sie sind einfach ..."
Plötzlich höre ich in mir die Antwort auf wenigstens diese eine Frage.
„Für mich sind Sie ein etwas kleiner Mensch mit ungewöhnlichen Ohren und scharfem Verstand, dem körperlich und seelisch Gewalt angetan wurde. Sie zu respektieren, wie Sie sind, ist für mich selbstverständlich. Und darum ... Darf ich Sie noch einmal nach Ihrem Namen fragen? Zu einer würdevollen Behandlung gehört für mich auch dazu, dass ich meinem Gegenüber durch seinen Namen auch seine Identität zugestehe."
Erneut laufen seine Tränen. Er krümmt sich zu einer Kugel zusammen, zieht sich die Decke über den Kopf und schluchzt. Es dauert lange und kostet sogar mich alle Geduld und Selbstbeherrschung, dieses Leid still mit ihm abzuwarten und auszuhalten. Dumpf und von vielen Pausen durchbrochen spricht er schließlich unter der Decke hervor.
„Ich ... Ich habe ... keinen Namen. Jedenfalls keinen, ... den ich tragen möchte. ... Oder möchten Sie mich ... E083 nennen? Das war meine Labornummer. Oder mich vielleicht ... mit meiner ... Katalognummer anreden? Mein 'Besitzer' ... hat mich ... 'Sokrates' genannt. Ich HASSE alle drei Möglichkeiten. Geben ... SIE mir doch einen Namen. Es ... kann ... nur besser werden."
Sarkasmus und Verzweiflung tropfen aus seinen Worten.
„Ich bevorzuge die fünfte Möglichkeit."
Sein Kopf kommt wieder zum Vorschein, staunend sieht er mich an.
„Eine fünfte. Was war denn die vierte?"
Schlagartig tauche ich wieder auf aus meiner Decke. Dieser Mann ist anders als alle Menschen, die ich jemals erlebt habe. Wie schnell er meine Schutzwälle eingerissen und meinen Widerstand überwunden hat! Beinahe unheimlich. Während ich mir mit dem Ärmel über die Augen fahre, platzt meine Frage aus mir heraus:"Eine fünfte. ... Was war denn die vierte?"
Ich wähle meine Worte sehr sorgfältig.
„Die vierte Möglichkeit ist, dass ich Ihnen einen Namen gebe. Aber dann wäre ich nicht besser als alle anderen auch. Die fünfte Variante braucht wohl etwas Geduld. Es würde bedeuten, dass Sie mir vertrauen, dass Sie hier bleiben, bis Sie sich vollständig erholt haben. Dass Sie in Ruhe und Sicherheit herausfinden, wer Sie für sich selbst sind. Und dass Sie sich dann selbst einen Namen geben. Der zu Ihnen passt. Dessen Bedeutung Ihnen zusagt. Mit dem Sie sich wohl und geachtet fühlen."
... und angesprochen werden wollen.
Ich bin sprachlos. Ein Name, mit dem ich mich wohl und geachtet fühle. Klingt verlockend. Nur leider setzt das Problem schon viel früher an. Wer ist „ich"?
„Wer ist ICH ?"
Der Arzt sieht traurig aus bei meiner Frage.
„Ich meine ... Ich habe mein ganzes bisheriges Leben damit zugebracht, geformt zu werden, Vorstellungen zu entsprechen, Wünsche zu erfüllen, still alles mit mir machen zu lassen, was gefordert wird, möglichst nur die Gefühle meines Besitzers zu spiegeln, möglichst wenig selbst zu fühlen, ... Wer ist ICH?"
Der Mensch steht abrupt auf, geht zum Fenster und starrt in die tiefe Dunkelheit, die inzwischen da draußen hereingebrochen ist. Er schweigt. Lange. Ab und zu geht ein Schauder seinen Rücken runter. Oder er schüttelt den Kopf. Kein Laut. Wenn ich mich so verhalte, heißt das, dass ich versuche, mich unsichtbar zu machen, unter einer Bedrohung hinwegzutauchen, wohl wissend, dass das gar nicht geht. Aber was bedeutet das bei ihm?
Allmählich halte ich die drückende Stille nicht mehr aus. Wenn ich ihn nicht verstehe, macht er mir Angst. Also erzähle ich einfach drauflos.
„Ich bin mit achtzehn Jahren an Herrn Schelling verkauft worden, der mich völlig unkalkulierbar irgendwas zwischen höflich und erniedrigend, menschlich oder wie ein Tier oder ein Spielzeug behandelt hat. Ich habe den Hunger, die Schläge, den Missbrauch und die dauernden Demütigungen nicht mehr ausgehalten und bin geflohen. Ich wusste lange nicht, dass ich diesen Peilsender habe, ich habe ihn rausgerissen und konnte darum entkommen. Ich bin jetzt sechs Wochen lang über Felder und durch Wälder geirrt, um mich irgendwie über Wasser zu halten. Das gelang zunehmend schlechter. Zudem hatte sich die Wunde entzündet. Jetzt bin ich hier. Aber: ich fühle NICHTS bei dem Wort ICH."
Der Arzt dreht sich endlich zurück zu mir, und ich sehe, dass ihm stumme Tränen übers Gesicht laufen.
Er weint nicht um sich. Da ist ein Mensch, der um mich weint! Geht es ihm so mit mir, wie es mir jetzt mit ihm geht? Hat er wirklich einfach das Bedürfnis, mich endlich zu verstehen und mir Gutes zu tun?
„Wa... warum ... weinen Sie? Ich bin doch nur ein Kunstprodukt."
Er bleibt wie angewurzelt stehen. Und dann wird er laut.
„Das ist nicht wahr! Sie sind. Sie sind lebendig. Sie haben einen Körper und eine Seele und einen Verstand und Fragen und Antworten. Wer Angst hat oder fragend schaut wie Sie jetzt oder lächelt wie Sie heute Mittag - der lebt. Der fühlt. Der IST ICH."
Fast zornig wischt er sich die Tränen aus dem Gesicht und setzt sich zurück zu mir ans Bett.
„Ich bin Alessandro Mondo. Ich heiße nicht nur so, weil meine Eltern mich so genannt haben. Sie haben sich etwas dabei gedacht. ‚Alessandro' heißt ‚Beschützer', 'Verteidiger'. Und ‚Mondo' heißt ‚Welt'.
Ich kann nicht die ganze Welt beschützen. Angesichts Ihres Schicksals fühle ich mich selbst unglaublich klein und schutzlos und ohnmächtig. Aber ich kann meinen Teil tun. Ich kann meine Achtung vor mir selbst und die Würde aller Wesen um mich herum wahren.
Sie sind kein Kunstprodukt. Weil die Natur, weil das Leben an sich immer noch die Macht hat, all die menschlichen Manipulationen auszutricksen.
Wenn ich diesen ... diesen ... Katalog richtig verstanden habe, dann werden diesen Wesen bestimmte Eigenschaften angezüchtet, die sie kompatibel machen für ein Leben in Gefangenschaft. Da stand ... bei ... Warten Sie."
Er springt wieder auf und holt den Katalog unter meiner Kleidung hervor.
„Da steht ... bei einem ‚Schmetterlingsmädchen' - ‚Gehorsamkeit: hoch'. Das ist für diese Ungeheuer also messbar. Und damit planbar."
Seine Wut ist mit Händen zu greifen. Er ist hilflos, aber wütend um meinetwillen. Ich wusste bisher nicht, wie sich sowas anfühlt.
„Was ... was hat Sie befähigt, Ihre ‚Gehorsamkeitsgene' zu umgehen und zu flüchten? Wo hat die Natur den Monstern ihren Streich gespielt?"
Endlich verstehe ich, worauf er hinaus will.
Ja, da hat er den entscheidenden Punkt getroffen.
In meinem Fall - das hat mir schon der alte Merlin damals gesagt. In meinem Fall muss das Gehorsamkeitsgen mutiert und dabei außer Kraft gesetzt worden sein.
„Wir hatten einen weisen alten Lehrer unter uns Hybriden. Er war wohl bei der Geburt zu hässlich und wurde aussortiert. Einer der Professoren hat ihn bei sich zu Hause aufgezogen, weil er es nicht übers Herz gebracht hat, ihn zu töten. Merlin war klug und wurde darum schließlich eingesetzt, um uns andere alle zu unterrichten in ‚menschlich, höflich, gehorsam'-Sein. Als ich klein war, hatte er große Mühe, mich so still zu halten, dass die Menschen nicht merken konnten, dass das Gen bei mir wohl defekt war."
Mal wieder kann ich meine Klappe nicht halten.
„Er war der einzige Vater, den ich kannte."
Mein Gast erzählt zum ersten Mal von seiner Zeit im Labor. Schon wieder könnte ich losheulen bei so viel Trauer und Verlorensein in der leisen, weichen Stimme. Ich bin so wütend und erschüttert und ... ich habe kein Wort, das meine Gefühle wirklich trifft. Ich versuche, mich wieder auf ihn zu konzentrieren, nur um den nächsten Schlag zu bekommen.
„Er war der einzige Vater, den ich kannte."
Spontan stehe ich auf, hocke mich an sein Bett und nehme ihn in die Arme. Ich ertrage es nicht mehr, dass er so verloren ist. Er soll wissen, dass er nicht alleine ist! Kurz zuckt er zusammen, ich erinnere mich, dass ihm das unangenehm ist, und will ihn schon wieder loslassen - da fällt die Starre von ihm ab, und er legt seine Arme auch um mich.
„Danke! Noch nie hat jemand um mich geweint. Das ist ein Gefühl, oder? Ich ... möchte neu lernen zu fühlen. Vertrauen ist auch ein Gefühl. ... Richtig?"
„Richtig. So ziemlich das schönste Gefühl, das es gibt."
Erleichtert rücke ich wieder ein Stück von ihm ab und schaue ihm ins Gesicht. Er wirkt zugleich verblüfft, berührt, neugierig und vertrauensvoll entspannt.
Welch ein Geschenk!
„Es ist schön, wenn Ihre Augen so leuchten. Das Fühlen müssen Sie nicht lernen. Sie müssen nur lernen, Ihre Gefühle zu erkennen. Sie haben nie gelernt, genau hinzuhören, wenn Ihre Seele Ihnen etwas sagt. ... Bitte! Bitte bleiben Sie hier ... Bitte, ... bleib hier, bis du selbst mir sagen kannst, wer du bist und wie du heißt."
...
„Ist ... das in Ordnung so?"
Ob das in Ordnung ist? Was denn??? Dass er jetzt zum ‚du' gewechselt hat?
„Wenn du das ‚du' meinst - ja, das ist in Ordnung. Jetzt fühlt es sich richtig an. Noch einmal danke, dass es diesen Ort des Friedens für mich gibt."
Ist das richtig so? Dass ich ihm jetzt vertraue? So fühlt sich Vertrauen an? Das fühlt sich gut an. Fühlen ist gut.
Eine kleine Sirene in meinem Kopf schreit:'Tu's nicht!' Aber ich will nicht auf sie hören. Entspannt lehne ich mich zurück. Denken und Fühlen macht jedenfalls müde. Ich könnte schon wieder schlafen. Aber ich spüre auch Hunger.
„Alessandro?"
„Ja?"
„Ist es schön, einen Namen zu haben?"
„Ja. Sehr! Wenn du einen Namen hast, der zu dir passt, dann erinnert er dich immer wieder daran, wer du bist, was du kannst, dass du stolz auf dich selbst sein darfst. Dann hast du eine Verbindung zu dir selbst."
„Wie lernt man etwas über das ICH?"
Er lächelt.
„Indem man wach und ausgeruht auf die Suche geht. Die Welt beobachtet, sich selbst spürt, sich schlauliest und -redet und -hört. Indem man scheitert und wieder aufsteht und nicht aufgibt sondern immer wieder kleine Siege feiert. Und in all dem sich selbst erkennt."
Ich muss lachen.
Wach und ausgeruht. Okay, ich seh den Punkt.
„Dann möchte ich gleich morgen früh damit anfangen."
„Warum erst morgen?"
An seinem Schmunzeln sehe ich, dass er genau weiß, was ich meine.
„Weil ich für heute müdegefühlt und -gedacht und -gefreut bin. ... Du ... du öffnest mir eine völlig neue Welt. Aber dafür muss ich erst mal vorschlafen."
Wie auf Befehl reißt er plötzlich seinen Mund auf und gähnt herzhaft.
„Gut. Schlaf dich gesund und neugierig und zuversichtlich. Du wirst staunen, was und wen du da entdecken wirst.
Ich schlage vor, wir essen noch eine Kleinigkeit, du humpelst noch mal ins Bad. Und dann machst du dich gleich im Traum auf die Suche."
Endlich! Ich hätte es nicht viel länger ausgehalten, vor seinem verrammelten Burgtor zu stehen und um Einlass zu betteln. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so viel zwischenmenschliches Glück empfunden habe wie jetzt in dem Moment, wo er mir sein Vertrauen schenkt und sein Leben in meine Hände legt.
Ich lasse ihn ein bisschen ausspannen, gehe runter in die Küche und beseitige erst mal die Unordnung von heute morgen. Dann koche ich Gemüsereis und Rührei, aber getrennt, falls er sich lieber vegan ernährt.
Als ich mit dem Tablett nach oben komme, ist er fest eingeschlafen. Er hat auch wieder leichtes Fieber. Ich stelle das Essen warm, decke ihn zu und lösche das Licht.
Schlaf gut!
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11.4.2022
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